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REIMMICHL

Das große

Reimmichl-Lesebuch

Herausgegeben und mit einem Lebensbild
versehen von Paul Muigg

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Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

2016

ISBN (Athesia): 978-88-6839-218-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

REIMMICHL

PRIESTER – SEELSORGER – PUBLIZIST EIN LEBEN FÜR DIE LESER

Daheim im Defereggen

Glückliche Kindertage

Der „Wastl“ geht studieren

Lehr- und Wanderjahre

Die neue Zeit

Eine neue Aufgabe

Ein Glücksfall

Inkognito

Der Bauerntag in Sterzing

Dienstbotenehrung

Ein Freischießen

Reiselust

Vier Kriegsjahre

Der Kalendermann

Ausklang

GESCHICHTEN VOM REIMMICHL

BIOGRAFISCHES – REISELUST – ORIGINALE – HEITER UND BESINNLICH

BIOGRAFISCHES

Der Kugel-Klaus

Der Nant

Auf der hohen Alm

Wenn die Berge erwachen

REISELUST

Bilder aus Paris

Ins Land der Mitternachtssonne

ORIGINALE

Der Spezial-Mair

Ein gezwungener Sünder

Schlecht gemeint und gut getroffen

Das Gespenst am Schreiegg

Eingeladen beim Bezirkshauptmann

HEITER UND BESINNLICH

Was den Schiebele Veit halt drucken tät

Der Freithof-Florl

Ramses der Erste

Die geheilte Frau

Die Kirchenuhr

Ein geschmuggelter Mann

Die Wette

Hart gegangen ist besser als leicht gefahren

Krieg und Frieden

Das Standerl

Wampler, der Hampler

Vorwort

Anlass für dieses Hausbuch ist der 150. Geburtstag von Sebastian Rieger, besser bekannt als Reimmichl. Ohne strenge Chronologie soll seine Persönlichkeit nachgezeichnet werden. Wer war dieser vielseitige Zeitungsschreiber und Heimatschriftsteller im Priesterrock? Reimmichl lebte und wirkte in einer Zeit, die uns heute weitgehend fremd geworden ist. Sein Denken und Tun wird daher nur vor dem jeweiligen geschichtlichen Hintergrund verständlich. Deshalb wird diesem Aspekt besonders Rechnung getragen.

Der erste Teil ist seinem Leben und seiner Arbeit gewidmet, der zweite Teil zeigt, mit welcher Art von Kurzgeschichten er „wirklich und wahrhaftig vier Generationen“ Freude bereitet hat.

Mit mehr als 60 Büchern, 200 Kurzgeschichten und seinem „Reimmichlkalender“ erreichte er viele Hunderttausende begeisterte Leser.

Reimmichls Leben lässt sich in zwei Abschnitte teilen: Im ersten, der bis 1919 reicht, begegnen wir ihm als erfolgreichem Zeitungsmacher. Im zweiten Abschnitt ab 1920 wird er zum nicht weniger bedeutenden Kalendermacher. Und als solcher ist er bis heute noch vielen in Erinnerung.

Reimmichl war in erster Linie Priester und Seelsorger. Seine Arbeit als Zeitungs- und Geschichtenschreiber betrachtete er als Teil der Seelsorge. Es gelang ihm mit seinen Themen und seinem Stil direkt zu den Herzen der Leser vorzudringen. Die legendäre Leser-Blatt-Bindung beim „Tiroler Volksboten“ war ein Beweis dafür.

Als Hauptquelle für diese Lebensbeschreibung diente die Reimmichl-Biografie von Dr. Hans Brugger, erschienen im Reimmichlkalender 1955. Brugger war Reimmichls Neffe und Mitarbeiter der späten Jahre. Verwendet wurde auch das Büchlein „Reimmichl – Eines Volksdichters Leben und Schaffen“, 1927.

Für die Darstellung des politischen Hintergrundes wurde u. a. herangezogen: Richard Schober, „Das Verhältnis der Katholisch-Konservativen zu den Christlich-Sozialen in Tirol bis zu den Reichsratswahlen von 1907“, erschienen in „Tiroler Heimat“, Bd. 38, 39, und ebenfalls von Richard Schober: „Theodor Freiherr von Kathrein (1842–1916) – Briefe und Dokumente, 1992“.

Dazu standen einige wenige Originalbriefe Reimmichls und mündliche Berichte von Zeitgenossen zur Verfügung sowie Selbstaussagen im „Tiroler Volksboten“ der Jahre 1897 bis 1919.

Paul Muigg

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REIMMICHL

PRIESTER – SEELSORGER – PUBLIZIST
EIN LEBEN FÜR DIE LESER

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Daheim im Defereggen

Die Bedeutung, die ein Ort für unser Leben besitzt, hängt nicht allein von der Länge der Zeit ab, die wir dort verbringen, sondern mehr noch davon, in welcher Lebensphase wir uns dort aufhalten. So sind die Eindrücke und Erlebnisse der Kindheit und Jugend viel tiefer und nachhaltiger als die späterer Zeiten. Das gilt auch für Reimmichl, der am 28. Mai 1867 als Sebastian Rieger am Eggerhof in St. Veit-Inneregg in Defereggen das Licht der Welt erblickte. St. Veit und das Defereggental bildeten die nächsten Jahre die geografischen Grenzen seines kindlichen Lebensraumes.

Als Dreizehnjähriger verließ er dann das Tal, zuerst um die nächsten acht Jahre das Gymnasium in Brixen zu besuchen und anschließend, um sich vier Jahre im Theologischen Seminar auf das Priesteramt vorzubereiten. In dieser Zeit verbrachte er nur mehr die Sommerferien daheim. Später kehrte er überhaupt nur noch zu gelegentlichen Kurzbesuchen ins Elternhaus zurück. Dennoch blieb Reimmichl zeitlebens dem Defereggental und seinen Menschen tief verbunden. Darauf verweisen auch viele seiner späteren Romanfiguren, für die Menschen aus seiner engeren Heimat als Vorlage dienten.

Heute erreicht man das Osttiroler Defereggental problemlos mit dem Auto, entweder über die Felbertauernstraße, über Lienz oder – im Sommer von Südtiroler Seite aus – über den 2000 m hohen Staller Sattel. Vor 150 Jahren war das noch ganz anders. In Reimmichls Geburtsjahr 1867 fuhr noch kein Auto auf den Straßen und auch die Eisenbahn kannte man in Osttirol nur vom Hörensagen, denn die Bahnstrecke durch das Pustertal wurde erst 1871 eröffnet.

Somit war der Schritt das Entfernungs- und Zeitmaß jener Tage. Man ging zu Fuß, selten stand ein Fuhrwerk oder eine Kutsche zur Verfügung. Nachrichten übermittelte man schriftlich durch die Post oder durch Boten bzw. Botinnen. Und das blieb noch einige Jahrzehnte so.

