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Evelina Jecker Lambreva

Nicht mehr

Roman

EVELINA JECKER LAMBREVA

NICHT MEHR

Roman

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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1. Auflage 2016

Lektorat: Julia Hinske

ISBN e-book: 978-3-99200-167-5

Inhalt

TEIL 1

Gertrud

Kilian

Linus

Jasmin

Wutbürger

Mutter in Krise

Nicole

Flashback

Nichts wie weg!

Der Liebesroboter

Die Fernsehsendung

London

Der Buchungsfehler

Villa Primula

Krankenbesuch

TEIL 2

Auszeiten

Einer dieser Tage …

Abschied von der Niere

Entscheidungen

Mit dem Klang von Münzen

Bad News

Der Tag danach

Freunde

Die Kuschelnanny

Widerspruchsleben

NACHWORT

DANKSAGUNG

TEIL1

Gertrud

Ist heute Dienstag? Mittwoch? Oder ist schon Donnerstag?

Auch in dieser Nacht war sie um halb drei wach geworden. Und obwohl ihr müder Körper nach Schlaf schrie, drehte sie sich vergebens im Bett herum, sie konnte doch nicht wieder einschlafen. In ihrem Kopf kreiste ein merkwürdiges Gedankenkarussell, das sie nicht stoppen oder wenigstens für einen Moment anhalten konnte. Wie sollte es weitergehen? Oder war das das Leben gewesen? Und falls ja, wozu das alles, wozu soll es gut gewesen sein? Was hatte das Leben noch für einen Sinn, wenn nichts mehr folgen sollte? Und was sollte denn noch kommen.

Ich bitte Sie, wie Sie aussehen! Wie sollte ich Sie je einstellen?, wiederholten sich unermüdlich die demütigenden Worte des Arbeitgebers in ihrem Kopf. Gertrud hatte sich um eine Stelle als Kleiderverkäuferin beworben und war vor einigen Tagen zu einem Vorstellungsgespräch erschienen, und dann durfte sie sich so etwas anhören.

Ich war nie ein Modell und jetzt bin ich auch keine zwanzig mehr, also habe ich gar keine Chancen auf eine Anstellung, sinnierte Gertrud in der Dunkelheit. Was tun, wenn man keine Aufgabe mehr hat, auch niemals wieder eine bekommen wird? Wohin mit sich selbst? Was ist der Weg? Gibt es überhaupt einen?

Gertrud fühlte sich, als würde sie vor einer hohen, dicken Betonmauer stehen, durch die es kein Weiterkommen gab. Ihre Gedanken prallten gegen die Mauer und zerschellten wie Vögel an Fensterscheiben. Ihr kam der Rabe in den Sinn, mit den glänzenden Federn aus schwarzem Samt, der vorgestern über ihren Kopf hinweggeflogen war, während sie auf dem Balkon die Blumentöpfe versorgte. Gertrud erinnerte sich an das selbstbewusste Flattern seiner Flügel, die einer Schere gleich an ihren Ohren vorbeisausten und die Luft zerschnitten, als sei diese ein Stück alten Stoffs. Sie folgte in Gedanken dem kräftigen Flügelschlag – bis der Rabe in seinem Wahnsinnsflug mit dem Kopf gegen die Glasfront der Nachbarwohnung knallte und tot auf den Bürgersteig fiel.

Gertrud stieg langsam aus dem Bett und schlurfte mit nackten Füßen zum Bad. Die Wanduhr im Wohnzimmer zählte mit unerbittlicher Gleichgültigkeit die Sekunden, die sich zwischen den Pendeln wie Schleimpfropfen im Hals eines Sterbenden zusammenballten.

Sie machte im Badezimmer Licht und betrachtete sich im Spiegel. Etwas war anders. Etwas hatte sich geändert seit gestern, als sie um die gleiche Zeit aufgewacht und ins Bad gegangen war. Es schien ihr, als sei sie nicht mehr sie selbst. Aus dem Spiegel blickte ihr eine verwüstete, farblose, gequälte Person entgegen, mit hängenden Hautfalten und tränenden Augen. Sie glich eher einer Karikatur oder einer schlecht zusammengebastelten Vogelscheuche als einem lebendigen Menschen.

Ich bitte Sie, wie Sie aussehen! Wie sollte ich Sie je einstellen?, ertönten die hämischen Worte des Kleiderladenbesitzers wieder in ihrem Kopf. In Ihrem Alter dürfte es schwierig, sogar sehr schwierig sein, eine Stelle zu bekommen. Haben Sie keine Enkel oder wenigstens einen Hund, um den Sie sich kümmern könnten? Gertruds Blick glitt nach oben, an der Wand über dem Spiegel entlang. In der Ecke döste eine Spinne in ihrem frisch gesponnenen Netz. Gertrud mochte gar nicht daran denken, wie lange sie in ihrer Wohnung schon keine Spinnennetze und Staub mehr weggewedelt hatte. Seit Langem hatte sie morgens das Gefühl, dass eine heimtückische Macht in ihrem Innern Tausende unsichtbarer Handbremsen anzog, sodass sie kaum in der Lage war, den Tag zu beginnen, wie es sich gehörte. Gertrud begann sich deswegen zu hassen. Diese unheimliche Übermacht brach morgens einfach ihren Willen, trotz erschöpfender Anstrengung schaffte sie es nicht, die inneren Handbremsen zu lösen.

