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Eugenie Kain
Atemnot

Eugenie Kain

Atemnot

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

Für Anna Gröblinger

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1215-3
eISBN 978-3-7013-6215-8

© 2014 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan
Coverbild: Leo Fellinger

Die Sprache in ihrem Begehren nach Überschreitung
steht im Widerstreit mit der Sprache.
Das Unsagbare untergräbt sie.
Das Absolute ist in ihr.
Das Geschriebene umschreiben.
Die Schrift solange bedenken, befragen,
bis es kein Geschriebenes mehr gibt; als würde sie dort, wo
sie nicht mehr ist, zu sein beginnen und lesbar sein wollen.

Edmond Jabès

Inhalt

Wildwochen

Feierabend

Niederwasser

Sekundenschlaf

Nachmittagsschatten

Quartalsende

Ausgleichstag

Kunstpause

Nachsaison

Nachwort

Editorische Notiz

Wildwochen

Vier Stufen noch und Desiree wußte, dieses Leben würde ein Ende haben. Eine Hand hielt die plumpe Last auf der Schulter im Gleichgewicht, die andere tastete sich das Stiegengeländer hinab in den Keller. 2 Stufen noch und ein paar Schritte den Gang entlang. Noch 3 Schritte. Mit dem Fuß stieß sie die Tür auf. Desiree war am Ziel. Sie lud die Last auf dem Boden ab. Desiree drückte den Lichtschalter. An der Wand hingen Fasane, Rebhühner und Hasen, das Geflügel mit der Schlinge um den Hals, die Hasen mit den Hinterläufen am Haken. Junge Hasen sind daran zu erkennen, daß sich das Fell an der Innenseite der Läufe leicht einreißen läßt. Ihr Unterkiefer ist leicht aufzudrücken, die Vorderläufe und Rippen sind leicht zu brechen. Der Hals des Rehs vor ihr auf dem Boden des Kühlraumes war verrenkt. Ein blankes Auge auf schmutzigen Kacheln. Erloschenes Licht. Desiree wischte die Hand am toten Fell des Tieres ab. Rehschweiß. Blutschwitzen. Die Wildwochen hatten begonnen.

Eine Station noch und das Fenster würde den Blick freigeben auf die Stadt. Volksschulkinder quetschten sich und ihre sperrigen Schultaschen in den Bus und vertrieben lärmend den Zwang des Schultags. Zwei Kurven noch oder drei. Der Bus änderte seine Fahrtrichtung und fuhr der Sonne zu. Marie schaute auf die Stadt, die sich vor ihr im Bogen ins ebene Land schob. Einem Lavastrom gleich begrub sie Meter für Meter fruchtbare Felder unter bizarren Formen. Zwei riesige Betonquader ragten aus der Ebene und gaben dem gleichförmigen Land neue Schatten. Zufriedene Bewohner einer Siedlung sind daran zu erkennen, daß sie ihre Wochenenden zu Hause verbringen. Sie haben es nicht nötig, das Weite zu suchen. Die meisten Fahrgäste im Bus drängten zum Ausstieg. Verbrauchte Luft. Marie zwängte sich an einem Schulkind vorbei aus ihrer Sitzreihe. Stadtrand. Randland. Und dazwischen irgendwo die Grenze.

Nie wieder Wildwochen, Martinigänse und Hochzeitsfeiern. Es hatte sich ausserviert, ausgeschält, ausgeschleppt. Desiree sah ein Ziel. Auf dem Weg in den Kühlraum nahm eine Idee Konturen an und gerann dann inmitten der toten Tiere zum Entschluß. Zum ersten Mal in ihrem Leben wußte Desiree, wo sie hingehörte. Hinauf. Weg. Nie wieder würde sie sich in den Keller schicken lassen. Keiner mehr würde sie in eine Ecke drängen. Ihr den Ausweg verstellen. Bleib Mädchen, du könntest etwas lernen. Berge von Erdäpfeln hatte sie geschält, geschnitten, zerdrückt. Bleib Mädchen, ich zeig dir was. Millionen Salatblätter hatte sie aus dem Wasser gefischt. Bleib Mädchen, und stell dich nicht so an. Tonnen von Mehl und Reis hatte sie geschleppt. Komm Mädchen, schlaf darüber. Schnitzel, Schweinsbraten, Zigeunerspieß. Komm Mädchen, das wird dir noch leid tun. Reis. Pommes. Semmelknödel. Komm Mädchen, auf dich wartet niemand. Bier. Wein. Schnaps. Komm. Komm. Komm. Nie mehr. Nie mehr. Nie mehr. Nein, ihr werdet mich nicht aufhalten.

Desiree trat in die Pedale. Die Sonne war nicht mehr stark genug, die Kälte der Frostnächte zu vertreiben. Sie malte eine blasse Wärme auf Desirees Rücken. Die Hände auf der Lenkstange waren aufgesprungen, zernarbt, krebsrot. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Desiree war keine Indianerin. Trotzdem. Es gab Leute, die nannten Desiree einen harten Knopf.

