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Informationen zur deutschdidaktik
Zeitschrift für den Deutschunterricht
in Wissenschaft und Schule

Sachtexte Prozesse und Produkte

Herausgegeben von
Jürgen Struger und Elfriede Witschel

Heft 2-2016
40. Jahrgang

StudienVerlag Innsbruck

 

 

Editorial

JÜRGEN STRIJGER, ELFRIEDE WITSCHEL:
Editorial

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Magazin

Kommentar

Das Themenprogramm »Schreiben, Lesen, Literatur«.
Ein Nachruf

Aktuelles

Friedrich-Preis für Deutschdidaktik

ide empfiehlt

ANDREAS HUDELIST:
J. Aistleiner, L. Lorenz, T. Wallenberger (2015): Grenzüberschreitungen

Neu im Regal

 

Prozesse

KLAUS MAIWALD: Von Menschen und Meisen.
Umgang mit Sachtexten am Beispiel eines Zeitungsartikels

KARLA MÜLLER: Aus WAS IST WAS-Büchern vorlesen.
Eine Herausforderung für Leseverstehen, Sprechgestaltung und Hörverstehen von Sachtexten

ANNEMARIE SAXALBER: Sprache und Kommunikation in den Sachfächern.
Ein interdisziplinäres Thema in der LehrerInnenausbildung

CHRISTIAN ASPALTER: Sachtexte im Internet.
Eine vielschichtige Chance/Herausforderung für den (Deutsch-)Unterricht

GERDA KYSELA-SCHIEMER: Sachcomics.
Bildung, Wissen und Information durch Bilder

MADELEINE STRAUSS: Der Sachtext im fächerübergreifenden Unterricht.
Eine verkannte Textsorte

Produkte

JOSEF HASLINGER: Der Essay als Medium von Lernprozessen

ULRIKE KRIEG-HOLZ: Zur Beschreibung von Sachtexten.
Eine Annäherung aus textlinguistischer Sicht

MELANIE HENDLER: Sachtexte zusammenfassen.
Theoretische Überlegungen zu einem schulischen Förderprogramm

ELFRIEDE WITSCHEL: Lesen und Schreiben:
vom Sachtext zum offenen Brief.
Die Arbeit mit einem Aufgabenarrangement in der Sekundarstufe II

Bibliographie

ELISABETH LEISS: Sachtexte im Deutschunterricht.
Bibliographische Hinweise

 

 

 

Das Thema »Sachtexte« in anderen ide-Heften

ide 2/2014

Projekt und Deutschunterricht

ide 4/2013

Textkompetenz

ide 1/2013

Literale Praxis

ide 1/2012

Reifeprüfung Deutsch

ide 4/2010

Schreiben in der Sekundarstufe II

ide 2/2009

Internet

 

Das nächste ide-Heft

ide 3-2016

Sehnsuchtsort Mittelalter

 

erscheint im September 2016

 

Vorschau

ide 4-2016

New Literacies im Deutschunterricht

ide 1-2017

Flucht und Ankommen

 

 

 

 

 

www.uni-klu.ac.at/ide

 

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Editorial

Sachtexte als Thema des Deutschunterrichts stellen in mehrfacher Hinsicht didaktische Herausforderungen dar. Sie sind Lerngegenstand und Medium des Lernens. Dieses Heft fokus-siert auf die Sekundarstufen I und II und verbindet zwei Perspektiven, die Prozess- und die Produktdimension. Sachtexte spielen naturgemäß in den Sachfächern, aber zunehmend auch im Deutschunterricht eine wichtige Rolle. Zusätzlich und quer zu den genannten Prozess- und Produktaspekten sind die fächerübergreifenden Aspekte zu berücksichtigen, unter denen Sachtexte didaktisch genutzt werden können. Dieses Heft schlägt einen Bogen von theoretischen und fachdidaktischen Konzepten zu Möglichkeiten der Umsetzung in der Unterrichtspraxis mit Ziel einer Vertiefung und Erweiterung des Verständnisses von Sachtexten als komplexe und vielfältige Lerngelegenheiten.

Prozesse: Sachtextkompetenz als Strategiewissen

Kompetenzen im Umgang mit Sachtexten – gemeint sind nicht-literarische Texte unterschiedlicher Modi (z. B. Texte oder Kombinationen von Text, Bild und Grafik) – umfassen rezeptive Fähigkeiten und Strategien der Textproduktion. Zum einen bedarf es der Vermittlung von Lesestrategien und Strategien der kognitiven Verarbeitung und Sicherung von Inhalten: Um nachhaltige Effekte zu erzielen, braucht es methodische Zugänge, in denen SchülerInnen Routinen der Erfassung von Sachtexten erwerben können, wobei sprachliche Aspekte (Textsorten, Stilistik, Sprachregister, Fachvokabular) ebenso von Bedeutung sind wie inhaltliche (Arbeit an Textverständnis z. B. als Herstellen eines mentalen Konzepts der dargestellten Inhalte).

Schreibstrategien umfassen alle Phasen der Textproduktion von der Materialsammlung über die Formulierung von Textzielen bis hin zur eigentlichen Textproduktion und letztlich Überarbeitung. Die Vermittlung dieser Strategien bedarf einer didaktischen Gestaltung von Lernsituationen, in denen Prozesse der Er-, Ver- und Bearbeitung von Sachtexten erworben werden können, wobei unterschiedliche Methoden (z. B. Formen des kooperativen Schreibens) und Medien zum Einsatz kommen können.

