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informationen zur deutschdidaktik
Zeitschrift für den Deutschunterricht
in Wissenschaft und Schule

Schule in Literatur und Film

Herausgegeben von
Matthias Pauldrach

Heft 1-2016
40. Jahrgang

StudienVerlag Innsbruck

 

 

Editorial

MATTHIAS PAULDRACH:
Editorial

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Magazin

Gedicht im Unterricht

DANIEL NIX, CAROLIN FÜHRER:
Die (lyrische) Axt im Walde

Kommentar

HEIDI SCHRODT: (Deutsch)- Unterricht im mehrsprachigen Klassenzimmer

ide empfiehlt

WERNER WINTERSTEINER:
G. Rupp (2014): Deutschunterricht lehren weltweit

Neu im Regal

 

Schule und Film/Literatur – ein produktives Spannungsverhältnis

KASPAR H. SPINNER: Die Schriftsteller und der Literaturunterricht – eine Hassliebe?

MATTHIAS PAULDRACH: »Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir!« Eine Reflexion der Beziehung von Schule und Leben anhand von Wes Andersons Spielfilm Rushmore

HERWIG GOTTWALD: Ernst Jünger als Autor über und für die Schule

HANNES SCHWEIGER: LehrerInnen als (sprachliche) Autoritäten. Unterrichtsimpulse zur Auseinandersetzung mit machtvollen Ordnungen und ihrer kritischen Reflexion

WERNER WINTERSTEINER: Entstörungsdienste – die (Anti-)Pädagogik der Christine Nöstlinger.
Plädoyer für eine Neubewertung ihres Werkes

LehrerInnenbilder – Reflexionen eines umstrittenen Berufs

EWALD ARENZ: Lehrer? Ach so

MARKUS VORAUER: Ambivalenz und Scheitern.
Über einige widersprüchliche Lehr-Performances in aktuellen Spielfilmen

MARKUS KREUZWIESER: »Ich bin kein Schriftsteller, sondern Mittelschullehrer« – oder doch umgekehrt?
Wiedergelesen: Peter Henischs Bali oder Swoboda steigt aus (1981)

Film, Literatur, Schule – inter- und transmedial

KLAUS MAIWALD: »Ich kann nicht Lehrer werden.«
Wie Erich Kästner der Schule und wie das fliegende Klassenzimmer dem Schulmeister Kästner entrinnt

KATHARINA RUCK: Schülergewalt gegen Lehrer.
Unterrichtsvorschlag zu Juli Zehs Roman Spieltrieb und seiner Verfilmung

Service

ANNELIESE GRÖBLACHER: Schule in Literatur und Film.
Eine Auswahlbibliographie

 

 

 

Die Themen »Schule«, »Film«, »Kindheit und Jugend«, »Jugendliteratur« in anderen ide-Heften

ide 1/2015

Bewegte Bilder

ide 3/2013

Identitäten

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Pubertät

ide 1/2012

Reifeprüfung Deutsch

ide 1/2009

Theater

ide 3/2006

Aufwachsen in Europa

ide 4/2003

Film im Deutschunterricht

 

Das nächste ide-Heft

ide 2-2016

Sachtexte

 

erscheint im Juni 2016

 

Vorschau

ide 3-2016

Sehnsuchtsort Mittelalter

ide 4-2106

New Literacies im Deutschunterricht

 

 

 

 

 

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Editorial

Schule und Literatur haben seit jeher ein gespannt-kritisches Verhältnis. Kaum ein/e Autor/in oder Filmemacher/in äußert sich positiv über die Schule, umso größer ist die Zahl der literarischen und filmischen Abrechnungen mit einem als autoritärer Zwangsapparat erlebten Erziehungswesen bzw. der quasi-therapeutischen Aufarbeitungen der eigenen Schulzeit. Insbesondere die deutschsprachige Internatsliteratur liefert davon ein beredtes Zeugnis. Auch einige Beiträge dieses Bandes handeln von literarischer Schulkritik, doch nicht ausschließlich. Die meisten Autor/innen dieses Heftes haben bewusst literarische und filmische Werke ausgewählt, die eine deutlich differenziertere Darstellung des Verhältnisses von Schule und Gesellschaft der jeweiligen Epoche und Kultur bieten.

Das Verhältnis von Schule und Film/Literatur lässt sich metaphorisch mit dem Bild des gespaltenen Subjekts fassen, das Jacques Lacan das »Ich« und »sein Anderes« nennt. Indem sich beide Seiten bekämpfen, bringen sie sich paradoxerweise gegenseitig hervor und werden so gerade durch ihren Antagonismus füreinander produktiv. Schule und Literatur, Film, ja Kunst überhaupt, brauchen einander als das jeweils »Andere«, um sich selbst zu legitimieren. Literatur überführt Schule häufig der Gleichschaltungsabsicht. Schule hingegen macht mit Literatur zuweilen, was diese gerade nicht sein will, benutzt sie, richtet sie für ihre eigenen (heteronomen) Zwecke zu. Doch gibt es auch die andere, offensichtlich produktive Seite der Medaille: Schulerfahrungen gehören zu den klassischen literarischen und filmischen Stoffen; ihnen haben wir bedeutende Werke der Weltliteratur und des Films zu verdanken. Im Gegenzug trägt die Schule durch ihre Vermittlerrolle maßgeblich dazu bei, dass die gesellschaftlichen Subsysteme »Literatur«/»Film« in der jetzigen Form existieren. Ein Thema dieses Heftes soll daher einerseits die (kritische) Reflexion der Wechselwirkungen zwischen den Institutionen/Systemen Schule und Literatur/Film anhand literarischer und filmischer Werke sein. Daran schließen sich unterrichtspraktische Fragen an: Welche Anlässe zur Selbstreflexion und zu produktiver didaktischer Arbeit bieten Filme und literarische Werke, die sich mit Schule und ihren Akteur/innen auseinandersetzen?