Neue Erinnerungen, neue Geschichten, neue Gesichter. Das Mikrofon blieb ein Fremdkörper, wenn Marie eine Fremde war. Vor jedem Besuch drehte Marie ihre Runden, um die Gegend mit allen Sinnen aufzunehmen. Wäschestangen, Parkplätze, Sandkisten, Autolärm, Sitzbänke, Hundekot, Sperrmüll. Auf den Balkonen Satellitenschüsseln und keine Geranien. Weichspülerluft. Die verrußten Fähnchen des Gebrauchtwagenhändlers flatterten steif im Oktoberwind. Auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus weiße Bänder auf Autoantennen.

An der Haltestelle warteten Menschen auf den Bus, um ins Universum der Einkaufscitys vorzustoßen. Marie sah sich mit fliegenden Fingern Kleiderhaken zur Seite schieben und Pulloverregale durchwühlen und dann vor freundlichen Spiegeln drehen, auf- und abgehen, im falschen Licht verstummten Geschichten, im Gewummer der Synthetikbässe verblaßten Erinnerungen. Keinen Fuß würde sie heute aus dem Schatten der Wohntürme setzen.

Marie studierte die Namensschilder auf dem Klingelbrett. Auf vielen waren nur die Nummern der Wohnungen vermerkt, auf anderen besagten Endsilben oder die Anhäufung von Umlauten, daß die Bewohner aus einer anderen Sprache kamen. Manche Namensschilder waren unbeschriftet, andere trugen Brandlöcher. Den Namen, den Marie suchte, fand sie nicht. Und wenn schon. So nah am Ziel gab Marie nicht auf.

An der Kreuzung stieg Desiree vom Rad. Von Schirokkos Wohnung trennten sie nur mehr das Rot der Ampel und 19 Stockwerke. Vielleicht war Schirokko nicht zu Hause. War in der Einkaufsstadt oder im Elektromarkt. Viele Vormittage hatten sie dort in der Fernsehabteilung verbracht. Aus den Filmen von 30 laufenden Geräten hatten sie ihren eigenen Film entwickelt, bis sie der Kaufhausdetektiv verscheuchte. In Schirokkos Film war Krieg. In Desirees Film schlossen am Ende Eltern die Kinder in die Arme. Oder sie blätterten in der Photoabteilung in den Phototaschen fremder Leute. Die Leute photografierten Wellen, Tiere, Kinder und Häuser. Meist mit einer blöden Gestalt im Vordergrund. Manchmal hatte die Gestalt nichts an außer einem Strumpfband oder hohen Stöckelschuhen. Amateurphotos. Schirokko lachte, wenn er zwischen Geburtstagsfeiern auf Löcher, Titten und Schwänze stieß. Desiree lachte nicht mit.

Brandmale und Schriftzeichen an der Wand, die Briefkästen in einem Drahtkäfig, Kinderwägen und Fahrräder im Stiegenhaus und verdreckter Filzbelag auf den Gängen. Im Aufzug ein Schulkind und dann noch ein Mädchen. Das Schulkind drückte auf den 3. Stock. Marie auf den letzten. Das Mädchen blieb in seiner Ecke. Das Mädchen war atemlos und ungepflegt. Fette gelbe Stirnfransen über unruhigen Augen und einer großen Nase. Das Mädchen schien mit der Geschwindigkeit des Aufzugs nicht vertraut, obwohl die bekritzelte und zerkratzte Aufzugswand den passenden Rahmen zu ihrem Gesicht abgab.

Das Rad ins Vorderhaus geschleudert und in den Aufzug hinein. Schirokko. Schon wieder in der Ecke. Und schon wieder aufgespießt. Paß auf Alte, daß du dich nicht verschaust. Die Alte hatte ihre Haare nicht im Griff und eine riesige Handtasche, die sie in Desirees Vatersprache „Zeger“ nannten. Unmöglich. Fahr schneller, fahr schneller.

Das Mädchen wohnt nicht hier, dachte Marie. Die gehört nicht hierher, dachte Desiree.

Der Lift entließ sie in einen langen, fensterlosen Gang.

Auf Wiedersehen sagte Marie.
Andere Baustelle, dachte Desiree.

In der Tür stand eine kleine Frau mit lebhaften Augen hinter dicken Gläsern. Sie schien schon gewartet zu haben. „Faans“ sagte die Frau, „Faans“ und malte mit den Händen Zeichen in den Raum, „Faansnicht.“ Marie stand vor der geöffneten Tür, die Frau im Türrahmen schluckte und nahm erneut Anlauf: „Faansnichttaa.“

Franz Fürst ist nicht da?

Die Frau lächelte freundlich.

Soll ich ein anderes Mal kommen?