Im Basisartikel stellt Klaus Maiwald zunächst Überlegungen zum Textverstehen – auch in der didaktischen Vorbereitung der konkreten Unterrichtsarbeit – an. Er beschreibt didaktisch-methodische Aktivitäten, die vor, während und nach dem Leseprozess das »Textverstehen als mentale Modellbildung« zum Ziel haben. Dabei wird deutlich, dass ein vielfältiges Textspektrum sowie das Schreiben zu Sachtexten das didaktische Aufgabenfeld des Deutschunterrichts erheblich erweitern.

Ein Unterrichtsmodell, bei dem Kinder als VorleserInnen von Sachtexten fungieren, präsentiert Karla Müller. Voraussetzung für einen ausdrucks-starken Vortrag ist eine intensive Beschäftigung mit dem Text. Von den Vorlesenden vorbereitete Fragen zum Verständnis des Textes schließlich binden auch die Zuhörenden in den Verste-hensprozess ein.

Annemarie Saxalber weitet den Blick und geht in ihrem Beitrag über den Deutschunterricht hinaus. Sie bezieht die LehrerInnen anderer Fächer in ihre Überlegungen zum »didaktischen Tun« mit Sachtexten ein und fokussiert mit dieser »interdisziplinären Anstrengung« einen sprachsensiblen Fachunterricht. Als Konsequenz fordert sie für die Fort- und Ausbildung von LehrerInnen eine »interdisziplinäre und interinstitutionelle Verschränkung«, in der der Bereich »Sprache und Kommunikation in den Sachfächern« einen zentralen Stellenwert erhalten muss.

Christian Aspalter geht in seinem Beitrag (»Sachtexte im Unterricht«) der Frage nach, inwiefern Sachtexte – angesichts ihrer neuen Formen und Multimodalität – den Deutsch-Unterricht vor neue Herausforderungen stellen. Er räumt dabei journalistischen Texten und Zeitungen eine wesentliche »Brückenfunktion« ein, damit die SchülerInnen Textkompetenz sowohl rezeptiv als auch produktiv erreichen.

Nicht neu, aber dennoch ungewohnt – gerade im Kontext Schule – ist das Genre »Sachcomics«, mit dem sich Gerda Kysela-Schiemer auseinandersetzt. Die Entwicklung von Sachcomics nachzeichnend und ihre Vor- und Nachteile abwägend kommt sie zum Schluss, dass seriöse Inhalte durchaus leichter zugänglich gemacht werden und die Arbeit mit Sachcomics daher eine Bereicherung für die Bildungslandschaft darstellt.

Auch die Praktikerin Madeleine Strauss bricht eine Lanze für den Einsatz von Sachtexten im Deutschunterricht. Sie zeigt Möglichkeiten auf, wie SchülerInnen, »ausgehend von der Alltagssprache zu einer ihnen eigenen Bildungs- und Fachsprache finden können«. Dabei will auch sie die Grenzen des Faches gesprengt wissen, sodass SchülerInnen »Strategien zum Textverständnis in allen Fächern« trainieren.

Produkte

Speziell vor den Anforderungen wis-senschaftspropädeutischen Schreibens in der Sekundarstufe II bekommt das Wissen um die Merkmale und Charak-teristika von Sachtexten einen erhöhten Stellenwert. Annäherungen an das Thema werden aus mehreren Blickwinkeln präsentiert, wobei ein erweiterter Sachtextbegriff zugrunde gelegt wird. Gelesene und geschriebene Texte können im Unterrichtskontext generell als Sachtexte verstanden werden, wenn man davon ausgeht, dass alle hier relevanten Texte die Funktion haben, Inhalte darzustellen und zu kommunizieren. So gesehen können schulische Textsorten wie die Textinterpretation ebenso wie Berichte, Zusammenfassungen oder Protokolle als Sachtexte verstanden werden. In einer Erweiterung des Sachtextbegriffes müssen auch mediale Kontexte (interaktive und Online-Medien, audio-visuelle Medien) berücksichtigt werden, in denen Sachtexte als Lerngegenstände bearbeitet werden können. Sachtexte sind zudem in ihrer potentiellen Multimodalität (Kombinationen von Text, Bild, Tabellen etc.) zu verstehen und in den damit erweiterten didaktischen Möglichkeiten zu diskutieren. Unter dieser Annahme des generellen Sachbezugs von Textarbeit im (Deutsch-) Unterricht werden im zweiten Teil des Heftes Charakteristika von Sachtexten diskutiert.

Im Essay »Der Essay als Medium von Lernprozessen« verwickelt Josef Haslinger, ein Könner dieses Genres, die Leserinnen in einen Dialog darüber, was denn die Qualität von Essays ausmacht. Er exemplifiziert anhand des eigenen Textes, dass es eines Autors bedarf, der subjektiv, »auf der Grundlage eigener Erfahrungen und Interessen sowie der Lektüre von Büchern, Zeitschriften und Websites« versucht, sich »eine Meinung zu bilden« in einer Sprache, die »intellektuell und diskursiv«, aber nicht notwendigerweise »hochgestochen« sein muss, damit das Gegenüber erreicht wird.

Einen völlig anderen Zugang zu Produkten wählt Ulrike Krieg-Holz. Aus textlinguistischer Sicht definiert sie zunächst den Begriff »Textsorte« und beschreibt »relevante Aspekte für die Systematisierung von Sachtextsorten«, bevor sie die in der schriftlichen Reife-und Diplomprüfung Deutsch zum Einsatz kommenden Textsorten auf Basis des Textsortenkatalogs des BIFIE mit kritischem Blick auf eine detaillierte Systematik textlinguistischer Parameter analysiert.