Wer 1867 von Lienz ins Defereggental wollte, wanderte durch das Iseltal nordwärts und erreichte nach etwa vier Stunden den kleinen Ort Huben. Für dieselbe Strecke benötigt man heute mit dem Auto 20 Minuten. In Huben münden dann zwei Täler: rechts führt eine Straße nach Kals am Fuße des Großglockners und links verschließt zuerst einmal eine enge, dunkle Schlucht, durch die die Schwarzach hervorbricht, den Blick ins Defereggental. Die Straße ins Tal umfährt diese Schlucht in einem weiten Bogen und erklimmt so den Beginn dieses Hochtales. Schon seit Jahrhunderten führte zwar ein schmaler, rauer Karrenweg durchs Defereggental, aber erst 1910 wurde die heutige Straße errichtet und seither ständig weiter ausgebaut.

Die Deferegger Talstraße verbindet die Gemeinden Hopfgarten (1100 m, 800 Ew.), St. Veit (1500 m, 800 Ew.) und St. Jakob (1400 m, 1000 Ew.). Die drei Orte setzen sich auf einer Länge von über 20 km aus einer Vielzahl von Weilern – hier Rotten genannt – zusammen. Der Großteil der Siedlungen liegt aber nicht im Talgrund, sondern 300 bis 400 m höher auf Geländestufen des sonnseitigen Talhanges. Die Schattseite hingegen besteht aus einem geschlossenen Waldgürtel ohne Siedlungen. Fahrzeugtaugliche Verbindungen zwischen den einzelnen Höhensiedlungen und zu den Talorten wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet. Bis dahin musste alles Notwendige auf dem Rücken getragen werden. Übrigens: Zur Zeit Reimmichls siedelten im Tal dank guter Wirtschaftslage um 40 Prozent mehr Menschen als heute.

Reisen war im Jahre 1867 noch recht beschwerlich. Von St. Veit in Defereggen nach Matrei in Ostttirol, lange Zeit Verwaltungs- und Gerichtssitz für das Defereggental, sind es 22 km, eine Strecke von vier Stunden Gehzeit, hin und zurück also acht Stunden. Sollte ein St. Veiter gar eine „Weltreise“ nach Brixen oder Innsbruck geplant haben, musste er gut zu Fuß sein. Als Reimmichl 1880 zum Studium nach Brixen aufbrach, nahm er den damals gewohnten – nämlich kürzesten – Weg über das Gsieser Törl (2205 m) ins Südtiroler Gsiesertal nach Welsberg, wo er nach acht Stunden (!) Fußmarsch den Zug durchs Pustertal besteigen konnte.

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Der Eggerhof, Reimmichls Geburtshaus in St. Veit-Inneregg im Defereggental. 1962 wurde am Haus eine Gedenktafel angebracht.
(Foto: Lottersberger/Reimmichlmuseum, Hall)

Die Natur allein bestimmte den Lebensrhythmus im Defereggental. Die Arbeit war schwer, das Gottvertrauen groß, der karge Ertrag unsicher. So auch am Eggerhof in St. Veit, der mittleren Gemeinde des Hochtales. Dieses Anwesen liegt auf einem schmalen Geländeabsatz in der Fraktion Inneregg, eine halbe Stunde über der Talsohle und eine halbe Stunde von der Kirche St. Veit entfernt. Die Aussicht ist spärlich, denn auf der gegenüberliegenden Seite, jenseits des Talbaches, erhebt sich ein steiler, dunkler, felsdurchsetzter Berghang. Am Hof lebten drei Generationen der Familie Rieger unter einem Dach. Reimmichls Großvater hatte noch die Tiroler Freiheitskämpfe erlebt und erzählte dem kleinen Sebastian oft davon. Dr. Hans Brugger, Reimmichls Neffe und Biograf, war überzeugt, dass diese Geschichten, die der kleine Bub – er wurde allgemein „Wastl“ gerufen – von seinem Großvater hörte, einige der frühen Reimmichlgeschichten stark beeinflussten.

1827 wurde Johann Rieger, Reimmichls Vater, geboren. Er war Nebenerwerbsbauer, denn bereits in jungen Jahren zog er hinaus in die Fremde, um mit Decken, Teppichen und Hüten zu hausieren. Jeweils im Frühjahr und im Herbst schulterte er die Kraxe, um als Wanderhändler in der Fremde sein Glück zu versuchen. Damit trat er in die Fußstapfen vieler seiner Vorfahren, denn die Not zwang zahlreiche Deferegger bereits im 17. Jahrhundert zu einem Nebenerwerb. Dafür bot sich das Hausieren mit Waren aller Art an, zuerst in der näheren Umgebung und später, mit mehr Erfahrung, auch auf weiten Reisen durch Europa. „Über das Tal würde vielleicht niemand etwas wissen, wenn es nicht schon früh durch die Teppichhändler in der halben Welt bekannt geworden wäre“, erklärte der Heimatforscher Ludwig von Hörmann 1877.

Im 18. Jahrhundert begannen die Deferegger mit Teppichen und Decken zu handeln. „Kotzen“ oder „Deferegger Teppiche“ hieß diese grobe Ware aus Kuhhaar, die sie im Pustertal einkauften. Später, als die Hausierer auch in die Städte gingen, waren feinere und kostbarere Decken und Teppiche gefragt. Die bezogen sie aus dem schwäbischen Nördlingen. Es gab Zeiten, in denen jeder fünfte Deferegger als Hausierer unterwegs war. Auch Reimmichls Großvater mütterlicherseits gehörte dazu.

Es hätte sich für einen einzelnen Händler jedoch nicht gelohnt, die Ware, die er auf seine Kraxe gepackt hatte, vom Defereggental bis in weit entfernte Länder zu tragen. Deshalb taten sich jeweils mehrere Hausierer zusammen – meistens waren es Verwandte und Freunde – und gründeten eine Handelsgesellschaft, eine sogenannte „Kompanie“, in die jeder einen bestimmten Betrag (Einlage) einzahlte. Mit dem Geld wurden in fernen Gebieten Lager angelegt und der Transport der Ware zu den Lagern organisiert. Der einzelne Hausierer reiste dann zum jeweiligen Lager und betrieb den Handel von dort aus. Zusätzlich wurden noch Lohnknechte angestellt. Anführer einer „Kompanie“ war jeweils ein versierter, erfahrener Hausierer.

Kehrte die „Kompanie“ nach erfolgreicher Handelsfahrt wieder ins Tal zurück, wurden alle Rechnungen beglichen, die Knechte entlohnt und der Gewinn entsprechend der Einlage unter den Gesellschaftern aufgeteilt. Dabei hatten die Knechte die Möglichkeit, zu Gesellschaftsteilhabern aufzusteigen: Sie konnten ihren Lohn, oder einen Teil davon, in der gemeinsamen Kassa stehen lassen, um zukünftig bei den Handelsreisen bereits mit bescheidenem Kapital als Teilhaber zu hausieren und am Gewinn beteiligt zu sein. Diesen Karriereweg ging auch der Eggerbauer Johann Rieger. Er begann in den 1840er-Jahren als Kompanie-Knecht und brachte es durch Fleiß im Laufe entbehrungsreicher Jahre schließlich zum wohlhabenden Gesellschafter. 1884 – Reimmichl war zu dieser Zeit bereits Kooperator in Sexten – schied Johann Rieger aufgrund einer chronischen Krankheit aus und ließ sich auszahlen. Ein Teilhaber konnte nämlich jederzeit Abrechnung verlangen und aus der Kompanie ausscheiden.