Literarische und filmische Schuldarstellungen stellen fast immer Gesellschafts- und Zeitdiagnosen dar, daher liegt ein Epochenschwerpunkt des Heftes auf der Gegenwart. Heute sind sowohl schulische als auch gesellschaftliche Probleme oft so komplex, dass sie nicht mehr in simpler Schwarz-Weiß-Malerei zu fassen sind, wie dies vielleicht noch bei der Beschreibung des militärisch geprägten Schul-systems des wilhelminischen bzw. k.u.k. Zeitalters möglich war. Zugleich verstellt die fehlende zeitliche Distanz zur eigenen Gegenwart und die eigene Involviertheit als Lehrkraft möglicherweise den unvoreingenommenen Blick auf manches aktuelle Problem des Erziehungswesens und seine gesellschaftlichen Implikate. Hier kann die literarische und filmische »Fremdperspektive« eine Hilfe sein. Daher liegt ein weiterer Schwerpunkt des Bandes auf der Reflexion der Lehrer/innen-Rolle in literarischen und filmischen Texten. Nicht zuletzt werden in einigen Beiträgen inter- und transmediale Relationen der Darstellungen von Schule in Literatur und Film ausgelotet, zum Beispiel anhand der Verfilmungen von Schulromanen.

Die Bandbreite der behandelten Primärwerke erstreckt sich von Genre-Klassikern wie Erich Kästners Das fliegende Klassenzimmer und seinen drei Verfilmungen bis hin zu den breit rezipierten Titeln der Gegenwartsliteratur (zum Beispiel Juli Zehs Roman Spieltrieb und seine Verfilmung). Ein spezieller Fokus des Bandes liegt jedoch auf wenig bekannten Werken wie Wes Andersons Spielfilm Rushmore oder Ernst Jüngers Die Zwille, deren Behandlung im Unterricht bislang wohl kaum stattgefunden hat.

Im einleitenden Beitrag des Heftes und der Sektion »Schule und Film/Literatur – ein produktives Spannungsverhältnis« zeigt Kaspar H. Spinner, wie ein autoritativer und bedeutungslimitierender Umgang mit Literatur, der eigentlich durch die schüler- und identitätsorientierte Literaturdidaktik der 1980/90er Jahre überwunden schien, im kompetenzorientierten Deutschunterricht des 21. Jahrhunderts »fröhliche Urständ feiert«. Spinner zeigt anhand »kompetenzorientierter« Interpretationsaufgaben literarischer Texte in staatlichen Tests, wie ein monosemierender Umgang mit Literatur deren Grundanliegen bzw. grundlegende Ziele des Literaturunterrichts, zum Beispiel Imaginationsförderung, konterkarieren kann. Sein Text ist ein Plädoyer gegen die oben genannte »Zurichtung« literarischer Texte für schulische und gesellschaftliche Zwecke. Den Ausgangspunkt für Spinners Überlegungen bilden kritische, teils autobiographisch geprägte Texte von Schriftstellern über schulische Literaturinterpretation, insbesondere Burkhard Spinnens Text Auswärtslesen. Eine Litanei (2010), in dem dieser autobiographisch von Lesungen in Schulen erzählt.

Dass Schule ein Ort sein kann und sollte, der der Persönlichkeits- und Identitätsbildung dient und nicht in erster Line der Anpassung an standardisierte Anforderungen, ist das zentrale Thema von Wes Andersons Spielfilm Rushmore (1998), um den sich der Beitrag von Matthias Pauldrach dreht. Die Dichotomie von Schule und Leben, die das bekannte lateinische Sprichwort aufmacht, wird in diesem Film auf mehreren Ebenen in Frage gestellt. Auf welche Art von Leben soll Schule vorbereiten? Wie steht es tatsächlich um den Stellenwert des »schulischen Lebens«, das Schuldirektionen so gerne auf ihrer Website öffentlichkeitswirksam ausstellen, das aber im Selektionsapparat der Schule keine Rolle spielt? Haben unangepasste Schüler/innen, die früh ihren eigenen Weg suchen, im gegenwärtigen Schulsystem tatsächlich eine Chance? Max Fischer, der Protagonist von Andersons Film, ist ein solcher Jugendlicher, sein schulischer Werdegang ist voller Fährnisse und Krisen, die eine für Wes-Anderson- Filme typische groteske Komik erzeugen.