Die Frau lächelte wieder und lud mit einer schwungvollen Handbewegung zum Eintritt in die Wohnung. Das schmale kurze Vorzimmer mündete in massive Kiefer, eine Küche mit gepolsterter Sitzbank und gedrechselten Tischbeinen. Der Blick vom Fenster reichte bis zum Horizont, bis zu den frischen weißen Flecken des Toten Gebirges. Die Frau schob Marie einen Stuhl hin. Sie lächelte. Dann nahm sie einen Zettel und schrieb: Franz Arzt. Lungenabteilung. Kontrolle. Die Kinderschrift stockte, die Frau schlug sich mit der Faust auf die Brust, schnitt Grimassen, faßte sich an den Hals. Körper, Gesicht und Hände erzählten von nächtlichen Schweißausbrüchen, Schmerzen und Atemnot. Als die Hände verstummten, sprach die Sorge noch einen Augenblick aus dem Gesicht der Frau. Dann lächelte sie wieder. Sie ging zum Fenster und kam mit einer Schüssel zurück. In der Schüssel war Semmelknödelteig. … kommt später …, schrieb die Frau weiter, du bleib zum essen koche Wild Hase mit Knödel.

In der Tür stand Bora, mit einem Bleistift in der Hand. Schirokko ist nicht da.

Wo ist er denn?

Frag ihn.

Wahrscheinlich ist er am Balkon, sagte Desiree und drängte Bora zur Seite.

Nein!, schrie die Kleine, dort ist er nicht.

Schirokkos Eltern hatten ein Wohnzimmer wie andere Leute auch. Auf dem Eßtisch lagen Boras Schulhefte. Im Fernsehen lief eine Talk Show.

Der Balkon war leer.

Es ging ohne Schirokko. Warum hatte sie sich auch eingebildet, Schirokko würde sie schreien hören. Keiner wird dir glauben. Niemand hört dir zu. So wird das bleiben dein Leben lang.

Was machst du, schrie Bora. Ruf ihn doch an, den Schirokko, nein ich ruf ihn an und sag ihm, du stehst bei uns am Balkon.

In der Ferne reckten sich blaue Berge aus dem Dunst der Ebene. Der große Pril war auszunehmen, der Traunstein und auch das Höllengebirge. Früher kletterte sie bei Wanderungen auf jeden Findling. Meistens hatten sie es eilig. Sie wurde weitergezerrt. Manchmal lief sie voraus. Kostete es aus, dieses Gefühl nach ein paar richtig gesetzten Tritten und kräftigem Armeinsatz oben zu stehen. Versperrte Türen und taube Wände weit unter sich. Ganz allein mit der freien Sicht.

Einmal fliegen, dachte Desiree, einmal im Leben frei sein. Dann stieß sie sich ab und sprang auf das Höllengebirge zu.

Cut

Die Sonne blendet und brennt schwarze Löcher in das Feld. Wir stolpern über das staubige Gras. Auf der Lichtung platzen die Nüsse aus ihrem grünen Fleisch. Geplünderte Holunderdolden starren in der blauen Luft. Auch der verblassende Duft des drüsigen Springkrauts spricht vom Herbst. Rühr mich nicht an. Jetzt sind wir auf der Strecke. Wir wissen nicht, wohin wir laufen.

Feierabend

Die Fürstin gibt Kümmel in die Semmelknödel. Keine Zwiebel. Nichts Grünes. Nur Knödelbrot. Ei. Mehl. Salz. Und etwas Milch für Knödel mit glatter, fester Schnittfläche. Die Fürstin hat sich geschüttelt bei dem Gedanken an Petersilie. Semmelknödel sind eine Beilage, sagt die Fürstin, und sollen sich nicht wichtig machen neben der Hauptspeise. Was für ein Unterschied. Du röstest die Zwiebel in Butter an und läßt das Knödelbrot mit dem hellen Zwiebelfett stehen, bevor du vor dem Weiterverarbeiten eine Spur Muskat ziehst. Muskat im Knödel, davon hat sie noch nie gehört. Möchtest du Kümmel im Semmelknödel?

Die Frage sollte zu Max Praha vordringen, damit Marie noch eine Frage stellen konnte und das Analysieren regionaler Knödelrezepte jede Konzentration im Raum aufsog.

Maries Worte hatten nicht genug Schubkraft, um über den Tisch zu gelangen, von dem Geruch nach Oregano, Knoblauch und warmem Karton aufstieg.

Das Kind summte und fischte rhythmisch Pommes Frittes aus bunt bedrucktem Papier.

Das Kind war geschminkt. Gelbes Gesicht. Schwarze Balkenwimpern bis auf die Stirn und die Wangen. Orangenfarbener Mund, das Haar strähnchenweise in Goldpapier gedreht.

Ich bin die Sonne, summte das Kind,
ich bin heiß und ich bin froh
und fällt auch die Nacht auf mich,
bin ich morgen wieder da.

Das Kind lachte.

Ich bin heiß und ich bin klar
und fällt auch die Nacht auf mich,
strahl ich morgen wieder so.

Max Praha balancierte ein schlappes Stück Pizza aus der Schachtel zum Mund.

Kein Salz im Haus. Und auch den Rest hatte Marie nicht besorgt. Und nicht daran gedacht, Praha anzurufen. Wer denkt ans Essen, wenn von einem Menschen nur der Schatten seines Blutes geblieben ist.