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Titelseite

Prolog

Das dort links sind drei der berühmtesten und erfolgreichsten Gespensterjäger der Welt: Hedwig Kümmelsaft, Tom Tomsky und Hugo, bei dem es sich um ein sogenanntes MUG, ein Mittelmäßig Unheimliches Gespenst, handelt. Kümmelsaft & Co. nennen die drei sich – und bisher haben sie jeden ihrer Aufträge erfolgreich abgeschlossen.

Dabei mussten sie sich mit Gespenstern allergefährlichster Art herumschlagen: mit einem UEG zum Beispiel (Unglaublich Ekelhaftes Gespenst), das schon einige ihrer Kollegen tiefgefroren hatte, einem GRUBLIGEI (GRauenhaft Unbesiegbarer BLItzGEIst), der seine Opfer in Feuergeister verwandelte, und – vielleicht ihre schwerste Aufgabe – mit der Blutigen Baronin, einer besonders bösartigen HISPEG (HIstorische SPukErscheinunG), die Tom nur unter Einsatz seines Lebens unschädlich machen konnte.

Nach diesem Abenteuer dachten die drei eigentlich, dass es schlimmer so schnell nicht kommen könnte. Aber schon wenig später wurden sie eines Besseren belehrt. Es war kein Auftrag, der ihnen fast zum Verhängnis wurde, sondern Toms Drittes Gespensterjäger-Diplom (DGD). Dabei hörte sich die Prüfungsaufgabe gar nicht so schwierig an 

Noch etwas: Ich bitte alle Leser, die dem vierten Abenteuer von Kümmelsaft & Co. nun furchtlos folgen wollen, dieses Buch bei Anbruch der Dunkelheit vorsorglich zur Seite zu legen. Außerdem empfehle ich, es nicht an einsamen, nebelverhangenen Orten zu lesen. Aber nun genug der Vorrede.

Es begann alles an einem Freitag im späten März. Verhängnisvolle Ereignisse nehmen bekanntlich meistens an einem Freitag ihren Anfang 

Eine leichte Aufgabe

Tom sagte sich später, dass er eigentlich gleich hätte Verdacht schöpfen müssen, schon als er in das riesige, dämmerdunkle Büro von Professor Schleimblatt trat. Normalerweise hatte Tom eine gute Nase für kommende Gefahren. Aber an diesem Tag versagte sie kläglich.

»Setz dich, Tomsky«, sagte der Professor und nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher. Professor Schleimblatt gehörte erst seit einem Monat zum Prüfungsausschuss der Gespensterjäger-Vereinigung, und Tom war ihm noch nie zuvor begegnet.

»Du bist doch dieser Junge, der mit Hedwig Kümmelsaft arbeitet, stimmt’s?«, fragte Schleimblatt.

Tom nickte. Die Augen des Professors waren seltsam hell, fast farblos, wie alles an ihm. Selbst seine Haut war blass wie verblichenes Papier, und sein spärliches Haar, quer über den kahlen Kopf gekämmt, hatte die Farbe getrockneten Schlammes. »Der Kerl sieht aus wie ein BLAWAG«, dachte Tom. »Die starren einen genauso kalt und selbstzufrieden an.« BLAWAGs (zur Erklärung für den Leser: BLAWAG = BLAsser WAbbelGeist) bekämpfte man am besten mit Lachgas. Tom verkniff sich ein Grinsen bei dem Gedanken und blickte dem Professor so ernst wie möglich in die farblosen Augen.

»Arbeitet Hedwig immer noch mit diesem albernen MUG zusammen?«, fragte Schleimblatt.

»Sicher«, antwortete Tom und runzelte die Stirn. Er mochte es gar nicht, wenn man seine Freunde beleidigte. Obwohl es natürlich stimmte, dass Hugo sehr albern sein konnte.

»Nun, ich hoffe, dass die Zentrale Kommission Zur Gespensterbekämpfung (ZKZG) noch in diesem Jahr die Zusammenarbeit mit Geistern verbietet«, sagte der Professor und trommelte mit seinem goldenen Brieföffner auf dem Schreibtisch herum. »Gespenster sollte man jagen und vernichten, das ist unsere einzige und höchst ehrenwerte Aufgabe. Sie haben nichts im Sinn, als dem Menschen Schaden zuzufügen: seinem Körper, um den sie ihn beneiden, und seiner armen Seele, die sie vernichten … verstümmeln … verschlingen wollen.« Bei den letzten Worten hatte die Stimme des Professors zu zittern begonnen, und er stieß den Brieföffner so heftig auf die Schreibtischplatte, dass die Spitze im Holz stecken blieb. Als er Toms überraschtes Gesicht bemerkte, legte er den Öffner hastig zur Seite, räusperte sich und nahm noch einen Schluck aus seinem Kaffeebecher.