Herwig Gottwald wagt in seinem Beitrag etwas, das wenige vor ihm unternommen haben: einen Roman Ernst Jüngers als Schullektüre zu empfehlen. Ohne Jüngers umstrittene Werke und Thesen zu verharmlosen, sieht er gerade in der Ambivalenz von Jüngers Werken – etwa seines autobiographischen Adoleszenzromans Afrikanische Spiele (1936) – ein didaktisches Potential, das zur kritischen und kontroversen Behandlung im Unterricht anregt. Mit Jüngers Die Zwille (1973) versucht er, ein sprachgewaltiges und visionäres Werk für den Literaturunterricht fruchtbar zu machen, das das Thema des sexuellen Missbrauchs von Schülern durch Pädagogen aufgreift, lange bevor dessen wahre gesellschaftliche Dimension ans Tageslicht kam.

Hannes Schweigers Beitrag »LehrerInnen als (sprachliche) Autoritäten: Unterrichtsimpulse zur Auseinandersetzung mit machtvollen Ordnungen und ihrer kritischen Reflexion« ist ein Streifzug durch die jüngere österreichische Literatur (1968–1999), der sich insbesondere mit Werken auseinandersetzt, die Erscheinungsformen von Gewalt, Diskriminierung, Marginalisierung, aber auch der Subversion und Emanzipation thematisieren. Als Grundlage diente dem Autor dabei das Kapitel »Die Schule in der Literatur: Zöglinge und Erzieher« in der Dauerausstellung des im April 2015 eröffne-ten Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien.

Das (anti-)pädagogische Programm Christine Nöstlingers skizziert Werner Wintersteiner in seinem Beitrag über die drei Kinder- und Jugendbücher Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972), Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse (1975) und Der Hund kommt (1987). Die Protagonist/innen dieser Romane, die vom politischen Geist der 68er-Bewegung geprägt sind, revolutionieren ihren eigenen familiären und schulischen Mikrokosmos »von unten«: durch skurril-komisches, subversives Verhalten, die Umkehrung sozialer Rollen, das Unterlaufen schulischer und gesellschaftlicher Normen. Die Einbeziehung fantastischer Motive verleiht Nöstlingers Büchern eine zeitlose Wirkung und macht sie zu einem ästhetischen Lesegenuss, sodass sie sich auch heute, 30 bis 40 Jahre nach ihrem Erscheinen, noch als Schullektüre eignen. Zugleich stellen sie eine Herausforderung für Lehrkräfte dar, denn die in ihnen implizit vertretene »Anti-Pädagogik« konterkariert und hinterfragt den schulischen Verhaltenskodex grundlegend (zum Beispiel die Verwendung von Kraftausdrücken und Schimpfwörtern in Konrad).

Im Sektionsteil des vorliegenden Heftes »LehrerInnenbilder – Reflexionen eines umstrittenen Berufs« berichtet Ewald Arenz, Nürnberger Lehrer und Autor im ars-vivendi- und im dtv-Verlag, von seinem beruflichen »Zwitterleben«, den ökonomischen Zwängen eines Autors, den Vorurteilen von Leser/innen angesichts seines »Brotberufs« und Lehrerkolleg/innen bezüglich seiner Schriftstellerei. Erschildert aber auch die bereichernden Seiten seiner Doppelexistenz, seine ersten Schreibversuche als Schüler, Erlebnisse und Aspekte seiner Tätigkeit, in denen der Lehrer Arenz und seine Schüler/innen vom Schriftsteller Arenz profitieren und umgekehrt. Und er erklärt, warum er froh ist, kein Deutschlehrer zu sein.

Markus Kreuzwieser befasst sich in seinem Beitrag mit dem Lehrerroman Bali oder Swoboda steigt aus (1986) von Peter Henisch. Dieser schreibt: »Swoboda ist Lehrer geworden – eine Karriere, die ich mir tatsächlich hätte vorstellen können, wäre der Fischer-Verlag nicht dazwischengekommen. Eine Lehramtsprüfung wäre bei mir noch immer drin gewesen. Und Lehrer ist einer der für mich sinnvollen Berufe. ›Bali‹ war ja auch ein Identifikationsbuch für Lehrer.« Swobodas Problem ist, dass er kein gesundes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zu den Schüler/innen findet, weil er selbst gerne »einer von ihnen« wäre und weil das System Schule wirkliche Nähe und gemeinsames Lernen nicht zulässt. Es geht also in diesem Roman um system-immanente Zwänge der Schule, einen Generationenkonflikt und das Drama einer Midlife-Crisis in einem.

Ähnlich ambivalente Lehrerfiguren wie Swoboda, die nicht mehr in das Schema »Gut und Böse« passen, analysiert Markus Vorauer in seinem Text »Ambivalenz und Scheitern. Über einige widersprüchliche Lehr-Performances in aktuellen Spielfilmen«. Die Protagonisten der beiden Filme Die Klasse (2008) und Half Nelson (2006), die Vorauer vorstellt, sind weder charismatische, philanthropische Einzelkämpfer in einem autoritären System noch dessen typische Vertreter. Auch folgen sie nicht dem »von Hollywood präferier-ten Modell der Heldenreise nach Joseph Campbell«, das »es auch dem ›bösen‹ Lehrer [ermöglicht], ›gut‹ zu werden«. Die beiden Lehrerfiguren sind »gemischte Charaktere«, die nur bedingt zur Identifikation einladen, vielmehr erleben die Zuschauer/innen ihr regelmäßiges Scheitern an den eigenen idealistischen Ansprüchen mit, was nur zum Teil im System und – ähnlich wie bei Henischs Swoboda – ebenso sehr in ihrer eigenen Persönlichkeitsstruktur begründet liegt.

