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© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2016

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-7365-0043-3 (print)

ISBN 978-3-89680-977-3 (epub)

www.vier-tuerme-verlag.de

Hermann Multhaupt



Die Muschelbrüder

Historischer Pilgerroman






Vier-Türme-Verlag

Auf dem Wege nach Süden

~

Der andere heißt der Monte Christein:

der Pfortenberg mag wohl sein Bruder sein,

sie sein einander fast gleiche;

und welcher Bruder darüber geht,

verdient das Himmelreiche.

Der vierte heißt der Ravenel,

darüber laufen die Brüder und Schwestern schnell.

Der fünfte heißt ihn Alle Farbe:

da leit viel manches Biedermanns Kind

aus deutschem Land begraben.

Ihre Stäbe klopften unregelmäßig den Sand des Weges, der bei Regen nass und breiig die Schritte erschwerte, bei Sonne und trockener Luft bis zu den Knien aufwölkte. Sie sprachen oft eine Stunde lang kein Wort, warfen sich fragende Blicke zu, wenn sie an einer Wegkreuzung angelangt waren und die Schrift nicht entziffern konnten, die die Richtung zu den unbekannten Orten des Südens wies. Die Sonne war jetzt meist ein verlässlicher Partner. Bei verhangenem Himmel stellten sie fest, woher die Winde kamen und wohin sie bliesen, und in den wolkenklaren Nächten leuchteten ihnen die unumstößlichen Zeichen des Himmels mit ihrem magischen Sternenzauber. Dann stellten sie oft ihre Stäbe aneinander, warfen ein Tuch oder ihre Mäntel darüber und errichteten einen Schutz für den Schlaf. Doch das schönste Zelt baute der Himmel für sie, fast jeden Abend zündete er abertausende Lampen an und erhellte ihnen das Herz. Dann lagen sie oft schlaflos nebeneinander, entspannt, in vollkommener Ruhe des Herzens und blickten ergriffen in die Höhe. Gottes Schöpfung zog an ihnen vorbei, und sie ahnten und spürten die Weite des Alls.

Nichts hatte den Anschein von Dauer in ihrem Leben, weder die Unterkunft für die Nacht noch der Platz, auf dem sie in der Mittagszeit lagerten, alles war flüchtig und Übergang. Sie schliefen gegürtet, abrufbereit wie die Israeliten beim Auszug aus Ägypten. Ihre Sandalen standen am Eingang der Unterkunft, wo immer sie sich befand. Zweimal hatte ihnen zähnefletschend ein Hund den Weg verstellt, als sie ein kleines Dorf bei Gorze durchquerten. Die eigenartige Gewandung der Pilger, ihre struppige, staubige Erscheinung passte nicht ins gewohnte Ortsbild und nicht in die Vorstellungskraft dieses Tieres. Da tat der Baculus, der Knotenstock, seine Dienste. Franz Lauterbrunn briet dem ersten Hund eins über, dass man seine Knochen knacken hörte; das jaulende Gebell ging in ein ersterbendes Winseln über. Der zweite Straßenköter machte sich beim Anblick von Kopffs in der Luft singenden Haselnussstabes rechtzeitig aus dem Staube, bevor ihn die geschärfte Spitze in die Flanken traf. In den Schluchten der Pyrenäen trieben hungrige Wölfe ihr schreckliches Unwesen, wie ein abgewetzter, zerlumpter Pilger, der sich auf dem Rückmarsch in seine flandrische Heimat befand, zeichenreich demonstrierte und dabei auf seinen linken Armstumpf verwies, der blutverkrustet und deutlich angeschwollen die Symptome der St.-Marcellus-Krankheit, des Wundbrands, trug.

Der Stab, so sagten die Frommen, symbolisierte eine Art dritten Fuß und somit den Glauben an die Trinität. Er sei ein »geistliches Schwert«, das den Weg zum Himmel von Ablenkungen und Hindernissen befreie. Mehr leuchtete den Freunden freilich die Bedeutung als Waffe ein, wenn man von den Schrecknissen des irdischen Weges hörte, von Überfällen und Betrügereien, von über die Ufer getretenen Flüssen, wo man mit Hilfe des langen Steckens gegen die reißenden Wasser kämpfte und gegen die glitschigen Hänge, die sich nicht besteigen lassen wollten. Kretz würdigte den Pilgerstab auf seine Weise, erinnerte er ihn doch an den biegsamen Stangenbaum, mit dem er daheim den Strom bezwang und den Kahn gegen Strömung und Strudel sicher zum anderen Ufer leitete.