Gertrud kehrte mit einem Seufzer zurück ins Schlafzimmer. Die Vorstellung, dass es in ein paar Stunden Tag werden würde, erfüllte sie mit neuer Angst, die sich wie heißes Öl hinter das Brustbein ergoss und ihr den Magen umdrehte. Was erwartete sie an diesem neuen Tag? Würde sie alle Herausforderungen bewältigen? Und was, wenn nicht? Wieder dachte sie an den Raben, seinen prächtigen Flügelschlag, der einer schwarzen Schere gleich die Luft spaltete, um kurz darauf für immer aufzuhören zu schlagen. Der Rabe musste auf keinen neuen Tag mehr warten. Ob es ihm jetzt besser ging als ihr?

Gertrud fühlte sich verantwortlich für den Tod des Raben. Vielleicht hätte sie den faszinierenden Vogel retten können, wenn sie nur früher den Nachbarn auf die Notwendigkeit eines Vogelschutzes an der Glasfront aufmerksam gemacht hätte? Mit einem Vogelschutz versehen, hätte der Rabe die Glaswand erkannt und wäre nicht in voller Geschwindigkeit gegen sie geprallt. Warum hatte sie das nicht früher angesprochen? Die Nachbarn neben ihr waren nette Leute, sie hätten sicher auf sie gehört. Jetzt war ihre Fahrlässigkeit schuld am Tod des armen freiheitsliebenden Vogels, der in seinem berauschenden Flug ganz sich selbst vergessen hatte.

Gertrud knipste die Nachttischlampe an und griff zum Buch mit den Tiererzählungen. Sie hatte es sich vor Kurzem gekauft in der Hoffnung, beim Lesen eindösen zu können. Wenn es ihr gelänge, bis fünf Uhr zu schlafen, was wäre das für ein Luxus. Aber der Schlaf kam und kam nicht, und Gertrud las zum wiederholten Mal die ersten Passagen der Erzählung „Krambambuli“. Trotzdem blieb ihr nichts vom Gelesenen im Kopf. In Gertruds Kopf konnte nichts mehr hinein, da er von einem einzigen Gedanken ausgefüllt und besetzt war: Was erwartet mich morgen? Wie überlebe ich den schrecklichen Tag, wenn ich so gar nicht weiß, was ich mit ihm anfangen soll?

Irgendwann schlummerte sie dann doch ein. Als sie die Augen öffnete und auf die Uhr schaute, zeigte diese vier Uhr an. Es war sinnlos, erneut Schlaf zu suchen. Gertrud stand auf und ging in die Küche, um sich einen Tee zu machen. Sie öffnete den Küchenschrank, in dem ganz oben ein Dutzend Teeschachteln standen. Und nun, noch vor der Morgendämmerung, setzten die furchtbaren Qualen ein: Welchen Tee sollte sie auswählen? Minze? Hagebutten? Zitronenmelisse? Kamille? Lindenblüten? Kräutermischung? Jasmintee? Brennnessel? Grüntee? Schwarztee? … Oder doch lieber die Kräutermischung? Minze? Zitronenmelisse? Lindenblüten? Zitronenmelisse? … Oder nein: Kamille? Hagebutten? Jasmintee? Grüntee? Kamille? Schwarztee? … Ach, vielleicht doch Hagebuttentee, Zitronenmelisse, Kamillentee, Lindenblütentee, Brennnesseltee, Kräutermischung, Grüntee, Schwarztee oder Jasmintee? … Nein, doch eher Hagebuttentee, Zitronenmelisse, Kamillentee, Lindenblütentee, Brennnesseltee, Kräutermischung, Grüntee, Schwarztee … oder doch Jasmintee? …

Genug! Tot in einem lebenden Körper gefangen zu sein, das war das unerträglichste aller Gefühle. Ihre Tage hatten sich in eine Reihe zahlloser kleiner Sterbevorgänge, unendlich vieler kleiner Tode verwandelt, ihr Dasein verkam zu einem scheinbaren Sein, in dem das unaufhörliche Ableben seinen seltsamen Triumph feierte. Die Zeit war zu Gertruds größtem Feind geworden. Wie ein Gespenst schien sie sich über sie zu legen, als wollte sie Gertruds Gestalt mit ihrer unsichtbaren Leibesfülle erdrücken und nicht mehr von ihr lassen. Es war Gertrud eine Gewohnheit geworden und spendete ihr in der Vergangenheit Trost, mit den Zimmerpflanzen zu sprechen, doch nun schwiegen auch sie. Das „Seelenweh“ hatte sich wie ein schwerer Mühlenstein auf ihre Brust gelegt und ließ sie kaum frei atmen.

In dieser Untätigkeit, in dieser Starre verstaubte zunehmend die Vitrine, in der die Sammlung von Ziertellern ihrer Mutter aufgestellt war. Gertrud wollte sich nicht mehr um die Märchenteller kümmern. Ein Leben lang hatte ihre Mutter Zierteller mit Märchenmotiven gesammelt. Diese Märchenwelt begleitete Gertrud seit ihrer Kindheit, doch nun blickte sie auf die Teller und spürte nicht mehr als Leere und Kälte. Und in Gertrud entbrannte ein schreckliches Schuldgefühl, dass sie so lieblos und gefühlskalt geworden war. Tag für Tag füllte sich immer mehr mit unheimlicher Leere, mit der Luft atmete sie Dunkelheit, die immer tiefer in sie eindrang. Das Dunkel saugte ihr die Kräfte aus, versteinerte ihre Gedanken, fesselte sie über Stunden ans Bett oder hielt sie im Lehnstuhl gefangen. Gertrud begann das Licht zu hassen, auch das Wasser, die Nahrung. Sie wusch sich nicht, sie ging nicht mehr einkaufen, leerte ihren Briefkasten nicht und hörte auf, sich dafür zu interessieren, ob draußen Tag war oder Nacht. Die Pflanzen fristeten schweigend ihr Dasein in verdorrter Erde. Nur ab und zu durchbrach das Geräusch eines verwelkt abfallenden Blattes die Stille.