Sowohl Vorauers als auch Kreuzwiesers Beitrag ist geeignet, selbstreflexive Prozesse und Diskussionen unter Lehrer/innen – etwa im Rahmen von schulinternen Fortbildungen oder Supervisionseinheiten – zu initiieren.

In der abschließenden Sektion »Film, Literatur, Schule – inter- und transmedial« erlaubt sich Klaus Maiwald in seiner vergleichenden Analyse der drei Verfilmungen von Erich Kästners Jugendroman Das fliegende Klassenzimmer (1933) einen kritischen Blick auf das Buch, aber auch auf dessen erste Filmadaption von 1954. Diese reproduziert – wiewohl nach Krieg und NS-Zeit entstanden – die ambivalente, autoritativ geprägte Vorbild-Pädagogik der literarischen Vorlage. Im Gegensatz dazu emanzipieren sich die Verfilmungen von 1973 und 2003 vom paternalistischen Erziehungsideal Kästners, das spätestens seit 1945 nicht mehr zeitgemäß erscheint. Besonders die 2003 entstandene filmische Adaption des Stoffes eröffnet durch ihre »Werkuntreue« neue, zeitgemäße Bedeutungsspielräume. Maiwald räumt mit dem immer noch verbreiteten Vorurteil auf, eine Literaturverfilmung sei allenfalls so gut wie ihre Vorlage, meistens jedoch schlechter, und zeigt, dass gerade »Werkuntreue« eine (notwendige) ästhetische Stärke von Literaturverfilmungen sein kann.

Eine Umkehrung der traditionellen Machtkonstellation zwischen Lehrer/in und Schüler/in findet in Juli Zehs Roman Spieltrieb (2004) statt, in dem ein Lehrer von einer Schülerin und einem Schüler gequält und erpresst wird. Juli Zehs Werk weist einen hohen Grad an Aktualität auf, betrachtet man die medial allgegenwärtigen Gewaltexzesse an deutschen und österreichischen Schulen (prominentestes Beispiel: die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln). Katharina Ruck versucht in ihrem stark praxisorientierten Beitrag, Schüler/innen für unterschiedliche Erscheinungsformen von Gewalt – auch im eigenen Alltag – zu sensibilisieren, und fragt – in Form einer eingehenden Figurenanalyse der Täter/innen – nach deren Motiven. Im identitätsorientierten Lernarrangement, das Ruck entwirft, sollen sich die Schüler/innen mit den Einstellungen der beiden gewalttätigen Schüler auseinandersetzen. Dabei wird auch die Verfilmung des Romans einbezogen sowie ein weiterer Spielfilm, Das Ende der Geduld (2014), über die Neuköllner Jugendrichterin Kirsten Heisig, die sich 2010 – tief enttäuscht von Gesellschaft und Rechtsstaat – das Leben nahm.

Den Magazinteil zu diesem Heft leiten Daniel Nix und Carolin Führer ein. Sie befassen sich im »Gedicht im Unterricht« mit Slam Poetry von Lars Ruppel. Im Kommentar betrachtet Heidi Schrodt den derzeitigen Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Schule kritisch. Abgerundet wird das Heft durch Rezensionen von Werner Wintersteiner, Barbara Klema und Ursula Esterl, die aktuelle Neuerscheinungen besprechen.

Für die Mitarbeit an dieser Ausgabe danke ich besonders meiner Studienassistentin Anneliese Gröblacher, die sich um nahezu alle formalen Angelegenheiten und um die Bibliographie, mit vielen weiterführenden Hinweisen zur Primär- und Sekundärliteratur sowie zu passenen Filmen, gekümmert hat.

 

 

 

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MATTHIAS PAULDRACH ist Assistenzprofessor für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Salzburg. Arbeitsschwerpunkt: Paratexte/ Autorschaft im Literatur- und Filmunterricht, Identität in Literatur und Medien, Gegenwartsliteratur. E-Mail: matthias.pauldrach@sbg.ac.at

Kaspar H. Spinner

Die Schriftsteller und der Literaturunterricht – eine Hassliebe?

Worauf bezieht sich die Kritik, die immer wieder von Schriftstellern am Literaturunterricht geäußert wird? Dieser Frage geht der vorliegende Beitrag nach. Dabei wird besonders auch auf neuere Entwicklungen in der Didaktik eingegangen, die sich bei den Aufgabenformaten in Leistungsüberprüfungen, in der Kompetenzorientierung, den Bildungsstandards und der Vermittlung von Strategien zeigen. Auch wenn man der Kritik der Schriftsteller nicht in allen Punkten folgen mag, ist sie – so die These des Beitrags – doch als Anstoß zum Nachdenken über gängige Unterrichtspraxis und über bildungspolitische Entwicklungen wichtig.