Es war ein eigenartiges Volk unterwegs, das streckenweise mit ihnen zog, sich mit anderen Gruppen vermischte, die Gemeinschaft wieder verließ. Vor allem im Bereich der größeren Städte versuchte ein jeder, möglichst als Erster an der Stadtmauer anzukommen, wo sich in vielen Fällen das Hospiz befand oder die Kapelle der Aussätzigen, an der man den armen Teufeln, den Leprösen und Blatternkranken, nach einem empfehlenden Gebet zum hl. Lazarus und zur hl. Magdalena die Kommunion durch ein Fenster im Kirchlein reichte. Hinein in das Gotteshaus durften sie nicht, und zuweilen schob man auch die verdreckten und sich wild gebärdenden Pilger wieder hinaus, wenn sie sich in den Bankreihen niederließen, um zu verschnaufen, oder wenn sie eine Andacht zu Ehren des hl. Apostels Jakobus verrichten wollten.

Kretz hatte meist kein Glück, als Erster durchs Ziel zu gehen. Sein verkrüppelter rechter Fuß hinderte ihn, einen bequemen Platz am Kamin der Herberge zu erwischen oder ein sauberes Bett in einer hinteren Ecke eines Hospizes. Er drängte die Freunde, vorauszueilen und Quartier zu machen, er werde so schnell wie möglich nachkommen. Darauf jedoch gingen die drei anderen nicht ein. Was sie unternähmen, das geschehe gemeinsam, sie ließen keinen im Stich, das sei beschlossen und müsse so bleiben. Antonius Viermann, der Schneider, hätte gute Aussicht gehabt, zu den Ersten am Tagesziel zu gehören. Er war flink, drängte sich auf seinen spindeldürren Beinen durch die Menge oder an ihr vorbei und hatte dem behäbigen, gutmütigen Schmied und dem Sühnewallfahrer Michael Kopff die Schnelligkeit voraus. Dem Michel fehlte meist ohnehin der Antrieb. Er wallfahrtete nicht aus Passion noch aus Überzeugung. Er betrachtete die Tagesstrecken als den abzuleistenden Teil einer Strafe, zu der er verurteilt war. Kretz erkannte, dass der, dem es an Schwung und geistigem Fernweh mangelte, sich schwertat, sein Ziel zu erreichen.

»E ultrëia! Es sus ëia! Deus aiuda nos!« – Dieses Wort hatte Kretz bei anderen nach Süden drängenden Pilgern aufgeschnappt, und er rief es nach jeder Rast: »Los! Auf geht’s! Gott steh uns bei!«

Wer war nicht mit ihnen unterwegs ... Wahre Völkerscharen zogen auf heißen, staubigen Wegen und regennassen Straßen. Isländer, Norddeutsche, Holländer, Belgier und Franzosen, ja, Menschen aus dem fernen Polen und dem sagenhaften Russland, den baltischen Ländern und dem entlegenen Norden strömten in einem wahren Rausch der Buße über die französischen Pilgerwege. Ihre Herzen schäumten über vor Sehnsucht nach Lauterkeit, nach Reinheit. Sie wollten die Schwere abschütteln, die auf ihnen lag, die Sünde, die sich ihrer bemächtigt hatte. Die Beichte in der heimischen Kirche war nicht genug, der Beichtort gab nicht die Zufriedenheit, nicht die Seelenruhe, die eine Pilgerfahrt versprach. Am Ende der Welt, dort, wo die keltische Straße in den Wellen des Meeres versandete und das Nirgends anfing, das Reich der unerforschten See, dort wollten sie ihre Last abladen zu Füßen des hl. Jakobus, des Apostels, dessen Leichnam in einem von Engeln gesteuerten Boot über das Meer nach Galicien gesegelt war.