Auf diese Handelsfahrten wurden oft bereits Halbwüchsige mitgenommen. Die Hausierer erwarben sich deshalb bereits früh Handels- und Sprachkenntnisse, sie zeigten gewandte Umgangsformen: Reimmichls Vater wurde ein ausgezeichneter Geschäftsmann, war geschätzt wegen seines klugen Rates und konnte sich in drei Sprachen sehr gut verständigen.

Die Deferegger Hausierer blieben aber Bauern – trotz des großen wirtschaftlichen und finanziellen Erfolges. Der Handel war immer nur ein Nebenerwerb. Dass sie aber erfolgreich waren, zeigten sie deutlich: Sie kleideten sich gern nach neuester Mode, die sie auf ihren Fahrten kennenlernten. Wenn sie aber daheim in städtischer Kleidung zur Heuarbeit schritten, löste das im Tal natürlich Kopfschütteln aus: Als „Deferegger Grafen“ wurden sie dann verspottet. Sie spielten daheim überhaupt gerne die feinen, noblen Herren. Andererseits zeigten sie sich oft großzügig. Gerade Reimmichls Vater war ein solches Vorbild an Großzügigkeit, sei es gegenüber der Nachbarschaft, der Gemeinde oder der Kirche. Aber auch andere „Fortgeher“, die im Ausland zu Wohlstand gekommen sind, erwiesen sich immer wieder als Wohltäter ihres Heimattales. So übernahm z. B. ein einzelner Hausierer, der ebenfalls zum Mitbesitzer einer Handelsgesellschaft aufgestiegen war, fast die gesamten Kosten für die Errichtung eines Armenhauses.

Johann Rieger begann seine Handelskarriere als Lohnknecht einer Handelskompanie. Als er 1860 mit 33 Jahren die um vier Jahre jüngere Maria Brugger vom Breudinghof heiratete, war er als „Teppich- und Hut-Vertreter“ bei einer St. Veiter Handelsgesellschaft beschäftigt. Durch Fleiß brachte er es bis zum Teilhaber. Später wirkte er in Lemberg (heute in der West-Ukraine), Prag und Budapest, wo die Handelsgesellschaft Niederlassungen betrieb. Er war nur noch wenige Wochen im Jahr zur Sommerszeit und um Weihnachten daheim.

Johann Rieger zog sich jedoch während der früheren, entbehrungsreichen Jahre ein Lungenleiden zu, das ihn schließlich mit 57 Jahren zwang, aus dem Geschäft auszusteigen. Er ließ sich 1884 seine Gesellschaftsanteile auszahlen und verfügte nun über ein beträchtliches Vermögen. Mit einem Teil davon vergrößerte er durch Zukäufe seinen Hof, den bisher seine Frau und sein Bruder, „Onkel Stöffl“ genannt, bewirtschafteten. Es blieb aber immer noch genügend Geld übrig für ein finanziell abgesichertes Leben. Auch wenn er seine Krankheit nie mehr ganz überwand: In der frischen Luft des Defereggentales besserte sich sein Gesundheitszustand zusehends und er konnte wieder alle bäuerlichen Arbeiten verrichten.

Natürlich wollte die Gemeinde nicht auf einen so welterfahrenen und erfolgreichen, gleichzeitig bekannt hilfsbereiten Mann verzichten, und so wurde er Bürgermeister von St. Veit. Er hatte für die Nöte der Gemeindebürger immer ein offenes Ohr, war ein geschätzter Ratgeber und unterstützte in Not geratene Mitbürger mit Zuwendungen aus eigener Tasche oder verhalf ihnen zu günstigen Darlehen, für die er oft selbst bürgte.

Er war auch ein großer Wohltäter der Kirche: Anlässlich der Primiz seines Sohnes Sebastian 1891 spendierte er der Seelsorgskirche in St. Veit einen herrlichen Messornat, einen goldenen Kelch, eine Monstranz und ein Ziborium (Aufbewahrungskelch für die konsekrierten Hostien).

Johann Rieger waren nach dem Ausscheiden aus der Firma allerdings nur elf Jahre vergönnt, dann meldete sich wieder die alte Krankheit. Er starb 1895 im Alter von 68 Jahren. Reimmichl war damals Kooperator in Dölsach und konnte die letzten Stunden bei seinem Vater verbringen und die Totengebete sprechen.

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Reimmichls Eltern: Johann Rieger mit „Kaiserbart“ (1827–1895) und Maria geb. Brugger (1831–1914)
(Foto: Reimmichlmuseum, Hall)

Johann Rieger hinterließ ein beträchtliches Vermögen, von dem auch Reimmichl seinen Anteil bekam. Nun offenbarte sich erstmals die selbstlose Großzügigkeit Reimmichls, die sein Leben auszeichnen sollte. Den Großteil des Erbes verwendete er zum Ankauf einer Volksbibliothek, die er der Gemeinde Dölsach, wo er gerade Kooperator war, zum Geschenk machte. Um den Rest ließ er sich eigene Möbel anfertigen. Sein Neffe Dr. Hans Brugger erzählt, dass Reimmichl zeitlebens an diesen altmodischen Möbeln hing und sie bei jeder Übersiedlung, von Pfarrhaus zu Pfarrhaus, bis nach Heiligkreuz, mitschleppte, gleichsam als Erinnerung an seinen Vater, den er tief verehrte.

Alte St. Veiter schilderten Johann Rieger, der einen sogenannten Kaiserbart, also einen Backenbart trug, als eher schweigsam – für einen Deferegger ungewöhnlich, wie Reimmichl später schmunzelnd meinte -, aber hilfsbereit, pflichtbewusst, rechtschaffen und tief religiös. Musterhafte Ordnung am Hof war ihm selbstverständlich und strengen Gehorsam setzte er voraus. Doch ein Laster hatte auch dieser charakterfeste Mann, das er zweifellos Reimmichl vererbte: Er rauchte Pfeife wie ein Schlot.

Albuin Messner, ein Freund Reimmichls und von 1917 bis 1937 Pfarrer von St. Veit, berichtet in seinen Aufzeichnungen von einer anderen Facette Riegers: „Vater Rieger war mit seinen Kindern sehr streng, nie hat er sie verwöhnt. In Anwesenheit des Vaters herrschte stets Ruhe in der Stube, umso lauter ging es her, wenn der Vater nicht in der Nähe war.“

Reimmichl erbte von seinem Vater die Großzügigkeit und den Drang in die Ferne, der ihn später auf große Reisen durch Europa, vom Nordkap bis an die Küste Afrikas führen sollte.

Da Johann Rieger den Großteil des Jahres auswärts verbrachte, musste seine Frau Maria in Abwesenheit des Mannes die Rolle des Familienoberhauptes übernehmen. Sie bewirtschaftete den Hof gemeinsam mit Stöffl, einem Bruder ihres Mannes, führte den Haushalt und zog die Kinder groß. Sie war klug, geschickt und führte ein strenges Regiment. Ihr Einfluss auf die Entwicklung der Kinder war größer als jener des Vaters.