Ich fühle mich wie eine Untote, ich bin Abfall. Ekliger Abfall, gestraft mit der Fähigkeit zu denken! Wo gibt’s denn so was?, sinnierte Gertrud vor sich hin. Abfall fängt früher oder später an zu stinken und die Umgebung zu belästigen, dachte sie und glaubte inzwischen, dass der Gestank der Verwesung von ihr ausging. Niemand kommt und sorgt dafür, dass ich dorthin gebracht werde, wo Abfall hingehört, auf die Müllkippe. Ich muss den Behörden diese Arbeit ersparen und es selbst tun, bevor sie unweigerlich eines Tages hier aufkreuzen, meines unzumutbaren Gestanks wegen …

Sie hatte endgültig genug von ihrem Elend. Sie schritt zum Fenster und schob den Vorhang einen Spaltbreit zur Seite. Draußen herrschte Dunkelheit. Die Straßenlampe verbreitete ein milchiges Licht, das blass durch den Herbstnebel schimmerte. In der festen Absicht, die Welt von der Last eines weiteren Abfalls zu befreien, sammelte Gertrud Schönmeier ihre ganze restliche Kraft, ging zum Korridor, zog sich ihren alten Regenmantel über und schlüpfte in die Schuhe. Sie verschloss die Wohnungstür und legte den Hausschlüssel in den Briefkasten. Dann machte sie sich wankend auf dem Weg zu den Müllcontainern. Auf der Straße stieg ihr ein fremder, unvertrauter Geruch in die Nase. Alles schien wie in weite Ferne entrückt und kam ihr seltsam unwirklich vor. Die matschigen Herbstblätter auf dem Bürgersteig – hässliche Flecken, die nur die saubere, geordnete Welt verschmutzten. Genau wie sie selbst. Gertrud überquerte den kleinen, menschenleeren Park mit dem Kinderspielplatz und blickte sich um. Niemand war in Sichtweite.

Zum Glück waren die Müllcontainer von kleinen Eschen umschlossen, die immerhin so hoch waren, dass Gertrud ihr Vorhaben unbeobachtet ausführen können würde. Sie ging auf den hintersten Container zu, blickte kurz empor zur alten Linde, die ihr halb belaubtes Geäst über die Mülltonnen erstreckte, und stieß einen tiefen Seufzer aus.

Ja, sie würde jetzt tun, was man mit einem Stück Abfall tun musste. Vorsichtig hob sie den Containerdeckel an, schob die säuberlich zugebundenen Abfallsäcke ein wenig zur Seite, um sich Platz zwischen ihnen zu verschaffen. Dann zog sie eine herumliegende Plastikkiste heran, kletterte darauf und schlüpfte langsam, aber ohne einen Augenblick zu zögern, in die Mülltonne. Mit ihr war der Container übervoll und der Deckel ließ sich nicht mehr ganz schließen.

„So“, sagte Gertrud halblaut zu sich, „jetzt braucht es nur noch ein wenig Geduld. Gleich dämmert es. Dann wird die Müllabfuhr kommen und mich zur Müllhalde abtransportieren.“ Sie schloss die Augen, kreuzte die Hände übereinander und begann zu warten. Eine wohltuende Ruhe machte sich in ihr breit. Endlich musste sie nichts mehr. Bald würde sie für immer erlöst sein von der unzumutbaren Last ihrer grausamen Tage und der höllischen Qualen ihrer gespenstischen Nächte. Der Gedanke an die Müllhalde und ihren baldigen Abtransport dorthin war so entspannend, dass sie, vom inneren Frieden vollkommen erfüllt, den säuerlichen Gestank um sich herum bald nicht mehr wahrnahm und eindöste.

Vor Gertruds Augen wurde es auf einmal grünlich braun. Wie aus einer stickigen Giftwolke heraus, schlüpften verschiedene Bilder und reihten sich in einem wabernden Reigen entlang der Containerwände auf. Ihr Vater, der ein gutmütiger Mann gewesen war, starrte sie stumm und streng aus dem Rahmen der offenen Eingangstür ihres Landhauses an, in der einen Hand die Aktenmappe, in der anderen Regenmantel und Schirm. Links von ihm sah Gertrud ihre Mutter, die einen leeren Korb trug. Auf der Treppe zum oberen Stock saß Onkel Alfred mit einem gespenstischen Lächeln und entlockte seiner Zither schneidende, verurteilende Klänge. Alle drei erwarteten zusammen mit Gertrud die Ankunft des Müllwagens. Sie alle warteten auf die Erlösung.