»Gut. Lassen wir das und kommen zu deinem Diplom, Tomsky«, sagte er. »Ich muss dir ganz ehrlich sagen, dass ich dich eigentlich für zu jung halte. Normalerweise wird das Dritte Gespensterjäger-Diplom nur von sehr erfahrenen Gespensterjägern abgelegt. Und du bist, falls ich richtig informiert bin, gerade erst elf Jahre alt.«

Tom wurde scharlachrot vor Ärger.

»Stimmt«, sagte er. »Aber schließlich geht es nur um Spukformen dritter Gefahrenkategorie.«

»Nur. So, so«, sagte der Professor. »An Selbstbewusstsein scheint es dir ja nicht zu fehlen. Dir ist sicherlich bekannt, dass sich unter den Spukformen dieser Kategorie einige äußerst gesundheitsschädliche Arten befinden.«

»Ja, aber sie sind alle mit ziemlich einfachen Mitteln zu bekämpfen«, antwortete Tom. »Außerdem fehlt mir nur noch eine praktische Übung: Bestimmen und Fangen einer nicht klassifizierten Spukform.«

»Es ist doch immer dasselbe!«, dachte er. »Kaum ist man ein bisschen jünger, tut jeder so, als könnte man nicht mal ein MUG von einem UEG unterscheiden.« (Für den geneigten Leser: MUG = Mittelmäßig Unheimliches Gespenst, UEG = Unglaublich Ekelhaftes Gespenst.)

Der Professor seufzte, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und ließ die blassen Augen an den Wänden seines Büros entlangwandern. Zu Toms Überraschung waren sie nicht rot. Die meisten Gespensterjäger bevorzugten diese Farbe wegen ihrer geisterabschreckenden Wirkung. Doch Schleimblatts Büro hatte dunkelblaue Wände. Dutzende gerahmter Zeitungsausschnitte hingen daran und berichteten über seine Erfolge bei der Gespensterjagd.

»Nun, ich merke schon, du bist fest entschlossen«, sagte der Professor und ließ seinen Blick zu Tom zurückwandern. »Wie du meinst. Du kennst die Grundbedingungen?«

Für einen Augenblick glaubte Tom, so etwas wie Schadenfreude in den farblosen Augen zu entdecken.

»Sicher«, antwortete er. »Es sind dieselben Bedingungen wie beim Zweiten Gespensterjäger-Diplom (ZGD): Fangen muss ich das Gespenst eigenhändig, aber für die Beobachtung und Köderung darf ich zwei, maximal drei Helfer auswählen …«

»Einen«, berichtigte ihn der Professor.

»Einen?« Tom sah ihn überrascht an. »Ich dachte …«

»Nun, der Prüfungsausschuss hat die Bestimmungen etwas verschärft«, unterbrach der Professor ihn. »Auf meine Anregung hin.«

Tom schluckte gerade noch einen leisen Fluch herunter. Wie sollte er das Hugo beibringen?

»Außerdem«, fuhr der Professor mit einem kleinen boshaften Lächeln fort, »darfst du zur Erfüllung deiner Aufgabe nur Ausrüstungsgegenstände verwenden, die in den Richtlinien zur Geisterbekämpfung erwähnt sind. Spezialpasten und selbst erfundene Werkzeuge, wie unsere Kollegin Kümmelsaft sie so gern verwendet, sind nicht erlaubt. Solltest du auf sie zurückgreifen, gilt die Aufgabe als nicht erfüllt.«

Tom nickte nur. Damit hatte er gerechnet.

»Gut, dann komme ich jetzt zu der eigentlichen Aufgabe.« Professor Schleimblatt räusperte sich und öffnete einen schmalen Ordner. »Die Spukerscheinung, mit der du dich befassen wirst, wurde vor drei Tagen von einem Dorf namens Moorweiher gemeldet. Der Ort liegt etwa hundert Kilometer nordöstlich von hier. Der Besitzer des einzigen Gasthofes hat bereits eine Benachrichtigung bekommen, dass du in den nächsten Tagen dort absteigen und ein Doppelzimmer benötigen wirst. Hier sind die genaue Anschrift, eine Wegbeschreibung und noch einmal die Kurzzusammenfassung deiner Aufgabe.«

Der Professor reichte Tom einen verschlossenen Briefumschlag mit dem Stempel der Gespensterjäger-Vereinigung. »Du musst dem Prüfungsausschuss Folgendes vorlegen. Erstens: einen genauen Bericht über alle von dir beobachteten Spukaktivitäten (getippt, in zweifacher Ausfertigung), zweitens: Tonaufnahmen oder Foto- bzw. Filmmaterial von der Spukerscheinung (thermospiritistische Aufnahmen sind selbstverständlich zugelassen) und drittens: das gefangene und unbeschadete Geisterexemplar. Wir empfehlen die Verwendung einer KOKOMP-Falle (KOntakt-KOMPressions-Falle). Ihr Einsatz ist bei Gespenstern dritter Gefahrenkategorie am risikolosesten.«

Tom nickte nur. Als ob ihm das jemand erklären musste. Wusste dieser verflixte Ausschuss nicht, dass er bei Kümmelsaft & Co. schon Geister sechster Gefahrenkategorie gefangen hatte?