Reimmichls Mutter wurde 1831 als Maria Brugger vom Breudinghof geboren. Als sie 1860 mit 29 Jahren Johann Rieger heiratete, konnte sie weder lesen noch schreiben, ein äußerst unangenehmer Zustand, wenn man bedenkt, dass der Mann die meiste Zeit des Jahres in der Fremde war. Doch die Liebe zu ihrem Mann und der Wille, eine tüchtige Hausfrau zu werden, bewogen sie, noch mit 30 Jahren Lesen und Schreiben zu lernen, wobei sie ihr Mann und ihr Schwager kräftig unterstützten. So war in Zukunft wenigstens ein regelmäßiger Briefkontakt zwischen den beiden Eheleuten möglich. Die Finessen der Groß- und Kleinschreibung überging sie allerdings, sodass sie zeitlebens alles kleinschrieb, auch Namen und Adressen. Es störte sie nicht, denn alle Briefe und Postkarten erreichten ihr Ziel, wie sie lachend erklärte, und auf das kam es schließlich an.

Maria Rieger bildete gleichsam den Gegenpol zu ihrem Mann. Er war schweigsam und ernst, sie eine redselige und fröhliche, mit viel Gottvertrauen ausgestattete Natur, die immer wieder neue Geschichten zu erzählen wusste. Sie besaß ein großes goldenes Herz: Gastfreundschaft und Wohltätigkeit gegenüber Armen und Notleidenden wurden im Rieger-Haus immer großgeschrieben. Vor allem Kindern gegenüber öffnete sie ihr Herz. Die Rieger-Mutter, wie sie genannt wurde, war ein bemerkenswertes Beispiel gelebter Nächstenliebe: Sie schenkte nicht nur fünf Kindern das Leben, sondern zog im Laufe ihres Lebens nicht weniger als fünf (!) Waisenkinder auf – um Gottes Lohn. Dazu kamen noch Kinder, die ihr Reimmichl von seinen Seelsorgsorten vorübergehend schickte, wenn er für eines dieser verlassenen Geschöpfe nicht gleich einen geeigneten Platz fand.

Damals waren die Menschen noch meist zu Fuß unterwegs, und da der Eggerhof ziemlich in der Talmitte liegt, bot er sich gut als Rastplatz an. Und weil es bei der Eggerhofbäuerin immer eine kleine Stärkung gab, kehrten hier vor allem junge Kooperatoren und Studenten ein, deren Geldbeutel meist an Schwindsucht litt.

Auf ihrem Sterbebild – Maria Rieger starb 1913 im Alter von 82 Jahren – wurde sie so charakterisiert: „Die Verstorbene … war eine Freundin der Priester, der Armen und Waisen, eine treubesorgte Gattin, eine echt christliche Hausfrau, wirtschaftlich und wohltätig, geachtet in weitesten Kreisen.“

Dem Ehepaar Rieger wurden vier Buben und ein Mädchen geboren. Sebastian war der Älteste. Ihm folgten 1869 seine Schwester Aloisia und wieder zwei Jahre später die Zwillinge Johann und Alois, die aber bald nach der Geburt starben. 1874 kam der letzte Spross zur Welt, es war wieder ein Hans.

Aloisia lebte daheim. Sie war ein Spiegelbild ihrer Mutter und in ihrem Wesen Reimmichl sehr ähnlich. Sie war gesprächig – „so wie alle Deferegger“, ergänzte Pfarrer Albuin Messner -, konnte gut und interessant erzählen und hatte bis ins Alter ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Sie war eine Frohnatur mit einem stets lachenden Gesicht und für ihre Wohltätigkeit bekannt. Sie führte die Tradition der Gastfreundschaft am elterlichen Hof fort. Reimmichl hatte sie besonders ins Herz geschlossen und auch sie hing an ihrem Bruder. Zu Reimmichls Leidwesen besuchte sie ihn selten, und wenn, dann immer nur für zwei, drei Tage, denn sobald sie den Kirchturm von St. Veit nicht mehr sah, befiel sie das Heimweh und die Arbeit ging ihr ab.

Sie erbte schließlich den väterlichen Hof, überließ ihn aber – da sie ledig geblieben war – ihrem Ziehbruder Josef. Sie selbst blieb am Hof, arbeitete bis zu ihrem Tod bescheiden wie eine Magd und war dennoch im ganzen Tal hoch angesehen. Als sie 1948 zu Grabe getragen wurde, waren sich alle einig, dass man Aloisia eigentlich zu den Heiligen zählen müsste.

Hans, der jüngste Rieger, folgte seinem Bruder ins Gymnasium nach Brixen. Man hielt ihn für talentierter als seinen älteren Bruder Sebastian. Nach bestandener Matura verbrachte er die Ferien in St. Veit. Eines Tages zog sich eine Frau bei der Waldarbeit eine schwere Verletzung zu. Hans kam zufällig dazu und lief rasch einen Arzt holen. Dabei erhitzte er sich stark und trank in diesem Zustand eiskaltes Wasser. Die Folge war eine starke Erkältung mit nachfolgender Lungenentzündung, von der er sich nicht mehr richtig erholte. Er trat zwar im Herbst noch ins Priesterseminar ein, verstarb aber nach drei Monaten, einen Tag vor dem Heiligen Abend 1893, mit nur 19 Jahren.

Dann waren da noch zwei Onkel, Vaters Brüder, die stark auf Reimmichl als Volksschriftsteller abfärbten: Der eine war der bereits erwähnte Stephan, allgemein „Stöffl“ genannt, ein humorvoller, sangesfroher, redseliger Mensch mit einem beinahe unerschöpflichen Fundus an Geschichten; der andere hieß Josef, ein begeisterter Schütze und Jäger, der das Jägerlatein beherrschte wie wenige. Reimmichl sagt später einmal, dass er viele Typen seiner Geschichten und Romane vorwiegend aus dem Defereggental entliehen hat. So diente Onkel Josef als Vorlage für die „Geschichten vom Kreuzkaspar“.

Ein nicht minder großer Erzähler und begnadeter „Lügner“ und „Reimer“ mit großem Einfluss auf Reimmichls spätere Schriftstellerei war der Bruder der Mutter, Thomas Brugger, Bauer zu Breuding. Seine angeblichen Kriegserlebnisse unter Feldmarschall Radetzky im sardisch-piemontesischen Krieg fesselten jedes Mal den jungen Sebastian und die übrigen Zuhörer derart, dass die Frage nach dem Wahrheitsgehalt vollkommen in den Hintergrund trat.

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Dieses Bild stammt aus dem Jahre 1863 (!) und zeigt die Passeirer Schützenkompanie. Die Väter und Großväter der Abgebildeten kämpften 1809 am Bergisel. Heute sind Schützen Mitglieder eines Vereins, damals und bis 1918 Teil der Tiroler Landesverteidigung. Die Kleidung der hier abgebildeten Schützen ist keine Uniform, sondern war die damals übliche Männerkleidung.
(Foto: Reimmichlmuseum, Hall)

„Lügner“ bedeutet in diesem Zusammenhang in der Volkssprache „Reimer“ und kommt von zusammenreimen, zusammendichten, auch im Sinne von übertreiben. Reimmichls Mutter, die den Aufstieg ihres Sohnes zu einem der erfolgreichsten Volksschriftsteller seiner Zeit erlebte, ermahnte ihn gelegentlich, in seinen Geschichten nicht so viel „zusammenzulügen“ – im Sinne von „zusammenreimen“.