Es gab die verschiedensten Begründungen für diese Reise ans Grab des Heiligen, nach Compostela. Ehemalige Gefangene dankten für die Befreiung aus der Hand des Feindes, Matrosen huldigten St. Jakob, weil sie durch seine Fürsprache aus Seenot gerettet worden waren. Ein Krieger erfüllte sein Gelübde, das er für den Fall eines Sieges über seinen grimmigsten Feind getan hatte. Die erste weite Reise einer von unheilbarer Krankheit genesenden Frau führte nach Santiago. Einem Bauern aus Besançon war endlich ein Erbe beschieden worden – ein Grund, St. Jakob seine Aufwartung zu machen. Kopff entdeckte unter ihnen Delinquenten, die wie er einen eisernen Ring um Fuß- oder Handgelenk trugen und sich widerstrebend, aber doch mit einer gewissen Neugier, der Prozedur der Wallfahrt unterzogen.

»Der Herrgott hat einen recht bunten Tiergarten«, bemerkte Franz Lauterbrunn, als sie an einem milden Frühlingsnachmittag an einer Gruppe rastender Pilger aus Cambrai vorüberzogen.

»Du vergisst, dass du selbst zu diesem Tiergarten gehörst und nicht des lieben Gottes beste Schöpfung darstellst«, erwiderte Antonius Viermann und ließ sein meckerndes Lachen hären.

Der Schmied überhörte die boshafte Anspielung, denn er versuchte in den Gesichtern der Frauen und Männer zu lesen, die abgespannt in dem niedergetretenen Gras lagen, die Beine ausgestreckt, die Fersen und Waden reibend. Einer verband sich die offene Wunde, ein anderer erneuerte die Fußwickel, ein dritter schlief, den Kopf auf den Knien, und seufzte im Traum. Bärtige Gesichter blickten ihn an, hohlwangige, ausgezehrte, großäugige, verkniffene, hinterhältige, leidende, zufriedene, gutmütige Gesichter. Ein Einäugiger war darunter, die schwarze Binde verdeckte ein Stück Wange und Stirn, zwei Glatzköpfe und drei Männer, die den Barbier wahrscheinlich nur vom Hörensagen kannten – so verwildert sahen sie aus. Gelehrte waren unter ihnen, die das fremde Spanien erkunden, aber auch das Verhalten der Menschen auf einer so weiten Reise studieren wollten; Abenteurer, die in der Ferne ihr Glück witterten, echte Büßer, die unentwegt Gebete murmelten und dem Himmel die Gnade des ewigen Lebens abtrotzten, sowie Kranke, die auf Genesung hofften. Epileptiker zogen zuweilen die Aufmerksamkeit auf sich oder Tobsüchtige, deren Krankheit die Ärzte am hämmernden Puls und hellen Urin zu erkennen meinten.

In Toul hatte das Vierergespann gar einen Vergebungsbitter kennengelernt, einen »quereur de pardons«, der im Auftrag anderer Menschen für eine bestimmte Geldsumme nach Compostela ging, um deren Anliegen und Bitten dem hl. Jakobus vorzutragen.

Bis auf die Sühnewallfahrer, deren Antrieb eher passiv war, weil sie zur Pilgerschaft gezwungenermaßen aufgebrochen waren, trieb es die anderen geradezu dem fernen Ziel entgegen. Ja, manchmal entwickelten sie eine hektische Unruhe und fiebrige Hast. Ein Tag der Schonung, eine längere Rast erschien ihnen als unvereinbar mit ihrer Aufgabe und eher verwerflich. Ein Wort des hl. Augustinus machte die Runde: »Am Tage, da du sprichst: ›Das genügt!‹ bist du schon tot. Immer dazu, immer voran, immer weiter. Bleib nicht auf dem Wege stehen, geh nicht zurück, verlasse nicht die Bahn. Wer nicht weitergeht, tritt auf der Stelle.« Der dunkle Streifen am Horizont, der Bergrücken, den sie nicht überblicken konnten, der Waldsaum, hinter dem sie eine neue Offenbarung vermuteten, die Silberspur des von der Schneeschmelze geschwollenen Flusses, die sich in der Ferne verlor, lockten sie weiter, drängten sie auf den Pilgerweg in die erbarmungslose Ungewissheit des Zieles. Neugierde, Verlangen, Sehnen, stilles Hoffen, scheues Wissen, tastendes Verstehen, das Bedürfnis der Natur, sich mit dem Übernatürlichen zu vereinen – die Seele des Menschen, die zum Aufbruch drängt, zum Flug aus der stickigen Erde in die reine Unbeschwertheit des Himmels, wird aus vielen Quellen gespeist.