Autorinnen und Autoren haben sich immer wieder kritisch, oft sogar polemisch zu der Art und Weise geäußert, wie Literatur in der Schule behandelt wird. Besonders bekannt geworden ist Enzensbergers Bescheidener Vorschlag zum Schutz der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie (1985). Eine jüngere Auseinandersetzung eines Schriftstellers mit Schule und Literatur findet man in Burkhard Spinnens Auswärts lesen. Mit Literatur in die Schule; eine Litanei (2010). Die Welt der Schule ist für Spinnen eine »Auswärts«-Erfahrung, ein unvertrautes Gelände. Seine Erfahrungen mit Lesungen in der Schule und daran anknüpfende Reflexionen, die man in seinem Buch findet, sind zwar keine Deutschunterricht-Schelte, aber einige seiner Überlegungen stellen durchaus eine Herausforderung für Literaturdidaktik und -unterricht dar. Im neunten Kapitel beleuchtet Spinnen kritisch die zunehmende Ausrichtung des Unterrichts an vergleichender Leistungsbewertung, die die Tendenz unter stütze, im Literaturunterricht »alles zu unterlassen, was einer Individualisierung von Unterricht und Lernerfolgen Vorschub leisten könnte« (Spinnen 2010, S. 80). Zur Veranschaulichung berichtet er von einer Deutscharbeit seines Sohnes. Zu interpretieren war die Stelle in Fontanes Irrungen, Wirrungen, in der Botho die Briefe seiner Geliebten verbrennt. Die Schüler haben ihre bewertete Arbeit zusammen mit einem Blatt bekommen, auf dem mögliche Interpretationsaspekte aufgeführt waren und auf dem der Lehrer markiert hatte, welche davon in der Arbeit angesprochen waren. Die Treffer wurden als Punkte addiert. Dieses Vorgehen kommentiert Spinnen mit dem Satz: »Ich würde angesichts dieser Praxis allerdings gerne wie der Lehrer Keating aus dem ›Club der toten Dichter‹ auf ein Pult steigen und diese Literatur-TÜV-Blätter zerreißen.« (Spinnen 2010, S. 81) Eine solche Leistungsfeststellung wird nach Spinnen dem, was der Deutschunterricht vermitteln sollte, nicht gerecht. Er hat sich weitere Schularbeiten zu diesem Thema angesehen und berichtet von einer Arbeit, in der ein Schüler eine einleuchtende Interpretationsidee hatte, wofür er jedoch keinen Punkt bekam, weil sie auf dem Bewertungsblatt nicht vorgesehen war. Wenn die Entfaltung des Textes im Leser mit Hinblick aufs Punktesammeln eingeschränkt werde, verliere – so Spinnens Fazit – »Literatur ihre wesentliche Funktion als Proberaum fürs Selbstdenken« (ebd., S. 82 f.).

Mit den folgenden Ausführungen möchte ich systematischer in sechs Punkten der Frage nachgehen, worin das Spannungsverhältnis zwischen Literatur und Schule besteht, das immer wieder kritische Äußerungen von Autorinnen und Autoren provoziert.

1. Literatur und Leistungsbeurteilung

Burkhard Spinnen sieht die größte Gefahr für einen sinnvollen Literaturunterricht in einer Notengebung, die an Vergleichbarkeit und Objektivität ausgerichtet ist. Den meisten Lehrerinnen und Lehrern ist dieses Problem bewusst und sie sehen sich bei der Bewertung von schriftlichen Interpretationen der Schülerinnen und Schüler immer wieder in schwierigen Entscheidungssituationen. Wie ist eine Arbeit zu bewerten, die einem grundlegenden interpretatorischen Fehlschluss unterliegt, die aber originell und einfallsreich ist und viele interessante Einzelbeobachtungen enthält? Und wie ist es zu bewerten, wenn eine Arbeit viele stilistische Merkmale zusammenstellt, aber keinen Bezug dieser formalen Aspekte zum Inhalt herstellt? Und wie steht es mit subjektiven Assoziationen, mit der Beschreibung von Emotionen und Imaginationen, die der Text beim Leser ausgelöst hat; dürfen sie in einer Interpretation, die benotet werden soll, enthalten sein und in die Benotung positiv einbezogen werden? Die Situation korrigierender Lehrpersonen wird verschärft durch die Tendenzen der Verrechtlichung von Leistungsbeurteilungen, die sich durch häufiger werdende juristische Einsprüche von Schülerinnen und Schülern und Eltern ergeben. Kann man die Fähigkeit, einen literarischen Text zu interpretieren, so feststellen, dass man belegen kann, warum eine Leistung 3- und nicht 2+ ist?