Glückliche Kindertage

Johann und Maria Rieger führten eine gute und glückliche Ehe. Zum Leidwesen des Ehepaares blieb aber ihre Verbindung die ersten Jahre kinderlos. Endlich, nach langen sieben Jahren, trat das heißersehnte Ereignis ein: Ein Stammhalter und der vermeintlich zukünftige Bauer erblickte am Dienstag, den 28. Mai 1867 um vier Uhr nachmittags am Eggerhof das Licht der Welt. Doch das neue Glück war nicht ungetrübt. Der neue Erdenbürger kam zwei Monate zu früh und man fürchtete um das Leben des Siebenmonatskindes. Eine Frühgeburt bedeutete zu jener Zeit, als die Säuglingssterblichkeit ohnedies sehr hoch war, große Gefahr für das junge Leben. Noch mehr fürchtete man aber, dass ein Kind ungetauft sterben könnte. Deshalb packte man das Neugeborene in Windeln und Decken und trug es bereits zwei Stunden nach der Geburt den steilen Weg hinauf zur Kirche, wo es auf den Namen Sebastian getauft wurde.

Damals war es noch weit verbreiteter Brauch, ein Kind entweder nach einem nahen Verwandten oder auf den Namen des Taufpaten zu taufen. Da Sebastian Ladstätter den Taufpaten machte, erhielt der Riegerspross den Namen Sebastian; in der Umgangssprache war er der „Wastl“. Auch später, als er schon der berühmte Reimmichl war, nannten ihn seine engsten Freunde Wastl und so zeichnete er auch seine Briefe an sie.

Reimmichl stellte in seinen Erzählungen dem Leser gern das Idealbild eines Paten vor: Dieser soll ein gläubiger, rechtschaffener Charakter mit Vorbildwirkung sein. Nach katholischem Verständnis übernimmt der Pate ein Ehrenamt und die Mitverantwortung für die religiöse Erziehung; gleichzeitig ist der Pate Zeuge, dass der Täufling kraft des Sakraments in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen worden ist. Und dass sich der Pate um sein Patenkind kümmert, wenn es in eine Notlage kommt, ist selbstverständlich.

Um die Patenschaft gefragt zu werden, gilt noch immer als Ehre. Zwischen Patenkind und Pate besteht ein besonderes Verhältnis, eine geistige Verwandtschaft, der Pate wurde zum Gevatter, also zum Mit-Vater. Dieses besondere Verhältnis zeigt sich hierzulande heute noch bei der Hochzeit und im Tode: Der Taufpate erhält beim Hochzeitsmahl des Patenkindes einen Ehrenplatz an der Tafel und auf Partezetteln wird der Taufpate namentlich unter den Trauernden angeführt. Früher war diese geistige Verwandtschaft sogar ein kirchliches Ehehindernis.

In der oft langen Abwesenheit Vater Riegers hatte Reimmichls Mutter zwar die Hauptlast am Hof zu tragen, das Regiment führte aber die ersten Jahre der alte Rieger, Reimmichls Großvater. Ihm hatte sich auch die Mutter zu fügen. Und er war der Meinung, dass man Kinder nicht verwöhnen durfte, sonst würden sie verweichlicht. Diese Sicht bezog sich auch auf das Essen. Gerade hier aber hätte der kleine Wastl besonderer Fürsorge bedurft, schließlich musste er die zwei Monate, die er zu früh geboren wurde, aufholen.

Reimmichl war die ersten Jahre ein schwächliches und oft kränkliches Kind, was ihn aber nicht hinderte, sich mit allerlei Einfällen immer wieder in Gefahr zu bringen und die Nerven der Eltern zu beanspruchen. Seine Mutter erzählte später, als ihr Sohn schon ein berühmter Mann war, dass sie mit all den anderen Kindern zusammen, eigenen und angenommenen, nicht so viel mitgemacht habe wie mit dem Wastl allein.

Als kleines Kind konnte Sebastian am Abend nur mit großer Mühe zu Bett gebracht werden. War er einmal unleidlich oder ungehorsam, brauchte man ihm nur mit dem Bett drohen und schon war er der bravste Bub, denn ins Bett gehen müssen, war für ihn die ärgste Strafe.

Als der Bub fünf Jahre alt war, nahm ihn die Mutter zum Christi-Himmelfahrt-Fest mit in die Dorfkirche. Dort wurde – wie damals in Tirol üblich – die Himmelfahrt anschaulich dargestellt, indem eine Statue des Auferstandenen an einem Seil durch die Deckenöffnung, das sogenannte „Heilig-Geist-Loch“ hinaufgezogen wurde. Vier Engel umschwebten dabei den auffahrenden Christus. Nachdem der Herr verschwunden war, wurden die vier Engel wieder heruntergelassen. Als sie tief über der Kirchenbank schwebten, in der der Bub mit seiner Mutter kniete, sprang der kleine Wastl auf die Bank und fasste blitzschnell einen der Engel mit den Worten: „Der kommt mir nimmer aus!“ Die meisten Kirchenbesucher lachten, einige schüttelten missbilligend den Kopf.

Von der Strafpredigt, die ihm die Mutter am Heimweg von der Kirche gehalten hat, erzählte Reimmichl zur Erheiterung der St. Veiter Festversammlung anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft in bestem Deferegger Dialekt:

„Du damischer Bue, du schiacher, wie viel i mi heunt hon gschumbt, i hon mi gedenkt, es trifft mi der Schlog. Kirchen bische heunt s’löschte Mal gong und in Att’n tu i’s erscht a no schreib’n, wo du dir da heunt hoscht far a Gleichnisse gegeben!“ Die hochdeutsche Annäherung an diese Rede könnte lauten: „Du verrückter Bub, du schlimmer, wie sehr habe ich mich heute geschämt, ich habe mir gedacht, mich trifft der Schlag. In die Kirche bist du heute das letzte Mal gegangen, und dem Vater (Atte = Vater, Namme = Mutter, Nune = Großmutter) schreib ich es auch noch, wie du dich heute aufgeführt hast“.

Hochzeiten waren im Defereggen – wie überhaupt am Lande – mit viel Brauchtum verbunden. Wenn z. B. einer der geladenen Gäste zum Mahl ein Kind mitbrachte, wurde es im Volksmund „Hochzeitshund“ genannt. Als nun Reimmichls Tante Kreszentia den Thomas Prast heiratete, wurde auch der kleine Sebastian mitgenommen. Zum Gaudium der Hochzeitsgäste nahm der kleine Wastl die Bezeichnung „Hochzeitshund“ wörtlich und bellte immer wieder tapfer drauflos und kroch dabei am Boden herum, weil seiner Meinung nach ein Hund ja unter den Tisch gehört.