Mit der Textsorte Zusammenfassung beschäftigt sich Melanie Hendler. Sie stellt theoretische Überlegungen dazu an, welche »sprachlich-kognitiven Operationen« etwa den Handlungsphasen Rezeption und Reproduktion beim Zusammenfassen inhärent sind. Dabei plädiert sie für die Implementation eines kognitionslinguistisch orientierten Förderprogramms, das SchülerInnen beim Verfassen von Zusammenfassungen sowie »expositorischen Textformen« insgesamt unterstützt.

Auch im Beitrag von Elfriede Wit-schel wird ein Produkt, der offene Brief, thematisiert. Allerdings liegt der Schwerpunkt des vorgestellten Aufgabenarrangements für die Sekundarstufe II deutlich auf den rezeptiven und produktiven Prozessen, die zwischen der Konfrontation mit einem fremden Sachtext und dem endgültigen Produkt stattfinden.

Die Bibliographie wurde von Elisabeth Leiss gestaltet und verzeichnet neben Überblicksliteratur zum Thema Sachtexte auch Literatur zu Lesemotivation und -strategien sowie zur Schreibkompetenz.

Der Magazinteil dieses Heftes beginnt mit einem »Nachruf« auf das IMST-Themenprogramm »Lesen, Schreiben, Literatur«. Wir gratulieren außerdem Helmuth Feilke zur Verleihung des Friedrich-Preises. Am Ende des Heftes finden sich Rezensionen von Andreas Hudelist, Stephanie Sihler und Katharina Perschak.

Abbildungen und Materialien, die im Heft keinen Platz mehr gefunden haben, finden Sie auf unserer Webseite: www.uni-klu.ac.at/ide

 

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JÜRGEN STRUGER ist Assistenzprofessor am Institut für Deutschdidaktik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt im Bereich Sprachdidaktik. E-Mail: juergen.struger@aau.at

ELFRIEDE WITSCHEL ist Mitarbeiterin am Institut für Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Pädagogik der Sekundarstufe der Pädagogischen Hochschule Kärnten, Viktor-Frankl-Hochschu-le. E-Mail: elfriede.witschel@ph-kaernten.ac.at

Klaus Maiwald

Von Menschen und Meisen

Umgang mit Sachtexten am Beispiel eines Zeitungsartikels

Ausgehend von einer Prüfungsaufgabe in der LehrerInnenausbildung zu einem Zeitungstext wird gezeigt, dass (deutsch-)unterrichtliche Arbeit mit Sachtexten zuvorderst auf Textverstehen zielen sollte und ein differenziertes Leseverständnis der Lehrperson voraussetzt. Am Textbeispiel werden eine Sachanalyse und Überlegungen zum Textverstehen entwickelt. Allgemeine Überlegungen zur Unterstützung des Textverstehens und zur Textwahl münden in didaktischmethodische Aktivitäten, die Textverstehen als mentale Modellbildung anzielen und größere thematische und integrative Lernzusammenhänge konturieren. Im vielfältigen Textspektrum und im Schreiben zu/von Sachtexten zeigen sich Erweiterungen des (lese-)didaktischen Aufgabenfeldes. Zum Abschluss werden die fachspezifischen Aufgaben des Deutschunterrichts im Umgang mit Sachtexten bilanziert.

Ausgangspunkt und Anliegen

Vor mir liegen Examensarbeiten zum Thema Sach- und Gebrauchstexte lesen, verstehen und beurteilen [als] Aufgabenbereich des Deutschunterrichts. Das Textbeispiel ist ein Artikel aus einer bayerisch-schwäbischen Regionalzeitung (vom 5. 12. 2014, S. 1; siehe Abb. 1). Die Aufgabenstellung verlangt, a) unter Bezug auf den Text zu definieren, was Sach- und Gebrauchstexte sind, b) ein didaktisch-methodisches Konzept für den Umgang mit dem Text im Deutschunterricht zu entwerfen und c) kurz die Eignung des Textes für den Deutschunterricht zu bewerten.

Schwächere Bearbeitungen leiden zumeist an einer mangelhaften sachanalytischen Texterfassung und in der Folge an einer unzureichenden (deutsch-)didaktischen Fokussierung auf das Lesen, Verstehen und Beurteilen des Textes. So können die BearbeiterInnen zwar einschlägige Funktionen von Sachtexten benennen, schreiben diesem Beispiel aber fälschlich eine Appellfunktion zu. Sie empfehlen Lesestrategien wie das Unterstreichen oder das Einfügen von Zwischenüberschriften, ohne selbst nennenswerte oder irgendwelche Spuren im Text hinterlassen zu haben. Sie schlagen textferne bis abwegige Aktivitäten vor – vom Umschreiben des Textes aus Meisensicht über das Malen von Meisenbildern bis hin zum fächerübergreifenden Bau eines Futterkastens.

 

Abb. 1:

Zeitungstext Traditionsliebende Meisen – aufbereitet und original (Schuster 2014)

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Gegen derlei sachanalytische und didaktische Textferne stelle ich die wenig originelle, offenbar aber nicht selbstverständliche Annahme, dass (deutsch-)unterrichtliche Arbeit mit Sachtexten primär auf Textverstehen als mentale Modellbildung zu zielen hat und dass dies wiederum ein differenziertes Leseverständnis der Lehrperson voraussetzt.