Alfred hatte Gertrud nie gemocht. In ihrer Erinnerung war er noch immer sehr präsent, das Bild von ihm verfolgte sie. Dieser Besserwisser, der die Mutter und sie unter dem schweigenden Blick von Großvater und Vater herumkommandierte, sich bei Tisch mit der größten Selbstverständlichkeit bedienen ließ, sein Essen laut in sich hineinschlürfte und nie satt zu kriegen war, dieses Scheusal von Mann war für Gertrud derart abschreckend, dass sie sich eines Tages bei ihrer Mutter erkundigt hatte, ob denn alle Männer so seien wie er. „Männer schweigen entweder wie Großvater und Vater oder befehligen wie Alfred“, so die Antwort ihrer Mutter. Die Mehrheit sei allerdings wie Alfred, hatte sie kopfschüttelnd hinzugefügt.

Später erkannte Gertrud in ihren wenigen Männerbekanntschaften immer wieder Alfred.

Während der kaufmännischen Lehre hatte sie sich in ihren Kollegen Karl verliebt, einen groß gewachsenen Lehrling aus dem Bündnerland, der immer ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen trug. Die fröhlichen dunklen Augen und sein frech geschwungener Schopf täuschten darüber hinweg, dass er ein ausgeprägter Paragrafenreiter war. Bald merkte Gertrud, dass Karl zwar nicht viel redete, aber immer das letzte Wort haben musste. Er delegierte mit größter Selbstverständlichkeit Arbeit an sie ab, sagte nie ein Dankeschön und machte sich über sie lustig, wenn ihr Fehler passierten. Bei einem Kinobesuch hatte er Gertrud offenbart, dass er wie Alfred Zither spielte. Da war der Ofen aus.

Nach Karl hatte sie an ihrer ersten Arbeitsstelle bei der städtischen Verwaltung, die Gertrud unmittelbar nach der Lehre antrat, Hansruedi kennengelernt. Ein Buchhalter wie sie. Sobald er lachte, entblößte er große Pferdezähne, die Gertrud so stark an Alfred erinnerten, dass sie beim gemeinsamen Mittagessen in der Kantine zunehmend schwieg, um Hansruedi ja keinen Anlass zum Lachen zu geben. Damit war es allerdings nicht getan, denn während sie aßen, musste Gertrud zuschauen, wie ungebändigt Hansruedi seine Mahlzeit hinunterschlang und wie er am Schluss, nachdem er sich laut die Nase geschnäuzt hatte, immer wieder zu sagen pflegte, dass solch mickrige Portionen wohl bei Frauen, nicht aber bei den Männern den Hunger stillen konnten. Gertrud, die den netten Hansruedi nicht einfach abweisen und verletzen wollte, fühlte sich nach ein paar gemeinsamen Nächten von seiner Nähe zunehmend bedrängt. Als er ihr eines Tages einen Heiratsantrag machte, ergriff sie die Flucht, kündigte ihre Anstellung und wechselte zu Ottilia Krassmann, einem Geschäft für Damenschuhe und Accessoires im Herzen von Zürich.

Was wohl aus Karl und Hansruedi geworden war? Gertrud rückte sich in ihrem Container in eine bequemere Position. Bestimmt hatten beide Frauen, Kinder und vielleicht sogar schon Enkel. Vermutlich genossen sie den verdienten Ruhestand in der Geborgenheit ihrer Familien. Gertrud schluckte trocken. Männer hatten ihr nie etwas bedeutet, wieso dachte sie jetzt plötzlich an Karl und Hansruedi?

Sie hatte nicht geheiratet. Nach dem Tod des Vaters vor einigen Jahren lebte sie weiter in der überschaubaren elterlichen Wohnung, zusammen mit ihrer fünfundachtzigjährigen Mutter und ihrem fünfzehnjährigen Kater Lucien. Nun war auch ihre Mutter im vergangenen Frühling verstorben. Kurz darauf wurde der Kater von einem Auto überfahren, als er, dement und halb erblindet, nach draußen auf die Straße gerannt war. Und da ein Unglück bekanntlich selten allein kommt, stürzte Gertrud ein paar Tage später im Bad so ungeschickt, dass sie sich ein Bein brach. Tapfer biss sie die Zähne zusammen, bewegte sich an Krückstöcken fort, klagte jedoch nicht und ging weiter zur Arbeit. So war sie von ihrer Mutter erzogen worden: stoisch jedes Leid ertragen.

Als die neue Chefin ihr eines Tages die Kündigung überreichte, hatte Gertrud nur die Lippen aufeinandergepresst und zügig ihre Sachen gepackt, um den Platz im Gemeinschaftsbüro, in dem sie mit zwei weiteren Buchhalterinnen fünfundzwanzig Jahre lang gearbeitet hatte, zu räumen.

„Ich wünsche euch alles Gute!“, verabschiedete sich Gertrud.

„Mach’s gut!“ Die Kolleginnen unterbrachen kurz die Arbeit, umarmten Gertrud förmlich, blickten stirnrunzelnd auf die Uhr und setzten sich wieder vor die PCs.

Unvermittelt war mit dieser Kündigung etwas in Gertrud Schönmeiers Leben getreten, von dem sie nicht einmal geahnt hatte, dass es das gab: das Phänomen, viel Zeit zu haben! Sie wusste nicht, was damit anfangen. Einfach spazieren zu gehen oder Stunden mit der Tageszeitung in einem Café zu verplempern, hieß doch nichts anderes, als dem Herrgott den Tag zu rauben. Und den ganzen Tag vor dem Fernseher zu hocken oder am Computer auf Pflanzen- und Tierseiten herumzusurfen, empfand sie geradezu als Verbrechen. Sie hatte kein Problem damit, kein eigenes Geld zu verdienen, das nicht. Gertrud verfügte über genug Erspartes, um ihr bescheidenes Leben die paar Jahre bis zur Pensionierung weiterführen zu können.