Dann war es so weit: Wastl wurde im Jahre 1874 Abc-Schütze und musste zur Schule. Der Eggerhof liegt ziemlich in der Mitte zwischen den Volksschulen des Hauptortes St. Veit droben am Berghang und der Fraktion Feld im Talboden. Beide Schulen sind jeweils eine halbe Stunde vom Elternhaus entfernt. Da aber der Weg nach St. Veit steil und im Winter lawinengefährdet war, wurden die Kinder von Inneregg nach Feld in die Volksschule geschickt. Es war eine einklassige, gemischte Schule mit etwa 50 Kindern. Als Klasse diente eine Stube des Wirtshauses von Feld, aber bereits im zweiten Schuljahr übersiedelte man in ein geräumigeres Holzhaus und in der dritten Klasse stand dann sogar ein eigenes Schulhaus zur Verfügung.

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Der festlich geschmückte Hochaltar in der Pfarrkirche von St. Veit, in der Reimmichl getauft wurde und die Primiz gefeiert hat.
(Foto: G. Rosenkranz)

Das Schulwesen war damals gerade erst nach liberalen Vorstellungen neu geordnet worden. Das neue Volksschulgesetz war unter anderem auch eine Folge der verlorenen Schlacht von Königgrätz im Jahre 1866, denn man sah einen der Gründe für die verheerende Niederlage der Österreicher im weitverbreiteten Analphabetismus. Viele Soldaten konnten kaum lesen und schreiben, wodurch die militärische Ausbildung und Nachrichtenübermittlung verständlicherweise erschwert wurde.

1869 wurde der zukünftige Bildungsgang für Kinder festgelegt. Die allgemeine Schulpflicht wurde von sechs auf acht Jahre verlängert, die Schülerhöchstzahl pro Klasse auf 80 (!) beschränkt, was durchaus als Fortschritt empfunden wurde.

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Schüler widmeten ihrem Lehrer Peter Oberwalder den Grabstein an der Kirchmauer von St. Veit. Diesem außergewöhnlichen Pädagogen bewahrte Reimmichl lebenslang ein dankbares Gedenken.
(Foto: Huber/Familienarchiv Hintner)

Die achtstufige Volksschule galt für ländliche Gebiete. In den Städten und größeren Gemeinden gab es nach der fünften Volksschulklasse die Möglichkeit, die dreiklassige Bürgerschule zu besuchen, wo Burschen und Mädchen nach unterschiedlichen Lehrplänen unterrichtet wurden. Dabei hatten Mädchen weniger Mathematik-, dafür mehr Handarbeitsstunden.

Es dauerte aber, bis sich die neuen Verordnungen überall durchgesetzt haben. Die Bauern rebellierten nämlich, weil ihnen durch die verlängerte Schulpflicht die Kinder als Arbeitskräfte entzogen wurden. Also kam es zu Ausnahmeregelungen, indem man auf dem Land die Länge des Schuljahres an den bäuerlichen Arbeitsablauf anpasste, d. h. das Schuljahr dauerte (nur) am Land von Oktober bis April/Mai (Winterschule), während der übrigen Monate standen die Kinder für die Feldarbeit und zum Viehhüten zur Verfügung. Den Lehrern und Lehrerinnen fehlte dabei oft die nötige Unterstützung durch die Gemeinde, denn Bildung hatte in der Bevölkerung nur einen geringen Stellenwert – folglich genossen Lehrer auch kein besonderes Ansehen.

Andere Regelungen wurden wiederrum für Industriebetriebe erlassen. Hier wurden eigene Fabriksschulen eingerichtet, die von den dort beschäftigten Kindern in den Arbeitspausen(!) besucht wurden. Kinderarbeit bis zum 14. Lebensjahr war dann offiziell ab 1895 verboten, setzte sich aber nur langsam durch.

Sebastian Rieger hatte mit der Schule in Feld einen Volltreffer gelandet. Er hatte das große Glück, in der Person des Peter Oberwalder einen herausragenden Lehrer zu bekommen. Eigentlich war dieser ein Kleinbauer, der aber Freude am Lehrfach hatte und sich nach den damaligen Vorschriften in einem Kurs von wenigen Wochen zum Lehrer ausbilden ließ und die Schule in Feld übernahm. Durch eifriges Lesen und durch Selbststudium erlangte er ein bedeutendes Wissen. Er war der geborene Pädagoge. Er vermittelte nicht nur Wissen, sondern behandelte die Schüler ganz nach ihren Anlagen und Fähigkeiten und konnte sie für den Lehrstoff begeistern.

Die Schule des Peter Oberwalder in Feld galt in den 1870er-Jahren als beste Volksschule des Bezirkes Lienz, obwohl sie nur einklassig geführt wurde. Immer wieder kamen Schüler aus Feld nach der fünften oder sechsten Stufe in Höhere Schulen und bestanden die Aufnahmeprüfungen ohne besondere Vorbereitung mit bestem Erfolg. Oberwalder legte großen Wert darauf, dass seine Schüler die deutsche Sprache nicht nur recht verstehen, sondern Texte auch mit Verständnis lesen konnten. Er führte sie in die Rechenkunst ein und machte sie auf die Geheimnisse der Natur aufmerksam. Er erzählte spannende Geschichten von fremden Ländern und Völkern. Sogar in die Lektüre von deutschen Klassikern weihte Oberwalder seine Buben und Mädchen ein.

Dazu erzählte Peter Feldner aus Hopfgarten in Defereggen, der spätere Dekan und Propst von Innichen: „Ich kann mich noch gut an jenen 18. August 1880 erinnern, als Sebastian Rieger und ich mit unserem Führer, Kooperator Ploner, unterwegs waren auf dem Weg nach Brixen zur Aufnahmeprüfung ins Gymnasium. Ploner und Rieger unterhielten sich dabei über Goethe und Schiller, über Adalbert Stifter und über die Bolandisten, alles Namen, die ich noch nie gehört habe, geschweige denn, dass ich etwas über ihr Leben oder ihre Werke gewusst hätte. Mich packten plötzlich Furcht und Entsetzen: Am besten drehe ich um, dachte ich mir, denn ich werde die Aufnahmsprüfung nie und nimmer bestehen.“ Es kam aber anders und die beiden drückten ab 14. September 1880 gemeinsam die Schulbank im Vinzentinum in Brixen.

In seinen späteren Erzählungen hat Reimmichl mehrmals seines geschätzten, außergewöhnlichen Lehrers gedacht und ihm so ein Denkmal gesetzt. Auch seine Schüler und Schülerinnen haben ihm über den Tod hinaus dankbare Erinnerung bewahrt. Einige haben ihm sogar den Grabstein gewidmet.