1. Unterrichtsvorbereitende Schritte

1.1 Sachanalyse

Die folgende Analyse orientiert sich an textlinguistischen Kriterien wie Textthema, thematische Entfaltung, Textfunktionen, sprachliche Gestaltung (Lexik, Syntax) und Layout. Die strukturellen Befunde werden jeweils auf den situativen Kontext und die kommunikative Funktion des Zeitungsartikels bezogen.

Das Thema als Kern des Textinhaltes (vgl. Brinker/Cölfen/Papert 2014, S. 53) ist eine von Wissenschaftlern der Universität Oxford in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichte Studie über Kohlmeisen. Die Forscher fanden heraus, dass die Tiere erlernte Verhaltensweisen an Artgenossen weitergeben. Damit sei der Nachweis erbracht, dass »neben Primaten auch Wildtiere kulturell geprägt seien« (Z. 10 f.) bzw. »komplexes Kulturverhalten« zeigen (Z. 23 f.).

Auffällig ist, dass die thematische Struktur des Textes nicht der sachlogischen Struktur entspricht. Zum einen beginnt der Text mit zwei für den eigentlichen Inhalt irrelevanten Teilthemen: einer Anspielung auf die Redewendung »eine Meise haben« sowie einem Hinweis auf die Präsenz der Vögel im heimischen Garten »besonders jetzt im Winter« (Z. 1 ff.). Zum anderen entspricht die Anordnung des Textes nicht der Abfolge des Berichteten: In Absatz 2 wird bereits das wesentliche Ergebnis der Studie bzw. ihre Publikation in Nature berichtet; in Absatz 3 setzt dagegen eine durch das Plusquamperfekt markierte Rückblende auf die vorangehende Durchführung an: »Für ihre Forschung hatten die Biologen [...] Bereits nach wenigen Wochen hatten sich [...].« (Z. 13 ff., 19 f.) Auch erscheint der Kernbefund der Studie an vier verschiedenen Stellen des Textes:

   Unterüberschrift: »Die Wildvögel [Meisen] geben Verhaltensweisen an Artgenossen weiter«

   »sind die Wildvögel nämlich weit intelligenter als bislang vermutet« (Z. 4 f.)

   »dass [...] auch Wildtiere kulturell geprägt seien [...]« (Z. 10 f.)

   »dass komplexes Kulturverhalten unter wesentlich mehr Tiergruppen verbreitet ist als angenommen« (Z. 23 f.)

Funktional erklärbar wären diese Struktureigenschaften mit dem Bestreben eines Zeitungstextes, für eilige oder wenig ausdauernde LeserInnen das Wesentliche zu Beginn abzuhandeln bzw. für ein (Laien-)Publikum verständniserleichternde Redundanzen zu schaffen. Gleichzeitig ermöglicht das für journalistische Texte charakteristische Baukasten-Prinzip einfache und rasche Textkürzungen. (Im Extremfall könnte man nicht nur den dritten und vierten, sondern auch den einleitenden Absatz weglassen.)

Die Entfaltung des Themas ist insofern deskriptiv, als der Forschungsvorgang beschrieben und dabei durch Temporalangaben präzisiert wird: »Nach viertägigem Training [...] nach wenigen Wochen [...] Auch ein Jahr später« (Z. 15, 19, 21). In der Bewertung als intelligentes Kulturverhalten steckt wiederum eine argumentative Themenentfaltung, bei der aus Daten mit Hilfe einer Schlussregel eine Folgerung gezogen wird:

Abb. 2:

Argumentative Themenentfaltung

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Neben der deskriptiven und der argumentativen tritt in Sachtexten die explikative Themenentfaltung auf, bei der Zusammenhänge erklärt werden (z. B.: Warum stranden Wale? vgl. Maiwald 2013b, S. 717 ff.). Der vorliegende Text enthält keine explikativen Anteile, spielt aber die für Sachtexte eher unübliche narrative Themenentfaltung an. Erzählen ist die Vergegenwärtigung eines vergangenen Geschehens, bei dem ein Ausgangszustand durch eine interessante Komplikation gestört wird. Der Text deutet so etwas an: »Wer die Vögel des Öfteren zu Besuch hat, kann womöglich schon bald Erstaunliches beobachten« (Z. 2 f.), er führt damit jedoch doppelt in die Irre: Erstens folgt keine Erzählung, zweitens kann im heimischen Garten das von den Forschern Herausgefundene sicher nicht beobachtet werden.1

Nach einem grundlegenden Definitionskriterium und in Abgrenzung zu literarischen/poetischen Texten referieren Sachtexte auf Gegenstände bzw. Themen aus der sozialen Wirklichkeit: die Aufbauanleitung für ein Regal, die Internetseite der Bahn AG, Das Kapital von Karl Marx oder Die Traumdeutung von Sigmund Freud.2 Entsprechend dieser Referenz auf die Wirklichkeit weisen Sachtexte einschlägige Textfunktionen auf, nach denen sie auch klassifizierbar sind. Sie informieren (z. B. Wegbeschreibung, Zeitungsmeldung), sie instruieren (Gebrauchsanweisung), sie appellieren (Aufrufe, Bettelbriefe), sie verpflichten zu etwas (Verträge), sie bewirken (Zeugnis, Testament, Vollmacht) (vgl. Baurmann 2009, S. 44 ff. bzw. die »textuellen Grundfunktionen« nach Brinker/Cölfen/Papert 2014, S. 101 ff.). Eher untypisch für Sachtexte sind unterhaltende, emotionale, expressive, ästhetische Funktionen, wie sie Romanen, Tagebüchern oder Gedichten zukommen.