Vézelay entpuppte sich als ein Ort, an dem sich Pilger aus Deutschland und nordischen Ländern sammelten. Sie benutzten die Niederstraße, um ihrem Ziel näher zu kommen. Andere gingen von Trier über Gorze schnurstracks nach Süden, um sich in Chalon-sur-Saône mit den Wallfahrern, die von Straßburg, Basel, Genf und Besançon über die Oberstraße hergezogen kamen, zu vereinen. Für sie war Arles ein markanter Treffpunkt. Sie wallfahrteten zunächst durch das Rhônetal, dann über Montpellier, Toulouse auf dem Somport-Pass zu. Oder aber sie bogen bereits in Valence nach Le Puy ab, wo die Kirche Notre-Dame ein beliebter Sammelpunkt für die Pilgerfahrt über Aubrac, Sainte-Foy in Conques und Saint-Pierre in Moissac nach Ostabat war. Pilger aus Dünkirchen, Boulogne, Tournai, aber auch aus dem Aachener und Lütticher Raum marschierten auf Paris zu, wo sich die Klosterkirche des hl. Dionysius auf der Île-de-France zur Keimzelle der Kathedralbaukunst entwickelt hatte. Die Grabeskirche der Könige von Frankreich schien vielen Pilgern der Inbegriff aller Schönheit zu sein. Sie wussten zwar kaum etwas von dem geistigen Zentrum, das sich hier zu entfalten begonnen hatte und das über ganz Europa seine Impulse und Ideen ausgoss, doch sie bestaunten die Schönheit der Basilika mit ihren zum Himmel strebenden Pfeilern und Bögen, mit den durchbrochenen Mauern und verzierten Türmchen, durch die das Licht auf langen bunten Bahnen hereinflutete wie in einen überirdischen Raum, und sie ahnten, dass hier ein Abbild des himmlischen Jerusalem im Entstehen war, ein Thronsaal Gottes in Glanz und Herrlichkeit.

Von Paris bewegte sich der Wallfahrtsstrom nach Tours zum Grab des hl. Bischofs Martin, der als römischer Soldat im 4. Jahrhundert den Mantel mit dem frierenden Bettler geteilt hatte. Manche scheuten nicht den Umweg über Chartres, weil das Geheimnis des dortigen Gotteshauses seinem Ruf als lebendige Himmelsstadt vorausgeeilt war. Mehr aber als dieses Bauwerk lockte sie in Orléans die wahre Kreuzesreliquie und der Kelch des hl. Bischofs und Bekenners Evurtius in der Heiligkreuzkirche. Dort erzählten die Menschen die Legende von der »wundersamen Hand«.

Als der fromme Bischof, der im 4. Jahrhundert lebte, einmal die hl. Messe feierte, erschien über dem Altar die rechte Hand Christi, so dass alle Anwesenden sie sahen. Die Hand vollzog alle Bewegungen, die der Bischof tat. Machte er über Brot und Wein das Zeichen des Kreuzes, so tat die Hand es ebenso, und bei der Wandlung, als der Oberhirte Brot und Kelch dem Volk zeigte, erhob auch die mysteriöse Hand Brot und Kelch. Nach der Messfeier aber verschwand sie so geheimnisvoll, wie sie erschienen war. Daraus zogen die Leute den Schluss: Den Leib und das Blut Christi opfert nicht der Mensch an Christi statt, sondern der Sohn Gottes selbst, der bei der heiligen Handlung leibhaftig zugegen ist.