Verstärkt empfinden viele Lehrkräfte die Probleme des Benotens bei produktionsorientierten Aufgaben, also zum Beispiel, wenn ein innerer Monolog einer Figur oder nach dem Muster eines Herbstgedichtes ein Frühlingsgedicht geschrieben wird. Sollen für solche literarischen Textsorten, die die Schülerinnen und Schüler realisieren, detaillierte Kriterienkataloge erstellt werden oder blockt man damit die Kreativität, die bei solchen Aufgaben gefragt ist, ab? Es ist nicht verwunderlich, dass unter dem Druck der Leistungsmessung der Einsatz von produktionsorientierten Aufgaben in den Schulen zurückgeht. So ist das »gestaltende Erschließen von Texten«, das 2002 in die deutschen EPA (Einheitliche Prüfungsanforderungen für die Abiturprüfung) aufgenommen worden war, in den neuen Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife von 2012 als Aufgabenart nicht mehr berücksichtigt. Dabei sprechen sich gerade Schriftstellerinnen und Schriftsteller immer wieder für einen kreativen Umgang mit Literatur aus. Hans Bender hatte 1985 – in der Zeit, als in der Deutschdidaktik der handlungs- und produktionsorientierte Ansatz an Bedeutung gewann – mit folgenden Worten für eine spielerische Beschäftigung mit Literatur in der Schule plädiert:

Unbekümmert plädiere ich für einen freien, spielerischen Umgang mit meinen Geschichten. Ihn sähe ich lieber als die fachlich-didaktische Interpretation, wie die Sekundärliteratur sie vorgibt. Es freut mich, wenn [...] die Schüler […] selber als Erfinder oder Verfasser von Geschichten sich erproben und dabei sich weit entfernen können vom Aufsatz und den mit ihm verbundenen Vorstellungen. (Bender 1985, S. 29)

Heute, in Zeiten von PISA, Vergleichsarbeiten, Zentralabitur und, wie es in Österreich so schön heißt, »Standardisierter kompetenzorientierter Reife- und Diplomprüfung«, haben es Vorstellungen, wie sie Schriftsteller wie Hans Bender äußern, schwer. Die Situation, in der sich die Schülerinnen und Schüler befinden, hat der Autor Franz Hohler einmal sehr pointiert charakterisiert; ihm wurden Unterrichtsanregungen zu einem seiner Texte mit der Bitte um einen Kommentar zugestellt. Ein paar Wörter in den Lehrervorschlägen habe er, so schreibt er in seiner Stellungnahme, »nur mit Schaudern gelesen, vor allem ›Lernzielkontrolle‹. Da glaubt man einfach zu lesen, spontan zu reagieren, nachzudenken, und dann merkt man, daß man sich in einer Lernzielkontrolle befindet …« (Hohler 1987, S. 16).

2. Richtig oder falsch

In den Äußerungen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller zum Literaturunterricht findet man vor allem immer wieder die Kritik an der »richtigen Interpretation«. Geradezu kämpferisch ist der bekannte und viel diskutierte Aufruf von Enzensberger: »Bekämpfen Sie das häßliche Laster der Interpretation! Bekämpfen Sie das noch viel häßlichere Laster der richtigen Interpretation!« (Enzensberger 1985, S. 22) Günter Grass hat sich nicht weniger kritisch geäußert: »Literatur in deutschen Schulen ist […] eigentlich immer ein Alptraum gewesen. […] es herrscht vor die Interpretationssucht. Literarische Texte werden […] an den Schüler herangebracht, […] um ihn auf eine schlüssige Interpretation hinzuführen.« (Grass 1985, S. 150 f.)

Dass die Annahme, es gebe zu einem literarischen Text jeweils eine einzige richtige Interpretation, problematisch ist, gilt heute in der Literaturwissenschaft und -didaktik weithin als Konsens, zumindest in der Theorie. Dazu haben insbesondere die Rezeptionsästhetik und ihre Berücksichtigung in der Literaturdidaktik beigetragen. Durch die zunehmende Rolle, die die Leistungsüberprüfung in der Schule spielt, wird heutzutage allerdings ein Denkmodell befördert, das sich an der Unterscheidung von richtig und falsch ausrichtet und das sich schlecht verträgt mit der Auffassung, dass Mehrdeutigkeit zum Charakter der Literatur gehöre. Besonders deutlich ist das bei Multiple-Choice-Aufgaben, die gerne bei Evaluationsstudien eingesetzt werden und immer häufiger in Unterrichtsmaterialien zu finden sind. Ich veranschauliche das Problem an einem Beispiel aus dem IGLU-Test von 2006, das Astrid Müller zur Untersuchung von Verstehensschwierigkeiten der Kinder herangezogen hat (Müller 2013). Die Aufgabe bezieht sich auf den Text Eine unglaubliche Nacht von Franz Hohler, und zwar auf den folgenden Textabschnitt:

[…] hörte Anna so etwas wie ein leises Zischen. Da sie aber noch halb schlief, achtete sie nicht weiter darauf. Es kam sowieso aus einiger Entfernung. Erst, als sie wieder auf dem Rückweg in ihr Zimmer war, sah sie, woher das Geräusch kam. Unter dem Telefontisch lag ein Stapel alter Zeitungen und Zeitschriften. Und dieser Stapel fing jetzt an, sich zu bewegen. Von dort kam auch das Geräusch. Plötzlich begann der Stapel zu kippen – nach rechts, nach links, nach vorne und nach hinten – und dann lagen überall auf dem Boden Zeitungen und Zeitschriften. Anna wollte ihren Augen nicht trauen, als sie ein grunzendes, schnaufendes Krokodil unter dem Telefontisch hervorkriechen sah.