Der „Wastl“ geht studieren

Jeder Mensch hat seine Fähigkeiten und Talente. Aus dem kleinen Wastl war inzwischen ein 13-jähriger Bub geworden, hochaufgeschossen, eher schwächlich gebaut. Er stotterte und besondere Talente zeigte er auch nicht; jedenfalls hielt man seinen jüngeren Bruder Hans für wesentlich talentierter. Was sollte also aus dem Wastl werden? Es fehlte ihm das Interesse und die Freude an der Bauernarbeit, also schied er als zukünftiger Hoferbe aus. Blieb noch die Möglichkeit, als Geschäftsmann in die Fußstapfen des Vaters zu treten, der es vom Wanderhändler zum Fabriksteilhaber gebracht hatte. Aber dazu fehlte dem Buben das kaufmännische Verständnis. Was tun?

Gerne beschäftigte sich Wastl mit Büchern und Landkarten – Lesen war seine Leidenschaft und Ministrant sein seine Passion.

Es war im Jahr 1880. Da kam eines Tages der Pfarrer des Weges. Wie überall am Lande, war der Pfarrer unbestritten die angesehenste Persönlichkeit im Ort, daher erzählte ihm die Mutter von ihren Sorgen. Da machte der Seelsorger jenen Vorschlag, der das Leben des jungen Sebastian Rieger in neue Bahnen lenkten sollte:

„Lasst ihn doch studieren!“ Die Mutter war gänzlich überrascht und doch irgendwie erwartungsvoll: „Auf Pfarrer studieren?“ Dazu muss man wissen: Im Volksmund nennt man vielfach jeden Geistlichen einen Pfarrer. Und für jemanden, der vom Land zum Studieren in eine Stadt ging, war es damals in Tirol sozusagen eine Selbstverständlichkeit, dass er Geistlicher werden wollte, es sei denn, dass er der Sohn eines Beamten oder eines Arztes war.

„Warum nicht? Aus ihm könnte durchaus ein guter Priester werden und finanziell könnt ihr euch sein Studium wohl leisten.“

Es bedurfte nun keiner allzu langen Überlegungen mehr, und es stand fest: Der Bub geht studieren! Dem Vater gefiel die Vorstellung und auch die Mutter verhehlte nicht ihre Freude. Der Wastl war auch Feuer und Flamme und konnte es kaum erwarten, in die Welt hinauszukommen.

Für Osttiroler war es in jenen Jahren beinahe selbstverständlich, in Brixen zu studieren. Nur ganz wenige Buben wurden nach Bozen, Innsbruck oder Hall geschickt. In Brixen standen zwei Gymnasien zur Auswahl: Bereits seit langer Zeit existierte das Kassianeum, ein geistlich geführtes Internat, dessen Zöglinge das Staatsgymnasium in Brixen besuchten, wo Augustiner-Chorherren aus dem nahen Kloster Neustift unterrichteten. Diese alte Domschule war eine erfolgreiche Ausbildungsstätte und konnte auf eine altehrwürdige Geschichte zurückblicken, die bis ins 10. Jahrhundert zurückreicht.

Die Entscheidung fiel aber dann doch zu Gunsten des Vinzentinums, das erst kürzlich eröffnet worden war und dessen Name auf den Erbauer Fürstbischof Vinzenz Gasser zurückgeht. Dieses diözesane Knabenseminar, das Gymnasium und Internat unter einem Dach vereinigte, verdankte seine Errichtung dem Priestermangel jener Zeit.

Bis dorthin hatten die öffentlichen Gymnasien Tirols und Vorarlbergs für den regelmäßigen Nachschub an Priesteramtskandidaten in der Diözese Brixen gesorgt. Doch seit den 1850er-Jahren konnten die neu ausgebildeten Neupriester die Zahl jener, die durch Tod, Krankheit oder Alter ausgeschieden sind, nicht mehr voll ersetzen. 1872 waren von 999 geistlichen Planstellen 92 wegen Priestermangels nicht besetzt (auch Vorarlberg gehörte damals zur Brixner Diözese). Fürstbischof Vinzenz Gasser sah den Hauptgrund für diese Entwicklung in den liberalen Tendenzen, die sich an den Schulen jener Zeit ausbreiteten. 1867 kamen die neuen Schulgesetze dazu: Bis dahin war die Schulaufsicht in den Händen der Kirche gelegen, die natürlich Wert auf eine katholische Formung der Jugend gelegt hatte und dabei auch von den Lehrern unterstützt worden war. Aber der politische Wind hatte sich schon seit einiger Zeit gedreht.

In Wien kam eine liberale Regierung an die Macht, die ein neues Staatsgrundgesetz nach liberalen Grundsätzen erließ. Eines der Ziele war, die Macht des Adels und der Kirche zu brechen, dazu gehörte auch, den Einfluss der Kirche im Schulbereich zurückzudrängen. Deshalb übernahm nun der Staat die Schulaufsicht. Der Kirche blieb nur noch der Religionsunterricht.

Nun war für den Fürstbischof Feuer am Dach, denn er musste damit rechnen, dass der Jugend in Zukunft keine christlichen Wertvorstellungen mehr vermittelt würden, dafür aber liberales, antiklerikales Gedankengut Einzug hält. Als Folge würde der Priesternachwuchs noch weiter zurückgehen. Vinzenz Gasser war in allem ein Mann der Tat. Daher wollte er nicht mehr länger zuwarten und auf eine unsichere Zeitenwende hoffen. Von 1873 bis 1876 ließ er ein Knabenseminar mit Gymnasium errichten, das den Priesternachwuchs fördern und der Diözese gute Seelsorger in ausreichendem Maße bringen sollte. Damit auch Laien christliches Gedankengut in die Welt hinaustrügen, war das Vinzentinum von Anfang an auf ausdrücklichen Wunsch des Fürstbischofs auch für solche geöffnet, die nicht den Priesterberuf ergreifen wollten.

Das Vinzentinum erfüllte über Jahrzente für ganz Tirol und Vorarlberg die ihm gestellte Aufgabe bis nach dem Ersten Weltkrieg. Ab 1926 durfte aber das Vinzentinum auf Befehl der Faschisten keine Schüler mehr aus Nordirol und Vorarlberg aufnehmen. Damit war dieser nördliche Teil der Diözese von der Brixner Ausbildungsstätte abgeschnitten. Aber der Salzburger Fürsterzbischof Sigismund Waitz als für Nordtirol und Vorarlberg zuständiger Oberhirte – ein gebürtiger Brixner und Freund Reimmichls – reagierte sofort, erwarb die ehemalige Landesschützenkaserne in Schwaz und baute sie zum Knabenseminar Paulinum um. Der Betrieb begann dann mit 202 Schülern. Übrigens: Der Name Paulinum geht auf einen Wunsch von Fürsterzbischof Waitz zurück, der für den Völkerapostel Paulus besondere Bewunderung und Verehrung zeigte.

Reimmichl verbrachte insgesamt dreizehn Jahre in Brixen: Acht Jahre am Gymnasium Vinzentinum, anschließend vier Jahre im Priesterseminar und fünf Jahre später noch einmal ein Jahr, als er 1898 die Zeitungsredaktion der „Brixner Chronik“ und des „Tiroler Volksboten“ übernehmen musste. Jugendjahre bleiben oft besonders stark in Erinnerung und man wird unschwer verstehen, dass das alte Städtchen am Eisack in Reimmichls Herzen besonders tiefe Wurzeln schlug – ja ihm zur zweiten Heimat wurde.