Einige schwärmten vom herrlichen Reliquienschrein des hl. Martin in Tours, der mit Gold, Silber und Edelsteinen besetzt und wegen vieler Wunder berühmt war. Hatte der heilige Bischof und Bekenner schon zu Lebzeiten drei Tote wunderbar zum Leben erweckt, Aussätzige, Epileptiker, Mondsüchtige, Besessene und andere Kranke geheilt, so geschahen selbst jetzt in seiner nach der Kirche des hl. Jakobus in Compostela erbauten Basilika unerklärliche Wunder: Blinde wurden sehend, Lahme richteten sich auf, Besessene stießen keine Verwünschungen mehr aus gegen Gott.

Franz Lauterbrunn wäre gern nach Tours gewallfahrtet, seinem Patenonkel zuliebe, der Martin hieß. Michael Kopff jedoch, dem jeder Schritt zu viel war, riet von dem Umweg ab, der sie wenigstens zehn Tage zusätzliche Zeit gekostet hätte. Außerdem könne man Kretz, wie er sagte, diese Wahnidee eines hirnrissigen Betbruders nicht zumuten – seines lahmen Fußes wegen.

Kretz, der sofort hellhörig wurde, wenn die Rede auf seine Gliedmaßen kam, meinte, vielleicht könne St. Martin den verkrüppelten Fuß heilen, so dass ihm die weitere Pilgerreise leichter vonstattengehe und sie alle zusammen abends rascher in die Quartiere und eher nach Compostela gelangten, allein, dieses Argument war den Mitpilgern, zu denen sich inzwischen noch einige Wallfahrer aus dem Oberhessischen und Mainfränkischen gesellt hatten, denn doch nicht stichhaltig genug. Der hl. Martin tue sich bei der Bestimmung der Personen, die auf seine Fürsprache von Gott geheilt würden, recht schwer, und Kretz gehöre gewiss nicht zum engeren Kreis der Auserwählten. Kretz zweifelte nicht an Gottes Güte und Erbarmen und nahm den hl. Martin in Schutz, wodurch er sich in den Augen der anderen wiederum in die Nähe der Wundersüchtigen stellte. Einer der neuen Pilger, Paul Lenger aus Fritzlar, ein Tuchfärber mit bläulichen Händen und Unterarmen, hatte von einem Wallfahrer von einigen merkwürdigen Ereignissen am Pilgerweg zwischen Tours und Ostabat, an der »Via Turonensis« gehört. So ruhe in Poitiers der Leichnam des hl. Bischofs Hilarius, der im 5. Jahrhundert gegen den Häretiker Leo einen Disput entfachte. Seine Stimme, so erzählte man sich, habe die Schlösser an den Flügeltüren des Konzilsraumes gesprengt, so mächtig sei sie gewesen. Weil der Bischof während des Konzils zu Mailand infolge der langen Streitgespräche nicht mehr habe stehen können, habe sich der Boden erhoben und ihm eine Sitzfläche angeboten. Sein Gegenspieler Leo, nicht bereit, die Schriften anzunehmen, sei an Durchfall auf den Latrinen gestorben.

Paul Lenger hatte mit seinen Erzählungen kein Glück, niemand wollte den Umweg mit Lauterbrunn und Kretz einschlagen. Auch das Haupt Johannes des Täufers in Angély, das fromme Männer einst aus Jerusalem ins Land der Poiteviner gebracht hatten, diente nicht dazu, Sensationslust zu entfachen, und so blieb man auf dem einmal eingeschlagenen Weg, auf der »Via Lemovicensis«, die von Vézelay über Nevers, Saint-Léonard, Limoges und Périgueux nach Ostabat führte.

Von Sta. Maria Magdalena und St. Leonhard

~

Der König von Hispanien der führt ein Kron:

er hat gebauet drei Spital gar schon

in St. Jakobs Ehren:

und welcher Bruder darein kommt,

man beweist ihm Zucht und Ehre.

Es war dem Spitalmeister nit genehm

vielen Brüdern hat er genommen das leben.

Gott, lass nit ungerochen!

Zu Burges ward er an ein Kreuz geheft,

mit scharfen Pfeilen durchstochen.