Anna stand wie angewurzelt da. Mit großen Augen beobachtete sie, wie das Krokodil ganz zwischen den Zeitungen hervorkroch und sich langsam in der Wohnung umsah. Es schien gerade aus dem Wasser gekommen zu sein, denn es war am ganzen Körper tropfnass. Wo immer es hintrat, wurde der Teppich ganz nass. […] Sie krachte die Tür zu und schob ihr Bett vor die Tür. Sie hatte eine Sperre gebaut, die sie vor dem Krokodil schützen würde. Erleichtert atmete sie aus. (BIFIE 2010)

Eine Frage, an der besonders viele Kinder scheiterten, lautete folgendermaßen:

3. Welche Wörter zeigen dir, dass Anna Angst hatte?

A »...stand wie angewurzelt da«

B »...wollte ihren Augen nicht trauen«

C »...atmete sie aus«

D »...wie ein leises Zischen« (Müller 2012, S. 91)

Grundsätzlich zielt diese Testfrage auf einen wichtigen Aspekt des literarischen Verstehens: Es geht um das Gefühl einer Figur, das nicht explizit benannt ist, aber im Sinne einer Inferenzbildung vom Leser erschlossen wird. Als richtige Lösung wird A»…stand wie angewurzelt da« erwartet. In der Untersuchung von Astrid Müller hat ein Kind Antwort B angekreuzt. Wenn man die beiden Formulierungen, »stand wie angewurzelt da« und »wollte ihren Augen nicht trauen« ohne Kontext deutet, wird man die erstere zweifellos eher mit dem Gefühl der Angst verbinden. Im literarischen Textzusammenhang allerdings ist die Entscheidung keineswegs so eindeutig. Beim Lesen schafft man sich eine Vorstellung des Inhalts und ordnet einzelne Aussagen in den Zusammenhang ein. Wenn Anna ihren Augen nicht traut, als sie »ein grunzendes, schnaufendes Krokodil unter dem Telefontisch hervorkriechen sah«, liegt die Annahme nahe, dass sie Angst hat. Seinen Augen nicht trauen wollen kann, aber muss nicht, Ausdruck von Angst sein. Der Kontext legt Letzteres nahe. Insofern ist das Verständnis des befragten Kindes, das B gewählt hat, nicht unberechtigt. Die Testaufgabe ist darüber hinaus noch aus einem weiteren Grund problematisch: Es kann seinen Grund haben, dass Franz Hohler nicht ausdrücklich von Angst spricht; man kann annehmen, dass sich in das Gefühl von Anna auch Neugier mischt, sonst würde sie wohl nicht »mit großen Augen« beobachten, wie das Krokodil hervorkriecht. Mit der Multiple-Choice-Aufgabe wird die Offenheit der literarischen Aussage, die bezogen auf die Gefühle der Protagonistin einen Deutungsspielraum eröffnet, auf Eindeutigkeit reduziert. Man kann sich also fragen, ob eine Aufgabe wie die vorliegende literarisches Verstehen mehr verstellt als befördert. Ihre Funktion als »Proberaum fürs Selbstdenken«, wie Spinnen formuliert, verliert jedenfalls die Literatur, wenn sich im Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler die Annahme festsetzt, dass ihr mit richtig/falsch-Entscheidungen zu begegnen sei.

Wie Multiple-Choice-Fragen die Gefahr einer Trivialisierung des Textsinns mit sich bringen können, zeigt auch das folgende Beispiel. Im Handbuch zur Standardüberprüfung in Deutsch, 8. Jahrgangsstufe des österreichischen Bundesinstitutes BIFIE findet sich die folgende Beispielaufgabe zum Standard »Schüler/innen können Eigenschaften, Verhaltensweisen und Handlungsmotive von Figuren in altersgemäßen literarischen Texten reflektieren«:

Lies folgenden Text.

Der Axtdieb

Ein Mann hatte seine Axt verloren und vermutete, dass der Sohn des Nachbarn sie ihm gestohlen hätte. Daher beobachtete er ihn ganz genau: Sein Gang, sein Blick waren ganz die eines Axtdiebs. Alles, was er tat, sah nach einem Axtdieb aus.

Einige Zeit später fand der Mann zufällig die Axt unter seinem eigenen Bretterhaufen. Als er daraufhin den Nachbarssohn wieder sah, waren sein Gang und sein Blick nicht mehr die eines Axtdiebs.

aus dem Chinesischen

Welche Aussage passt zu diesem Text?

Kreuze an. illustration

illustration im Zweifelsfall für den Angeklagten

illustration den wahren Wert erkennen

illustration kein voreiliges Urteil fällen

illustration Ordnung ist das halbe Leben (BIFIE 2015, S. 20)

Erwartet wird, dass »kein voreiliges Urteil fällen« angekreuzt wird. Dies ist eine einfache Lehre, die dem Text entnommen werden soll. Die Aufgabe unterstützt so bei den Schülerinnen und Schülern die durch die Schule sehr oft vermittelte Vorstellung, dass man einen literarischen Text verstanden habe, wenn man die Lehre erkannt hat. Der vorgelegte Text erschöpft sich jedoch keineswegs in dieser Lehre; er ist tiefgründiger. Er zeigt an einem Beispiel, wie die Meinung über eine Person die Wahrnehmung steuert. Der Mann, der den Nachbarn verdächtigt, hat noch nicht einmal ein »voreiliges Urteil« gefällt, wie die Test-Aufgabe unterstellt; er hat nur eine Vermutung, und diese reicht schon aus, dass seine Wahrnehmung entsprechend ausfällt. Nur die Lehre, man solle kein voreiliges Urteil fällen, zu beherzigen genügt – wenn man den Text ernst nimmt – nicht, um ein Fehlurteil zu vermeiden. Der Text ist komplexer (und interessanter), als die Aufgabe vorgibt.