Der vorliegende Text ist eindeutig informierender Natur, nirgendwo gibt er eine Anweisung oder spricht er einen Appell aus. Die einleitende Anspielung auf die Redewendung eine Meise haben und der Hinweis auf baldige erstaunliche Beobachtungen im Garten setzen jedoch durchaus Unterhaltungs- bzw. Spannungsakzente. Diese sind für das Thema und die Informationsfunktion irrelevant, machen den Text für die (Laien-)Leserschaft einer Tageszeitung aber ansprechender.

Mit einer Haupt- und einer Unterüberschrift, der Angabe eines Ortes und der Autorin sowie mit dem Spalten-Layout weist der Text typische formale Merkmale eines Zeitungstextes auf. Etwas verblüffend ist die Platzierung auf der Titelseite, normalerweise findet sich derlei in Rubriken wie Vermischtes oder Aus aller Welt.

Typisch für einen (populär-)wissenschaftlichen Text weist »Traditionsliebende Meisen« ein domänenspezifisches Fachvokabular auf, etwa »Artgenossen«, »Primaten«, »Kohlmeisenpopulationen der Art Parus major«, »komplexes Kulturverhalten« (Z. 8, 10, 13 f., 23 f.). Wenig passend hierzu und wohl ebenso als Leseanreiz erscheint in der Hauptüberschrift das Attribut »traditionsliebend«. Wenn Tiere konditioniertes Verhalten zum Öffnen einer Futterbox weitergeben, so ist das noch keine Tradition und keine Liebe. »Traditionsliebend« ist jedoch anschaulicher und – auf Meisen bezogen – provokanter als etwa »kulturell geprägt«. Wiederum typisch für (populär-)wissenschaftliches Schreiben werden referierte Aussagen durch den Konjunktiv I als solche markiert (Z. 10, 23) bzw. modalisiert: »Wie [...] Forscher jetzt herausgefunden haben wollen« (Z. 3 f.).

Texte lassen sich prototypisch definieren als »begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert« (Brinker/Cölfen/Papert 2014, S. 17). Kohärenz als konzeptioneller Zusammenhang eines Textes entsteht einmal durch »Einheitlichkeit des Textgegenstandes« (ebd., S. 45) und durch stringente Entfaltung eines Textthemas. Sie entsteht aber auch grammatisch durch Wiederaufnahme bestimmter Elemente (Rekurrenz) und durch Verknüpfung (Konnexion) (vgl. Adamzik 2004, S. 140). Der vorliegende Text ist stark von expliziten Wiederaufnahmen geprägt, die das Verständnis erleichtern können. So werden die im Titel genannten traditionsliebenden Meisen mehrfach aufgenommen, als »die Vögel«, »die Wildvögel«, »Kohlmeisen«, »fünf englische Kohlmeisenpopulationen«, »knapp 100 Gruppenmitglieder« (Z. 2, 4, 7, 13, 20, 21). Explizite Wiederaufnahme liegt auch in der referenzidentischen Reihe »britische Forscher«, »Wissenschaftler von der Universität Oxford«, »die Forscher«, »die Biologen«, »die Forscher« (2 x) (Z. 3, 7, 11, 13, 23) vor.

Fazit: Der in der Realität existierende Gegenstand weist »Traditionsliebende Meisen« als Sachtext aus. Der Zeitungsartikel berichtet über eine in einer Fachzeitschrift publizierte Forschung. Er tut dies vorwiegend in deskriptiver und argumentativer Themenentfaltung und informierender Funktion. Der wissenschaftliche Duktus zeigt sich im Fachvokabular und in der markierten Redewiedergabe. Um den größeren Leserkreis einer Tageszeitung auch unterhaltsam anzusprechen, enthält der Text eine provokant überspitzte Überschrift, eine launig-spannende Einleitung und eine farbige Abbildung. Das Textverstehen wird erleichtert durch zahlreiche explizite Wiederaufnahmen und eine mehrfache Paraphrase des in den Überschriften formulierten Hauptergebnisses.

1.2 Überlegungen zum Textverstehen

Neben einer Textanalyse bedarf es vorbereitend einiger Überlegungen zum Textverstehen. Maßgeblich für die Lesedidaktik wurden kognitive Lesetheorien, besonders Arbeiten von Teun A. van Dijk und Walter Kintsch (z. B. 1983), wonach Lesen ein daten- und konzeptgeleiteter Aufbau mentaler Modelle ist.3 Textverstehen formiert sich im Zusammenspiel von neuen Textdaten (bottom up – »von unten aus dem Papier«) und bereits bekannten Wissensbeständen (top down – »von oben aus dem Kopf«). Bereits ein flüchtiger Blick auf den Beispieltext aktiviert unser Weltwissen (über Vögel) inkl. unseres Wissens über Zeitungen – und damit die Erwartung eines informierenden, wohl nicht allzu komplexen Textes. Ebenfalls top down in den Leseprozess hinein wirken Leseerwartungen und -interessen. Im Einzelnen vollzieht sich Textverstehen in der Abfolge unterschiedlich komplexer mentaler Teilprozesse, von der hierarchieniedrigen Buchstaben- und Worterkennung bis zur hierarchiehohen Identifikation von Darstellungsstrategien:

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Hier einige Beispiele für die Teilprozesse des Lesens in Bezug auf den Meisen-Text:

 

Buchstaben- und Worterkennung

   [keine speziellen Beispiele]

Lokale
Kohärenzbildung

   »die haben« bezieht sich auf »Menschen« (Z. 1)

   »Fähigkeiten« bezieht sich auf »nicht nur Lernen – sondern gelernte Verhaltensweisen weitergeben« (Z. 8 f.); »die Vögel« bezieht sich auf die trainierten »zwei Männchen« (Z. 16, 14)

Globale
Kohärenzbildung

Im Wesentlichen geht es in dem Text darum:

   Meisen zeigen Kulturverhalten.