Brixen war zu Reimmichls Gymnasialzeit eine Kleinstadt mit rund 5000 Einwohnern (heute 22.000). Vom Dombezirk aus im Zentrum erreichte man den Stadtrand bereits nach wenigen hundert Schritten. Auch andere Tiroler Städte waren damals noch recht bescheiden; Innsbruck zählte 35.000 Einwohner, Bozen 18.000, die heutige Millionenstadt München entsprach mit 270.000 Einwohnern der heutigen Größe von Graz.

Der Brixner Talkessel ist uraltes Siedlungsgebiet. Archäologische Funde im kleinen Weiler Melaun oberhalb der Stadt gaben sogar einem Zeitabschnitt im Alpenraum vor 3300 Jahren den Namen: die Laugen-Melaun-Kultur. Die Stadt Brixen – sie ist die älteste Stadt Tirols – wird erst später greifbar, aber immerhin bereits im 5. Jahrhundert v. Chr.: Vor zwei Jahrzehnten wurden am Domplatz in vier Metern Tiefe Reste einer Hütte aus jener Zeit freigelegt.

In der Tradition der Stadt gilt der 13. September 901 als Gründungsdatum. Damals schenkte König Ludwig das Kind dem Bischof von Säben einen großen Gutshof in Prihsna (Brixen), der dann dem hl. Bischof Albuin die materielle Grundlage dafür bot, den Bischofssitz um das Jahr 990 von Säben/Klausen nach Brixen zu verlegen. Fast 1000 Jahre war Brixen Bischofssitz, ehe es 1964 zur Neuordnung der Diözesangrenzen kam und der Bischof nach Bozen übersiedelte. Die legendäre Überlieferung berichtet, dass der hl. Kassian dieses Bistum noch in spätrömischer Zeit gegründet haben soll; auf jeden Fall ist dann der hl. Ingenuin 579 der erste geschichtlich belegte Bischof auf Säben.

Die Heiligen Ingenuin und Albuin sind heute Diözesanpatrone von Bozen-Brixen (Gedenktag ist der 5. Februar); der hl. Kassian als dritter Patron wird jedes Jahr am zweiten Sonntag nach Ostern mit der weitum bekannten Kassianiprozession geehrt. Diese Prozession war damals, als Reimmichl das Vinzentinum besuchte, einer der jährlichen Höhepunkte im Leben der Stadt und wird auch heute noch mit großem barockem Aufwand begangen. Alle drei Heiligen stehen als überlebensgroße Statuen über dem Eingang zum Brixner Dom.

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Der Brixner Dom, durch 1000 Jahre kirchliches Zentrum der Diözese Brixen.
(Foto: Herzog)

Vor 1926 reichte die Diözese Brixen im Süden bis Klausen, im Westen umfasste sie Vorarlberg, im Norden ganz Nordtirol westlich des Zillers, im Osten ging sie bis an die tirolisch/kärntnerische Grenze. Bis zur Entstehung der Grafschaft Tirol im 13. Jahrhundert waren die Fürstbischöfe über 300 Jahre hinweg die einzige nicht nur geistliche, sondern auch politische und kulturelle Kraft im Lande. Auch wenn dann die weltliche Macht von den Tiroler Landesfürsten übernommen wurde, blieb die religiöse und kulturelle Ausstrahlung ungebrochen. Brixen war das geistige Zentrum Alt-Tirols. Die Ausbildung der Weltpriester und die höhere Ausbildung eines nicht geringen Teils der Jugend vollzogen sich seit dem Mittelalter in Brixen.

Als Reimmichl am 14. September 1880 in Brixen ankam, sah er zuerst einmal nicht viel von der altehrwürdigen Bischofsstadt, denn sowohl der Bahnhof als auch der mächtige Bau des Vinzentinums lagen damals noch vor der Stadt.

Schüchtern betrat der Bub aus dem Defereggental das riesengroße Gebäude, das ihm nun für acht Jahre Heimat werden sollte. Wie begeistert war der Wastl damals, als man ihm eröffnete, dass er studieren dürfe. Jetzt aber, in der Bischofsstadt angekommen, fand er sich nicht leicht zurecht. Reimmichl erzählte später, wie es ihm, dem scheuen, unbeholfenen Bübl aus dem hintersten Tal, die erste Zeit erging: Bisher war der heimatliche Kirchturm das größte Weltwunder, hier aber schien ihm alles so riesengroß und unbekannt und oft genug blieb ihm der Mund offen vor Staunen. Immer wieder blieb er stehen, um den noblen Damen und Herren nachzusehen und sich über die Mode zu wundern.

Im Vinzentinum selbst wollte es dem Wastl anfänglich nicht gefallen. Das Haus war ihm viel zu groß und in den ersten Tagen verirrte er sich mehr als einmal in den zahlreichen Stockwerken und Gängen. Zu Hause hatte man dem Wastl eingeschärft, er müsse immer freundlich und höflich sein: „Bevor man ein Zimmer betritt, nimmt man den Hut ab und klopft an!“ Der Wastl nahm das wörtlich, auch dann, wenn er z. B. das Klassenzimmer, den Speisesaal oder das Studierzimmer betrat. Warum man in der Klasse nicht den Rock ausziehen darf, sah er auch nicht ein. Auch die einheitliche Schulkleidung war nicht nach seinem Geschmack.

In diesen ersten Tagen drückte es ihm schwer aufs Herz, in der Fremde zu sein. Damals lernte er zum ersten Mal das Heimweh kennen. Als er dann glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, beschloss er ins Defereggental zur Mutter heimzukehren. Sie würde ihn schon verstehen. Um nicht aufzufallen, schien ihm Mitternacht der geeignete Fluchtzeitpunkt zu sein. Er schlich auf leisen Sohlen aus dem Schlafsaal und durch die Gänge dem Ausgang zu. Der Wastl hatte aber nicht mit dem großen Haushund gerechnet, der im Hof seinen Platz hatte und sofort anschlug und sich mit gefletschten Zähnen dem jungen Ausreißer näherte. Dem Wastl fiel das Herz in die Hose, er machte kehrt und legte sich wieder unbemerkt ins Bett.

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Das Knabenseminar Vinzentinum in Brixen (Blick von Süden), benannt nach dem Erbauer Fürstbischof Vinzenz Gasser. Hier verbrachte Reimmichl die Gymnasialjahre.
(Foto: Schlern 47/1973)

Der alte Reimmichl erzählte später öfters schmunzelnd, dass er seinen Priesterberuf neben der Vorsehung einem Hund verdanke.

Nach diesem nächtlichen Fehlschlag stürmten aber immer mehr neue Eindrücke auf den jungen Studenten ein. Die Schule und das Treiben im Internat ließen für trübe Gedanken bald keinen Platz mehr. Von nun an drehte sich das Leben im Vinzentinum um zwei Brennpunkte: Den einen bildete das Heim mit seinen Vorgesetzten, der strikten Zeiteinteilung und dem regelmäßigen Wechsel von Studium und Erholung, den anderen die Schule mit den zahlreichen Unterrichtsfächern und Professoren.