3. Kompetenzorientierung

Die Diskussion um Leistungsmessung ist eng verknüpft mit der Orientierung an Kompetenzen. PISA 2000 hat den Kompetenzbegriff zum pädagogischen Leitbegriff des neuen Jahrhunderts gemacht. Seine Anwendung im Literaturunterricht verspricht eine klarere Strukturierung von Lernprozessen, aber sie bringt auch die Gefahr mit sich, dass das ästhetische Erleben von Literatur in den Hintergrund tritt, weil es sich dem Kompetenzbegriff entzieht. Damit droht eine wichtige Zielsetzung traditionellen Literaturunterrichts verloren zu gehen. Das sei anhand von zwei konkurrierenden Interpretationsbegriffen, die im Unterricht eine Rolle spielen, gezeigt, dem wertschätzenden Interpretieren und dem Interpretieren als methodisch angeleiteter Deutung von Texten. Mit dem wertschätzenden Interpretieren will man einen Zugang zu Texten schaffen, der eine ästhetische Erfahrung ermöglicht. Das ist traditionell vielen Lehrpersonen ein Anliegen. Man will zum Beispiel den Schülerinnen und Schülern Gedichte unterschiedlicher Art nahebringen oder ihnen einen so sperrigen Text wie Michael Kohlhaas von Kleist in seinem Inhalt und auch in seiner sprachlichen Form zum Erlebnis werden lassen. Ziel ist dabei nicht in erster Linie eine anzueignende Kompetenz, sondern die Wertschätzung eines literarischen Werkes dadurch, dass eine ästhetische Erfahrung stattfindet. Im kompetenzorientierten Unterricht rückt diese Zielsetzung in den Hintergrund, weil ästhetisches Erleben und literarische Erfahrung in ihrer Verbindung von Genuss und Irritation nur schwer als Kompetenz beschreibbar sind. Der andere Haupttyp ist die Interpretation als methodisch angeleitete Deutung von Texten; dazu werden Analyse- und Interpretationsmethoden vermittelt. Ein solcher Interpretationsunterricht lässt sich besser mit dem Prinzip der Kompetenzorientierung vereinbaren: Die Schülerinnen und Schüler sollen sich Interpretationsmethoden aneignen, die sie bei beliebigen literarischen Texten anwenden können. Gewiss gibt es Verbindungen zwischen einem auf literarische Erfahrung und einem auf Interpretationskompetenz ausgerichteten Unterricht und man könnte einen Unterricht, der beidem gerecht wird, durchaus als idealen Unterricht bezeichnen. Die neueren Entwicklungen im Bildungswesen unterstützen allerdings deutlich und einseitig die Kompetenzorientierung.

4. Standardisierung

Mit der Kompetenzorientierung ist die Erstellung von verbindlichen Bildungsstandards verbunden. Für basale Fähigkeiten wie Informationsentnahme aus Texten machen die Bildungsstandards der verschiedenen Staaten praktikable Vorgaben; bezogen auf die Beschäftigung mit Literatur ist eine gewisse Hilflosigkeit unübersehbar. In den österreichischen Bildungsstandards für die achte Jahrgangsstufe werden zu »Eine textbezogene Interpretation entwickeln« zum Beispiel drei Standards genannt:

–   Schüler/innen können Informationen aus unterschiedlichen Texten und Medien vergleichen

–   Schüler/innen können durch das Herstellen von Bezügen zwischen Textstellen die Bedeutung von Wörtern und Phrasen aus dem Kontext ableiten

–   Schüler/innen können zwischen Information, Unterhaltung und Wertung in Printtexten und anderen Medien unterscheiden (BIFIE 2015, S. 17)

Das sind sinnvolle Kompetenzen für den Umgang mit Texten verschiedener Art; mit dem, was literarische Erfahrung ausmacht und was Autorinnen und Autoren für wichtig erachten, hat es kaum etwas zu tun. Hier passt Spinnens kritische Aussage: »Wo auf Norm gesetzt wird, wird nur das Normale erreicht werden.« (Spinnen 2010, S. 85) Gewiss muss Schule »das Normale« vermitteln; im Literaturunterricht geht es jedoch um mehr, um die Eröffnung eines Spielraums, der über das Normale hinausreicht.

In einem weiteren Standard für die achte Jahrgangsstufe ist das literarische Verstehen etwas deutlicher berücksichtigt; allerdings ist auffällig, dass es um eine rein kognitive Kompetenz geht, wie das Verb »reflektieren« zeigt:

Den Inhalt des Textes reflektieren

Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können

–   Intentionen und vermutliche Wirkungen von Texten und Medienangeboten reflektieren

–   Eigenschaften, Verhaltensweisen und Handlungsmotive von Figuren in altersgemäßen literarischen Texten reflektieren. (BIFIE 2015, S. 17)