   Dies haben britische Wissenschaftler herausgefunden und veröffentlicht.

Erkennen von Superstrukturen

   Es gibt Überschriften und Haupttext.

   Es gibt eine Zweiteilung des Haupttextes:

1.   Einleitung + Kernbefund (Z. 1-11)

2.   Rückblickende Beschreibung des Forschungsablaufs + Wiederholung des Kernbefunds (Z. 12-24)

Erkennen von Darstellungsstrategien

   Provokanter Titel

   Abbildung

   Unterhaltsame Einleitung

 

Die Teilprozesse werden nicht notwendig linear durchlaufen. Auch sind bei versierten LeserInnen die Buchstaben- und Worterkennung sowie die lokale Kohärenzbil dung automatisiert. Je nach Vorwissen, Erfahrungen, Interessen und Verstehen-stiefe konstruieren die LeserInnen mentale Modelle als schematisierte, strukturanaloge Repräsentationen des Textes. Ein mentales Modell zu »Traditionsliebende Meisen« lässt sich zum Beispiel so vorstellen:

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2. Die Unterstützung des Verstehens als lesedidaktische Primäraufgabe

Mentale Modellbildungen zu unterstützen ist die lesedidaktische Primäraufgabe. Die Herangehensweise hängt wesentlich von den Kompetenzen der LeserInnen ab. Wenn hierarchieniedrige Lesefertigkeiten fehlen, sind zunächst Lese(flüssig-keits)übungen und Lautleseverfahren (z. B. Lesetandems) angezeigt (vgl. hierzu ausführlicher Nix 2010, S. 150ff, S. 174; Rosebrock/Nix 2012, S. 27 ff.).

Höhere Verstehensleistungen sind mit Lesestrategien zu fördern. Lesestrategien sind (psycho)motorische Handlungsmuster, über die LeserInnen verfügen, um sich selbständig einen Text erschließen zu können. Lesestrategien lassen sich danach einteilen,

   an welchem Punkt des Rezeptionsprozesses sie ansetzen (vor, während, nach der Lektüre) (vgl. Müller 2010, S. 242 f.; Maiwald 2013a, S. 420 f.);

   welche Operation am Text sie vollziehen (z. B. reduktiv-organisierend/ordnend oder elaborierend);4

   auf welcher mentalen Ebene sie liegen: Kognitive Strategien zielen auf das Textverstehen als solches; metakognitive auf die Steuerung der Verstehensprozesse (vgl. Garbe/Holle/Jesch 2009, S. 155).

Lesestrategien lassen sich zu systematischen Programmen kombinieren. Ältere Beispiele hierfür sind die SQ3R-Methode von Robinson (1948) und die PQ4R-Methode von Thomas/Robinson (1972).5 In dem Arbeitsheft Wir werden Textdetektive (Gold u. a. 2010) werden sieben Lese- und Lernstrategien erarbeitet; Bräuer (2010) stellt ein Set von sechs »Lesewerkzeugen« vor,6 Lesen(d) lernen! Texte besser verstehen heißt ein »Trainingsprogramm« von Bönnighausen/Winter (2012). Derlei Programme sind geeignet, wenig geübten LeserInnen zunächst ein Instrumentarium und eine Struktur für das Textverstehen an die Hand zu geben. Mittelfristig sollten LeserInnen jedoch zu einer selektiven und adaptiven Nutzung ihrer Lesestrategien in Abhängigkeit von ihren Lesezielen und auch vom zu lesenden Text kommen. Keinesfalls sollte sich die didaktische Ziel-Mittel-Relation verkehren: Es geht nicht darum, dass Texte sich für das Einüben von Lesestrategien eignen, sondern darum, dass Lesestrategien helfen, Texte zu verstehen.

3. Fragen der Textwahl

Die ExamenskandidatInnen waren aufgefordert, die Eignung des Textes »Traditionsliebende Meisen« für den Deutschunterricht zu bewerten. Sie taten gut daran, diese nicht komplett in Abrede zu stellen, wo sie doch vorher ein didaktisch-methodisches Konzept für den Umgang mit dem Text zu entwerfen hatten. Tatsächlich kann man zur Eignung des Textes geteilter Meinung sein: Vor allem wäre zu fragen, warum SchülerInnen und den Deutschunterricht das Thema Meisenforschung im fernen England interessieren soll. Gerade bei jüngeren SchülerInnen sollten schon aus motivationalen Gründen Themen herangezogen werden, die nah an ihren Erfahrungen und Interessen liegen: Neben Tieren und Mode könnten dies Körperschmuck (Rose 2000), Tagebuchschreiben (Baurmann/ Müller 2002) oder Jugendsprache sein (Grossmann/Peyer 2004). Damit Sachtextlektüre als etwas Sinnvolles erfahren wird, sollte sie funktional für fachbezogene Lernprozesse sein, im Deutschunterricht also mit Sprache und Literatur zu tun haben, etwa zur Geschichte der Schrift oder zu einer literarischen Lektüre (vgl. die Praxisbeispiele bei Müller 2010, S. 244 ff.).