Sie hatte sich kurz entschlossen im Altersheim vorgestellt und angeboten, Betagte auf Spaziergängen zu begleiten. Unentgeltlich. Nach einigen Probespaziergängen mit Altersheimbewohnern beschied man ihr, sie sei dafür nicht belastbar genug, sie ermüde zu schnell.

Sie hatte sich auf Zeitungsinserate, in denen Katzenbesitzer eine Ferienbetreuung für ihre Lieblinge suchten, gemeldet. Sobald die Leute im Vorstellungsgespräch hörten, dass Frau Schönmeier ihren Katzenpflegedienst gratis anbot, musterten sie sie voller Misstrauen und beeilten sich, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Einmal, als sie im Treppenhaus in der Tasche nach ihrem Schirm suchte, vernahm sie gedämpft durch die bereits geschlossene Tür: „Wie könnten wir so ein komisches Weib in unsere Wohnung lassen?! Da ist etwas faul: Sie sieht aus wie eine laufende Altkleidersammlung, angeblich will sie aber kein Geld für ihre Arbeit nehmen. Vielleicht gehört sie zu einer Diebesbande und nimmt unter dem Vorwand, Katzen hüten zu wollen, fremde Wohnungen genauer unter die Lupe?“

Gertrud bewegte sich zwischen den Abfallsäcken. Sie schnappte durch den halb offen stehenden Containerdeckel kurz nach Luft. Ihr rechtes Bein war am Einschlafen und sie versuchte sich auf die linke Seite zu drehen. Wie spät mochte es sein? Wie lange musste sie noch warten, bis sie endlich entsorgt wurde? Sie schloss die Augen und versuchte, an ihre Wohnung und ihre Pflanzen zu denken, aber der Gedanke an beides ließ sie kalt. Die Welt und ihr Zuhause erschienen ihr als verlorene Heimat, aus der sie verstoßen worden war.

Plötzlich raschelte es unmittelbar neben ihrem Kopf. Sie spürte auf der Wange etwas Feuchtes, das sie anschnüffelte und ihr mit spitzen Haaren in die Nase stach. Dann drehte sich das Wesen blitzschnell um und ein großer, pelziger Schweif strich ihr über den Mund.

„Was war das denn?“ Erschrocken richtete sich Gertrud, soweit es ging, auf. Durch den Spalt erblickte sie im Licht der Straßenbeleuchtung ein Tier mit schmaler Schnauze, spitzen Ohren und langem, buschigem Schwanz, das lautlos auf dem Deckel des Nachbarcontainers hockte.

„Ein Stadtfuchs vielleicht“, sagte Gertrud zu sich. „Das arme Tier, wie muss ich es erschreckt haben, wenn es unversehens die Flucht ergreift, sobald es mich gerochen hat. Tja, jedes Lebewesen rennt sofort vor mir davon …“

Gertrud döste wieder ein. Bilder von ihren Eltern und ihrem Kater Lucien im Jenseits tauchten auf. Sie versuchte sich die Welt vorzustellen, in welche die drei hinübergegangen sein mochten, um glücklich zusammen weiterzuleben. Gertrud war überzeugt, auch in deren neuen Welt würde es keinen Platz für Abfall wie sie geben. Deshalb wagte sie gar nicht darauf zu hoffen, ihren drei Liebsten je wieder zu begegnen, geschweige denn, eines Tages wieder mit ihnen vereint zu sein.

Aus der Richtung des Parks erklangen auf einmal Geräusche. Sie kamen näher. Gertrud schreckte auf. War der Wagen der Müllabfuhr schon da, hatte sie sein Eintreffen nicht bemerkt? Gertrud lauschte. Kein Motorengeräusch kam ihr zu Ohren, keine Männerstimmen, kein Lärm. Dann aber vernahm Gertrud dicht vor ihrem Container ein leises Herumtapsen und etwas, das wie Miauen klang, nur viel schwächer.

Was besucht mich denn jetzt für ein Tierchen?, wunderte sie sich. Ist es diesmal ein Waschbär? Jemand hob den Deckel der Mülltonne an, und in Gertruds Schoß purzelte ein kleines Paket. Gertrud konnte weder etwas sehen noch begriff sie, was los war. Nach wenigen Sekunden begann sich das Paket auf ihrem Schoß zu regen, wand sich hin und her und stieß wieder dieses miauende Winseln aus, das Gertrud kurz zuvor draußen gehört hatte. Vorsichtig tasteten sich ihre Hände an das Paket in ihrem Schoß heran.

„Um Gottes willen, das ist ja ein Mensch! Ein Baby!“, stieß sie entsetzt hervor. Sie hatte ein kleines Gesicht und winzige Händchen ertastet, die zarten, eiskalten Finger gespreizt wie feine Fühler.

„Ein Neugeborenes als Abfall! Wo gibt’s denn so was?“, murmelte sie und ergriff instinktiv die kleinen Händchen, um sie zu wärmen. „Kaum richtig auf der Welt und schon ein Stück Abfall wie ich? Nein, das geht nicht! Ein Mensch wird niemals als Abfall geboren und darf nicht kurz nach seiner Geburt auf dem Müll landen! Später, wenn er sich selbst dafür entscheidet, dann ja.“ Gertrud drückte den winzigen Körper an sich und schloss ihn in die Arme.