»Sonst noch was?«, fragte Tom und steckte den Umschlag mit der Prüfungsaufgabe in seinen Rucksack.

»Nun, eine erfolgreiche Jagd wünsche ich«, antwortete der Professor. »Oder wie sagt man unter Gespensterjägern? Behalte deinen Verstand auch nach Mitternacht.«

Irgendetwas in der Stimme von Professor Schleimblatt gefiel Tom ganz und gar nicht, aber bevor er weiter darüber nachdenken konnte, streckte Schleimblatt ihm mit einem dünnen Lächeln die Hand entgegen. Die Finger des Professors waren fast so kalt wie die von Hugo.

»Viel Glück, Tomsky!«, sagte er. »Und grüße Frau Kümmelsaft von mir.«

»Mach ich«, erwiderte Tom und drückte die kalkweiße Hand so entschlossen wie möglich. »Ich schätze, bis Ende nächster Woche hab ich die Sache erledigt.«

»Ach ja?«, sagte Schleimblatt. »Du bist ja wirklich einer von den ganz Schnellen, was, Tomsky?«

Und dann lächelte er wieder. Und Tom fiel auf, dass selbst die Lippen des Professors farblos waren.

Das Dorf im Nebel

Hugo wurde grün wie Brotschimmel, als Tom ihm erklärte, dass er mit Hedwig Kümmelsaft allein nach Moorweiher fahren würde.

»So, soooo. Nur oin Hölfer üst erlaubt!«, säuselte er und verschränkte beleidigt die Arme vor der bleichen Brust. »No, dann loss doch Frau Kümmelsoft hüüür.«

»Ach ja, willst du mich mit dem Auto zu diesem Dorf fahren?«, fragte Tom ärgerlich zurück.

Darauf rümpfte Hugo nur verächtlich seine große weiße Nase. »Auto, pah! Wör föhrt schon müt dem Auto? Wür flügen.«

»Nein!«, sagte Tom entschieden. »Nein, nicht schon wieder. Kommt gar nicht infrage.«

Hugo hatte ihn schon einige Male über Dächer und Baumwipfel getragen, und das Tempo, das das MUG dabei vorlegte, raubte Tom jedes Mal den Atem.

»Außerdem«, fügte er hinzu, »kann H.K. (Tom nannte Frau Kümmelsaft immer H. K.) mir bei meinem Bericht helfen. Du würdest mir höchstens die Tastatur meines Computers vollschleimen.«

Das hätte er besser nicht sagen sollen. Hugo blies ihm wütend seinen Moderatem ins Gesicht – und verschwand durch die Wand. Als Tom am Abend seinen Rucksack für die Reise packen wollte, griff er in grünlich gelben, ekelhaft klebenden MUG-Schleim. Manchmal konnte es wirklich anstrengend sein, ein Gespenst zum Freund zu haben.

Am nächsten Tag holte Hedwig Kümmelsaft Tom pünktlich um siebzehn Uhr dreißig ab. Sie wollten gegen Abend in Moorweiher ankommen, damit Tom nicht zu lange auf das Erscheinen des Geistes warten musste. Schließlich lassen sich sechsundneunzig Prozent aller Spukerscheinungen erst bei Dunkelheit sehen.

»Ich denke, du hast dein Diplom schon so gut wie in der Tasche«, sagte Hedwig Kümmelsaft irgendwann, als sie eine endlos lange, endlos gerade Landstraße hinunterfuhren. »Geister dritter Gefahrenkategorie neigen manchmal zu hässlichen Streichen, aber für einen Gespensterjäger mit deiner Erfahrung dürften sie kein Problem sein.«

»Das denk ich auch«, murmelte Tom und fischte ein Brötchen aus seinem Rucksack. Er hatte keinen Hunger, aber jeder erfahrene Gespensterjäger isst etwas, bevor er sich an die Arbeit macht. Mit gefülltem Magen übersteht man einiges wesentlich besser – das abscheuliche Kribbeln zum Beispiel, das ein Gespenst verursacht, wenn es durch einen hindurchschwebt. (Besonders kleinere Schluck-Gespenster tun das zu gern.)