Abgesehen vom etwas fernen Thema sprechen jedoch auch Argumente für den Meisen-Text: Tiere sind von Interesse, es handelt sich um einen authentischen Zeitungstext (im Idealfall aus der eigenen Stadt oder Region), der Text ist nicht zu lang und nicht zu schwer, er veranschaulicht Prinzipien wissenschaftlicher Kommunikation (Fachwortschatz, Referat fremder Positionen, Veröffentlichungen in Fachzeitschriften) – und er bietet in der Einleitung einen Ansatzpunkt für Sprachbetrachtung: Was bedeutet eine Meise haben? Gibt es ähnliche Wendungen?7

4. Zur Arbeit mit dem vorliegenden Text

Im Folgenden werden Anregungen für modellbildende Aktivitäten vor, während und nach dem Lesen gegeben und weitergehende Lernzusammenhänge skizziert.

4.1 Vor dem Lesen

Vor dem eigentlichen Lesen ist Vorwissen zu aktivieren und ein Erkenntnisinteresse zu schaffen, auf das der Text antwortet. Ausgehen könnte dies hier vom Traditions-Begriff. Was sind Traditionen, welche kennen wir? Traditionen sind in einer Kultur gängige Gepflogenheiten, Konventionen, Bräuche oder Sitten, zum Beispiel das Aufstellen von Weihnachtsbäumen, Silvesterfeuerwerke, Fasching und Fasten, Kundgebungen zum 1. Mai, Schultüten, Abiturfahrten. Tieren schreiben wir derlei komplexes Verhalten weniger zu, und Vögeln schon gar nicht.

Schauen wir hingegen auf diesen Text und achten zunächst auf Überschrift(en) und Bild(er): Die Abbildung zeigt einen Vogel, die Überschrift stellt »Traditionsliebende Meisen« fest, die Unterüberschrift spricht von einer Weitergabe von Verhaltensweisen an Artgenossen. Welches Verhalten geben die Meisen weiter? Inwiefern sind sie gar traditionsliebend? (Wie) zeigt sich das an dem abgebildeten Tier? Der Text wird darüber Aufschluss geben.

Für leseschwächere SchülerInnen kann zusätzlich eine Vororientierung, ein sogenannter advance organizer, gegeben werden: Der Zeitungsartikel berichtet von etwas, das englische Forscher aus Oxford über Meisen herausgefunden haben. Dabei kommen die Wörter »Primaten«, »Artgenossen« und »Population« vor – was bedeuten diese Wörter? Die Forscher zeigen, dass Meisen klüger sind, als wir denken... Eine solche Vororientierung kann auch struktureller Art sein: Die wichtigsten Informationen stecken bereits in der ersten Hälfte des Artikels.

4.2 Begleitend zum Lesen

Aktivitäten vor dem Lesen können sich sinnvoll, weil für alle anschaulich, auf einen über Overhead-Projektion oder Beamer gemeinsam betrachteten Text richten. Keine geeignete Form der Textbegegnung ist das Reihum-Vorlesen im Klassenverband (vgl. Garbe/Holle/Jesch 2009, S. 152; Rosebrock/Nix 2012, S. 83). Das eigentliche Lesen sollte vielmehr im stillen Einzellesen eines Textexemplars erfolgen, in dem sich die SchülerInnen Notizen machen können, etwa Fragezeichen, wo sie etwas nicht verstanden haben, oder Ausrufezeichen für Neues (vgl. Müller 2010, S. 250). Die Lektüre ließe sich hier mit zwei reduktiv-organisierenden, primär auf globale Kohärenz zielenden Lesestrategien verbinden:

Erste Textrezeption (bis Z. 11):
Unterstreiche einen Satz(teil), der am besten zur Überschrift passt!

Das Unterstreichen von »Wichtigem« ist eine ebenso gängige wie problemträchtige Arbeitsanweisung, weil sie im Grunde voraussetzt, was erst herzustellen ist, nämlich ein Gesamtverständnis des Textes. »Wichtig« sind Textstellen zudem stets für jemanden und/oder im Hinblick auf etwas. Ohne funktionale Ausrichtung führt das Unterstreichen zu wahllosen Ergebnissen und wird als Textverstehensstrategie unbrauchbar (vgl. Grütz 2010). Sinnvolles Unterstreichen hat eine »aufgabenbezogene Kontur« (Maiwald 2013b, S. 723), eine Funktion für ein Leseziel oder -interesse. Man kann etwa unterstreichen/markieren, was für einen neu oder unverständlich ist, was die Antwort auf eine bestimmte Frage gibt, was eine Meinung stützt oder schwächt oder was – so wie hier – eine Begriffsspitze darstellt (wo also etwas »auf den Punkt gebracht« wird). Mögliche Kandidaten für einen Satz(teil), der am besten zur Überschrift passt, sind:

a) … sind die Wildvögel nämlich weit intelligenter als bislang vermutet. (Z. 4 f.)

b) … dass Kohlmeisen nicht nur sehr schnell von Artgenossen lernen – sondern gelernte Verhaltensweisen auch über Generationen weitergeben. (Z. 8 f.)

c) … bewiesen, dass neben Primaten auch Wildtiere kulturell geprägt seien. (Z. 10 f.)