Als sei sie plötzlich aus ihrer Erstarrung erwacht, hob sie den Deckel des Containers an und kletterte mit letzter Kraft hinaus, das kleine Paket fest in den Armen. Ihr schwindelte, ihre Knie wurden weich. Die Umgebung begann sich wild im Kreis zu drehen und Gertrud sank neben dem Container zu Boden.

Als sie die Augen öffnete, hatte ein Herr sich über sie gebeugt und tätschelte ihre Wange: „Hallo, hören Sie mich? Können Sie mich verstehen?“

„Mein Gott, das ist doch nicht etwa die Madonna mit dem Kind?“, bekreuzigte sich eine ältere Frau neben ihm wiederholt mit der einen Hand, während sie mit der anderen zitternd nach ihrem Handy suchte. Gertruds Nachbar Linus Kaufmann, der gerade mit einem vollen Abfallsack in der Hand das Haus verließ und zur Arbeit eilen wollte, starrte die Menschenmenge vor dem Müllcontainer an.

„Kennt jemand diese Frau?“ Der Mann, der die Wange von Gertrud Schönmeier tätschelte, hielt kurz inne und schaute sich um.

„Ja, ich kenne sie. Sie ist meine Nachbarin. Was ist denn los mit ihr?“ Der Nachbar trat heran. „Hat jemand den Krankenwagen gerufen?“

„Ja! Ist schon unterwegs“, antwortete die Frau mit dem Handy.

Als Gertrud die ihr bekannte Männerstimme hörte, versuchte sie aufzustehen.

„Herr Kaufmann, bitte kümmern Sie sich um das Kind!“, sagte sie. In diesem Moment fuhr die Ambulanz mit Blaulicht auf die Menschenmenge zu.

„Ich komme Sie im Krankenhaus besuchen … und machen Sie sich keine Sorgen wegen des Kindes, es wird in Sicherheit gebracht“, sagte ihr Nachbar und berührte tröstend Gertruds Hand. Als die Sanitäter sie auf der Trage in den Krankenwagen schoben, winkte Gertrud allen zum Abschied und rief ihnen mit schwacher Stimme zu: „Danke, dass ihr euch um das Kleine sorgt!“

„Wie die Madonna mit dem Kind“, wiederholte die Frau mit dem Handy fasziniert. „Was für eine Fügung! Darüber muss ich heute Abend in der Bibelgruppe erzählen.“

Kilian

Die Villa Primula lag terrassenförmig in einen Hang gebettet, der sanft zum See abfiel. Die Sonne zeigte sich schon geraume Zeit über den verschneiten Alpenspitzen und streute ihre Strahlen in kupferfarbenen Schattierungen über den See, der reglos und verschlafen im frostigen Morgen dalag. Koketten Damen gleich betrachteten sich am gegenüberliegenden Ufer die Bergspitzen und Wälder im spiegelglatten Gewässer.

Kilian Steinberger parkte sein Auto vor der Villa und betrat mit zwei Koffern ein großräumiges Foyer, in dessen linker Ecke ein gemütliches Kaminfeuer knisterte. Vom einen Ende der breiten Glasfront bis zum anderen bot sich ein wunderbarer freier Blick auf die glitzernde Weite des Sees. Links und rechts der Villa breiteten sich verschneite Tannenwälder aus, zu denen schmale, weiße Kieswege führten. Die Umgebung sah vielversprechend für Entdeckungen aus. Kilian stellte sich bei der Rezeption vor. Einer der beiden Hausleiter empfing ihn, und nachdem die Anmeldeformalitäten erledigt waren, begleitete er den neuen Gast zu seinem Zimmer. Der Mann schaute auf die Uhr.

„Es ist jetzt Viertel nach elf. Das Mittagessen findet um zwölf Uhr im Speisesaal Waldvogel statt. Sie sind für heute schon vorgemerkt und werden von den anderen Gästen erwartet. Richten Sie sich in Ruhe ein und kommen Sie dann zum Essen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt bei uns!“

Kilian packte seine Koffer aus. Das also würde für die nächsten Wochen sein Zuhause sein. Er stellte den alten mechanischen Wecker auf den Nachttisch. Für alle Fälle hatte er ihn mitgebracht. Dann trat er auf den Balkon hinaus. Über den Bergen hatten sich dicke Wolken aufgetürmt. Die Sonnenstrahlen glichen schmächtigen silbernen Fingern, die mühsam versuchten, den Wolkenvorhang auseinanderzuziehen. Der See hatte eine bleigraue Farbe angenommen.

Es wird wohl Schnee geben, dachte Kilian und schloss die Balkontür.

Im Vorraum des Speisesaals erwartete ihn ein kleiner Begrüßungsdrink. Anwesend waren auch die anderen Gäste, vier an der Zahl, und die beiden Hausleiter. Kilian zuckte leicht zusammen, als er unter den Anwesenden Hans Kräutermann erkannte.

Was will denn der hier?, fuhr es Kilian durch den Kopf. Kräutermann war Teamleiter für Firmen im Private Banking der Großbank Vision. Die Vision war in letzter Zeit massiv in die Schlagzeilen geraten. Kilian kannte Kräutermann nur flüchtig von internationalen Meetings, und Kräutermann tat seinerseits anfänglich so, als sähe er Kilian Steinberger zum ersten Mal. Der lärmende Strom von Münzen in Kilians Kopf schwoll an zu einem tosenden Orkan.