»Was mir ein bisschen Kopfzerbrechen macht, ist der Bericht«, sagte Tom und biss lustlos in sein Brötchen. »Und Hugo … Er war wirklich ziemlich beleidigt, dass er nicht mitdurfte.«

»Nun ja. MUGs sind ständig beleidigt«, stellte Frau Kümmelsaft fest. »Das solltest du inzwischen wissen.«

»Stimmt«, sagte Tom und wischte sich ein paar Krümel von der Hose. Als er sich das letzte Mal mit dem MUG gestritten hatte, war Hugo dreizehn Tage lang beleidigt gewesen und hatte jede Nacht vor Toms Zimmerfenster geheult.

»Vielleicht könnte ich ihm ja was mitbringen«, murmelte Tom. »Aber was bringt man einem Gespenst mit?«

Nachdenklich blickte er aus dem Autofenster. Die Landschaft, die draußen vorbeizog, war grau und eintönig. Über kahlen Feldern hing ein wolkenschwerer Himmel, und weit und breit war kein Haus zu sehen. Blattlose Bäume spiegelten sich in fahlgrauen Tümpeln, und vom Frühling war nicht viel zu spüren, obwohl es schon Ende März war.

»Wenn ich mir die Gegend hier so ansehe, bekommst du es vermutlich mit einem MOSSP oder NEGEF zu tun«, sagte Hedwig Kümmelsaft.

»Sehr wahrscheinlich«, sagte Tom. »Die treiben sich oft in solchen feuchten, trostlosen Gegenden herum.« (Für den geschätzten Leser: MOSSP = MOor- und SumpfSPuk, NEGEF = NEbelGEstaltenFormer.)

Hedwig Kümmelsaft umfuhr eine große Pfütze auf der Straße. »Wer hat dir die Prüfungsaufgabe eigentlich gestellt?«, fragte sie. »Professor Lauterfresser?«

Ein einsamer Kirchturm tauchte am Horizont auf.

Tom schüttelte den Kopf. »Nein. Der Kerl ist neu im Prüfungsausschuss. Eine unangenehme Nummer. Professor Schleimblatt.«

Hedwig Kümmelsaft drehte sich so abrupt zu Tom um, dass sie fast gegen ein Straßenschild gefahren wäre. Gerade noch rechtzeitig trat sie auf die Bremse. »Schleimblatt?«, fragte sie und lenkte ihren alten Kombi an den Straßenrand. »Lotan Schleimblatt?«

»Keine Ahnung, wie er mit Vornamen heißt«, antwortete Tom und sah sie überrascht an. »Was ist mit ihm?«

Hedwig Kümmelsaft knetete ihre Nasenspitze. Dann schüttelte sie den Kopf und ließ den Motor wieder an. »Ach was!«, sagte sie. »Das hat bestimmt nichts zu sagen. Die Geschichte liegt schließlich mehr als vier Jahre zurück.«

»Welche Geschichte?«, fragte Tom.

»Ach, Schleimblatt und ich hatten mal eine hässliche Auseinandersetzung über die Bekämpfung von Schlürf-Geistern. Er wollte mir damals unbedingt die Wirksamkeit seiner Methode beweisen. Aber der Geist, mit dem er sich anlegte, hätte ihn leer geschlürft wie eine Tasse Frühstückskaffee, wenn ich nicht dazwischengegangen wäre. Schleimblatt hat mir das damals ziemlich übel genommen.«

»Ganz schön undankbar«, sagte Tom – und musste grinsen. »Wie Kaffee sieht der Professor eigentlich nicht aus«, stellte er fest. »Eher wie ein Glas fettarme Milch.«

Frau Kümmelsaft lächelte spitz. »Nun ja, du weißt ja, welche Folgen die Begegnung mit einem Schlürfer haben kann. Manche Opfer sind für den Rest ihres Lebens weiß wie Papiertaschentücher. Gott, ich bekomme direkt Appetit, wenn ich dein Brötchen sehe. Hoffentlich hat Schleimblatt uns in einem Gasthof untergebracht, in dem man etwas Anständiges zu essen bekommt.«

Es dämmerte schon, als sie Moorweiher erreichten. Nebel hing über der Straße, und die ersten Häuser des Dorfes tauchten wie dunkle Schatten aus dem weißen Dunst auf. Moorweiher war ein altes Dorf, so alt, dass es Tom so vorkam, als hätte der Nebel ihn verschluckt und in einer längst vergangenen Zeit wieder ausgespuckt.

Eine enge, mit Kopfstein gepflasterte Straße führte direkt auf die große Kirche zu. Sie stand mitten im Dorf, auf einem kahlen Platz, um den sich die Häuser drängten, als suchten sie Schutz im Schatten des mächtigen Kirchturms. Nur wenige Lichter brannten.

»Sieht nicht sehr einladend aus, was?«, stellte Tom fest, als Hedwig Kümmelsaft ihr Auto gegenüber der Kirche parkte.