 

a) trifft den Kern nicht ganz, denn es geht nicht nur um Intelligenz; c) bleibt sehr allgemein; am passendsten (und die Unterüberschrift auch explizit aufnehmend) erscheint b). Die Rezeption zweizuteilen macht den Aufbau des Textes sinnfällig, der genau in der Mitte eine Sollbruchstelle hat (Superstruktur) und so sehr einfach von hinten gekürzt werden könnte (s. o.). Um die Zweiteilung sinnfällig zu machen, lautet der Auftrag für die

Zweite Textrezeption (ab Z. 13):
Füge eine Zwischenüberschrift in den Text ein, die den Inhalt der zweiten Hälfte zusammenfasst!

Hier würden sich als Lösungen anbieten Wie die Forscher vorgegangen sind oder Wie die Meisen trainiert wurden. Denkbar wäre auch eine graphische Visualisierung in einem Flussdiagramm, welches man je nach Lesevoraussetzungen der SchülerInnen teilweise vorgeben oder vorstrukturieren kann:

Als erstes ...

Nach vier Tagen ...

Nach wenigen Wochen ...

Nach einem Jahr ...

... lernten ausgewählte Tiere, eine Futterbox zu öffnen.

... wurden die trainierten Tiere in ihre Gruppe entlassen.

... hatten % der Tiere die neue Futtertechnik angenommen.

... futterten die Tiere noch immer nach gelernter Tradition.

4.3 Nach dem Lesen

Der PISA-Test (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001) sieht vor, beim Lesen nicht nur Informationen zu entnehmen und ein Gesamtverständnis zu entwickeln, sondern Texte zu reflektieren und zu bewerten. Ich nenne einige Fragerichtungen, in denen Superstrukturen und Darstellungsstrategien des Textes »Traditionsliebende Meisen« aufscheinen:

   Welche Funktion hat das Bild? Es steht in keinem inhaltlichen Zusammenhang mit der berichteten Forschung und dient daher wohl als Raumfüller und/oder Blickfänger.

   Zeitungstexte müssen oft gekürzt werden. Was könnten wir hier weglassen? Sachlich entbehrlich sind neben dem Bild die Einleitung und Beschreibung des Experiments in der zweiten Texthälfte.

   In der Einleitung steht: »Wer die Vögel [...] zu Besuch hat, kann womöglich Erstaunliches beobachten« (Z. 2 f.). Stimmt das? Natürlich nicht, denn der Artikel handelt von eigens trainierten Tieren. Warum steht dieser Satz in der Einleitung, zusammen mit der Anspielung auf den Ausdruck »eine Meise haben«? Vermutlich sollen LeserInnen zunächst mit etwas Vertrautem, Lustigem und Erstaunlichem angesprochen und für den Text interessiert werden.

   Woran kann man erkennen, dass die Autorin die Ergebnisse und Aussagen der Forscher nur wiedergibt oderfür unsicher hält? Hierfür sprechen die zweimalige Verwendung des Konjunktiv I (Z. 10, 23) und die Verwendung von wollen + Partizip Perfekt + haben (»herausgefunden haben wollen«, Z. 4), in der sich ausdrückt, »dass der Sprecher die von ihm wiedergegebene Behauptung eines anderen mit Skepsis betrachtet, für fraglich hält«8.

Ebenfalls nach dem Lesen anzustreben ist die Einbettung der Textlektüre in einen größeren Sach- und Lernzusammenhang.9 Gemeint ist damit nicht das Malen von Bildern oder das Bauen von Futterkästen, sondern eine thematisch und integrativ orientierte Sachtextarbeit (vgl. Müller 2010, S. 243 ff.) – zunächst innerhalb des Deutschunterrichts. Der vorliegende Text könnte im Zusammenhang mit dem Thema Tageszeitung/journalistische Textsorten stehen. Im Vergleich mit Bertolt Brechts Kindergedicht Die Vögel warten im Winter vor dem Fenster ließen sich Unterschiede zwischen pragmatischen und poetischen Texten aufzeigen.10

5. Erweiterungen

Abschließend werden mit dem vielfältigen Textspektrum und dem Schreiben zu/von Sachtexten zwei Erweiterungen des (lese-)didaktischen Aufgabenfeldes umrissen.

5.1 Weites Textspektrum

Sachtexte gibt es in großer Vielfalt: von Kants Kritik der reinen Vernunft über einen Zeitungskommentar bis hin zum Kochrezept. (Daher sind Sachtexte keineswegs immer »sachlich« oder »einfach«.) Und es gibt sie nicht nur in linearer Schriftform. Bereits die PISA-Studie 2000 testete auch das Leseverstehen sogenannter nichtkontinuierlicher Texte wie Tabellen, Grafiken, Diagramme. Sachtexte treten zudem »nicht nur print- und monomedial« (Maiwald 2013b), sondern multimodal auf. Auszugehen ist also von einem erweiterten Textbegriff: WAS IST WAS sind nicht mehr nur reich illustrierte Sachbücher, sondern auch Hörspiele, Dokumentarfilme, Apps und E-Books (vgl. Maiwald 2015, S. 12).

Besonders im Internet verbreitet sind Hypertext/Hypermedia wie Wikipedia, das Gutenberg-Projekt oder das Leseprojekt »Antolin«. »Unter Hypertext wird gemeinhin ein Gebilde verstanden, worin die einzelnen informationellen Einheiten [...] durch Verknüpfungen (links) netzwerkartig verbunden, also sind« (Linke/Nussbaumer/Portmann 2004, S. 288).