„Zum Wohl und herzlich willkommen bei uns!“ Der eine Hausleiter erhob sein Glas mit Veuve Clicquot zum Anstoßen. Kilian bedankte sich für den aufmerksamen Empfang, prostete jedem Einzelnen zu und stellte sich vor. Das Klirren in seinen Ohren war so laut, dass es ihn immer größere Anstrengungen kostete, zu verstehen, was mit ihm gesprochen wurde. Die anderen zwei Mitbewohner nebst Kräutermann und die einzige Mitbewohnerin schienen angenehme Leute zu sein. Einer von ihnen, klein von Wuchs, um die sechzig, mit Brille und gutherzigem Blick, war Markus Christen. Er sprach mit sanfter Stimme, und Kilian musste sich ständig zu ihm hinüberbeugen, um ihn verstehen zu können. Markus Christen war Arzt. Der zweite Mitbewohner war etwas über fünfzig, schlank, hatte eine sehr helle, mit Sommersprossen übersäte Haut und einen rotblonden, sorgfältig nach links gewundenen Haarschopf. Er stellte sich als Rudolf Bockler, Gymnasiallehrer, vor. Die einzige Frau in der Runde war Sonja Weitdorf. Sie war mittelgroß, mit kurz geschnittenem rotem Haar und trug eine schwarz geränderte Brille, hinter der ein Paar freundlicher, lebhafter dunkler Augen hervorblickte. Sie war Managerin bei einem Pharmaziekonzern. Und schließlich Kräutermann … War der schon immer so groß gewesen? Seine tiefe Stimme schien Kilian vertraut, wohingegen er die fleischige Nase und das leicht gewellte graue Haar zum ersten Mal aus der Nähe betrachten konnte. Kräutermann trommelte unaufhörlich mit den Fingern auf etwas herum und pfiff leise vor sich hin.

„Hallo! Ist es möglich, dass wir uns schon mal begegnet sind, oder liege ich da falsch?“ Kräutermann nutzte die Gelegenheit, anzustoßen, um Kilian von oben bis unten mit herablassendem Blick zu mustern.

„Ja, gut möglich“, antwortete Kilian unverbindlich und ging alsbald wieder auf Distanz zu Kräutermann.

In der Nacht brach ein heftiger Sturm los. Mit gewaltigem Getöse donnerte der Wind entlang der Bergflanken zu Tal, heulte auf wie ein wildes Tier und schmiss mit pulsierender Wucht Eiskörner gegen die Fensterscheiben. Kilian lag wach und starrte ins Dunkel, ein Ohr gegen den alten Wecker gepresst. Seine Gedanken kreisten unablässig um das letzte Gespräch mit seinem Chef.

„Und weshalb musst du für volle sechs Wochen dorthin gehen, Kilian?”, hatte ihn der Direktor der Alta Prima verwundert gefragt.

„Ich leide unter einem furchtbaren Geräusch in den Ohren! Ich kann nicht schlafen, kann mich nicht konzentrieren …“

„Ach komm, übertreib doch nicht! Wegen ein bisschen Ohrensausen! Meine Ohren sausen seit Jahren, aber ich achte einfach nicht drauf. Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, Kilian, müsste ich annehmen, dass du simulierst.“

„Dann ist es ja gut, dass du mich kennst, Philipp!“

„Es wäre ganz im Sinne der Alta Prima, wenn du deine Abwesenheit auf vier Wochen beschränken könntest. Du weißt, dass wir gerade jetzt eigentlich nicht auf unsere besten Mitarbeiter verzichten können. Die Klienten ziehen massenhaft ihre Gelder ab und bringen sie zur lokalen Konkurrenz. Bis jetzt beläuft sich unser Verlust aus der Kundenabwanderung auf etwa zehn Milliarden Euro!“

„Ich weiß, Philipp, diese Dinge gehen mir auch nicht aus dem Kopf“, hatte Kilian geantwortet.

„Dann erhol dich bitte rasch und komm wieder zur Arbeit. Vergiss ja nicht, deinen Laptop und das Black-Berry mitzunehmen. Und wir würden es sehr begrüßen, dich in der Morgensitzung per Telefonkonferenz dabeizuhaben!“

„Das wird leider nicht möglich sein, da in der Villa Primula keine geschäftlichen Kommunikationsmittel zugelassen sind.“

„Wie bist du denn dann für uns erreichbar?“

„Ich habe die Möglichkeit, einmal täglich für eine Stunde die E-Mails zu checken. In dringlichen Fällen bin ich über die Telefonzentrale der Villa zu erreichen.“

„Das ist aber gar nicht gut“, hatte der Direktor knapp bemerkt und die Stirn gerunzelt.

Kilian konnte nicht schlafen. Das gespenstische Klirren der Münzen vermischte sich in seinem Kopf mit der Stimme Philipp Widrichs und dem Heulen des Windes. Ihn bewegte ein Gefühl von Weltuntergang und Ausgeliefertsein, ihn packte die blanke Angst. Seine Brust schien wie in einen Schraubstock geklemmt, sein Herz drohte jeden Moment zu bersten. Kilian kam es vor, als versinke er wie eine leblose Puppe in den Abgründen unbekannter Dimensionen. So muss es sich anfühlen, wenn man stirbt, dachte er und wagte nicht, sich zu bewegen.

Die Melodie seines elektronischen Weckers schreckte ihn auf. Kilian sprang aus dem Bett. Ich bin also noch am Leben. So leicht stirbt man nicht! Kaum zu glauben, ich habe sogar ein wenig geschlafen! In diesem Moment öffnete die unsichtbare Hand wieder den Geldbeutel und kippte massenweise rasselnde Münzen in Kilians Kopf und durch seine Ohren. Er seufzte auf.

Unwillig machte sich Kilian für den Tag zurecht und ging in den Runden Saal zum Frühstück. Der Runde Saal war ein gemütlicher, eigentlich ovaler Raum und befand sich im rechten Flügel der Villa. Ein heimeliger Kachelofen verbreitete wohlige Wärme und einen diskreten Duft nach Holzfeuer. Gleich daneben posierte majestätisch eine antike Standuhr. Zwei schwere Metallzapfen hielten das mechanische Uhrwerk in Gang, dessen rhythmisches Ticken laut vernehmlich durch den Saal hallte. Das gefiel Kilian. Sein Blick wanderte ziellos zum Fenster hinaus, über die dunklen Gewässer des Sees, während er versuchte, einen Bissen Brot mit Konfitüre hinunterzuwürgen. War denn das alles wirklich passiert? Bilder aus den vergangenen Wochen drängten sich auf und zwangen ihn, die schwere Zeit im Geiste noch einmal zu durchleben.

Reglos saß er an diesem besonderen Tag in seinem Büro vor dem Computer, die Augen unverwandt auf den Bildschirm gerichtet. Draußen peitschte der Wind die Regentropfen in heftigen Stößen gegen die Scheibe. Ungläubig starrte er die Zahlen auf dem Monitor an und schüttelte fassungslos den Kopf. Seine Finger spielten nervös mit dem Kugelschreiber. Seit gut zehn Jahren arbeitete Kilian nun bei der Alta Prima, als Teamleiter im Private Banking. Doch was er jetzt sah, hätte er sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können. Massenhaft zogen Kunden ihre Gelder ab, seit die Bank unter dem Verdacht stand, Devisenbetrug zu betreiben, und in die Negativschlagzeilen geraten war.

Am frühen Nachmittag stürmte die Sekretärin außer Atem ins Büro: „Krisensitzung! Alle Teamleiter zum Chef! In zehn Minuten oben im Sitzungszimmer vier!“

Kilian brachte hastig etwas Ordnung in den Papierwust auf seinem Pult und eilte ins obere Stockwerk. Dieses Mal erschienen alle pünktlich auf die Minute. Der Direktor der Alta Prima kam ohne Umschweife zur Sache: „Okay, let’s start! Es kommen schwierige Zeiten auf unsere Bank zu. Der Schaden ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar …“ Der Direktor holte Atem. „Was bedeutet dies konkret? Wir werden wichtige und einflussreiche Kunden verlieren und sind zu Sofortmaßnahmen gezwungen. Ich erwarte von Ihnen ungeachtet der schlechten Aussichten absolutes Commitment!“

Die nächsten Wochen erwiesen sich selbst für einen so tatkräftigen und flexiblen Menschen wie Kilian als gewaltige Herausforderung. Er stand morgens um halb fünf auf, da die tägliche Morgensitzung mit dem Direktor und den übrigen Teamleitern krisenbedingt bereits auf sechs Uhr angesetzt war. Nach dem Meeting trank er, meist im Stehen, schnell seinen Kaffee und machte sich ohne Verzug auf zum Flughafen. Er flog fast täglich in verschiedenste europäische Städte und kehrte abends wieder zurück. Überall besuchte er Privatkunden, setzte alles daran, sie von den Vorteilen zu überzeugen, trotz der aktuellen Schwierigkeiten bei der Alta Prima zu bleiben. Obendrein versuchte er die Kunden zu überreden, seiner Bank sogar noch weitere Vermögenswerte, weitere Assets zu transferieren. Auch die wenigen Tage, an denen er nicht reiste, kam er frühestens um acht Uhr abends heim, schlang hastig einen Bissen hinunter und setzte seine Arbeit fort. Sein BlackBerry versorgte ihn Tag und Nacht im Halbstundentakt mit den weltweiten Börseninformationen. Nur Zwangspausen, wenn er zum Beispiel mit seinem Auto im Stau steckte, verbrachte er nicht mit zielgerichteter Arbeit. In diesen Momenten lehnte er sich für ein paar Minuten im beigen Ledersessel seines Lexus zurück, schob eine CD in den Schlitz der Mini-High-End-Anlage und lauschte einigen Takten Klaviermusik von Chopin.

„Du scheinst mir in letzter Zeit sehr übermüdet, Kil“, sagte seine Frau Nicole immer wieder mit Besorgnis, wenn sie ihn spätabends vor dem Fernseher oder am Computer eingeschlafen vorfand und ihn weckte, damit er zu Bett gehen konnte.

„Es wird nicht ewig so weitergehen. Aber im Moment muss ich tatsächlich mehr ran.“ So antwortete Kilian dann schlaftrunken und schleppte sich mit Mühe ins Schlafzimmer. Kaum im Bett, kehrte er seiner Frau schnell den Rücken zu.

Eines Nachts schreckte Kilian plötzlich auf. Er hörte ein seltsames, durchdringendes Geräusch. Im ersten Moment wusste er nicht, ob er träumte. Ihm war, als hätte jemand einen ledernen Geldbeutel aufgeschlitzt und würde nun Hunderte, ja Tausende Geldmünzen in seinen Kopf streuen. Mit unablässigem metallischem Klimpern schienen sie in seinem Hirn