Ein Mann brach von Vézelay zur Wallfahrt nach St. Jakob auf. Er war ohne Geld und schämte sich zu betteln. Als er unter einem Baum ausruhte, träumte ihm, der Apostel gebe ihm zu essen. Da erwachte der Pilger und siehe, zu Häupten fand er ein Brot, das in Asche gebacken war. Er lebte von dieser Speise fünfzehn Tage. Jeden Tag aß er zweimal von dem Brot, bis er satt war, und doch fand er es anderntags wieder ganz in seiner Tasche – bis er gesund zu Hause ankam ...

Es waren nicht viele deutsche Pilger in Vézelay. Die meisten zogen mit den Burgundern nach Le Puy, zum Grab der hl. Jungfrau und Märtyrerin Fides. Warum Kretz und seine Freunde nicht mit ihnen gegangen waren, lag einzig in ihrem Wunsch, sich den Massen, die unterwegs waren, nicht anschließen zu müssen. Kleinere Gruppen hatten zudem größere Chancen, Almosen zu erhalten und ein halbwegs gutes Bett zu erwischen. So besuchten sie zunächst die Reliquien der hl. Maria Magdalena in Vézelay, was Kopff zu der Bemerkung verleiten ließ, er hätte die Dame lieber zu Lebzeiten kennengelernt, sie müsse wohl sehr schön und sehr sündig gewesen sein.

»Sie hat viel gebüßt«, erwiderte der Sohler Hans, einer der mainfränkischen Pilger. Er kannte sich in der Bibel gut aus, denn er war zwei Jahre Klosterschüler in Fulda bei den Benediktinern gewesen, hatte seine Studien dann jedoch wegen des plötzlichen Todes seines Vaters abbrechen müssen, um seine sechs jüngeren Geschwister versorgen zu helfen.

»Und was tu ich, he?«, rief der Sträfling und hob die Hand mit dem Eisenring.

»Solange du nicht bereust, Michel, so lange ist deine Buße nur Spreu. Maria Magdalena hat bereut. Im Haus des aussätzigen Simon benetzte sie die Füße Jesu mit Tränen, trocknete sie mit ihren Haaren, küsste sie und rieb sie mit kostbarem Balsam ein. Ihr wurden viele Sünden vergeben.«

»Schnickschnack«, brummte Kopff, weil er eine echte Antwort schuldig bleiben musste.

Ein Kanoniker der Kirche erklärte ihnen radebrechend die weitere Lebensgeschichte der Heiligen, deren sterbliche Hülle in der Basilika Sainte-Madelaine ruhte. Nach der Himmelfahrt Christi verließ Maria Magdalena Jerusalem in Begleitung des hl. Maximinus und weiterer Jünger des Herrn. Auf dem Seeweg gelangte sie zunächst nach Marseille und dann in die Provence, wo sie dreißig Jahre an einem unwirtlichen Ort zurückgezogen und unerkannt lebte und starb. Der inzwischen zum Bischof ernannte Maximinus bestattete sie in Aix. Der edle Mönch Badilo übertrug Jahre später die kostbaren Reliquien nach Vézelay.

Der Kanoniker schmückte die Lebensgeschichte der Heiligen mit schönsten Worten aus: dass sie schon auf Erden in der Einöde ihrer selbstgewählten Wüste mit den Engeln des Himmels in Verbindung trat, die sie zu den sieben Gebetsstunden in die Lüfte entrückten, wo sie mit den Gesängen der himmlischen Heerscharen gespeist wurde; dass sie gebärenden Müttern beistand und selbst Frauen, die bei der Geburt ihrer Kinder gestorben waren, das Leben auf wundersame Weise wiedergab; dass nach dem Tode Maria Magdalenas an den Stufen des Altares die Kirche sieben Tage lang von süßem Duft erfüllt war, den jedermann wahrnahm, der das Gotteshaus betrat. Von diesen und anderen Dingen berichtete der Kanonikus, und die Pilger, selbst Michael Kopff, standen und staunten.

Ein Blinder befand sich in Begleitung auf dem Weg nach Vézelay, um das Grab Maria Magdalenas aufzusuchen. Als sie in der Nähe des Klosters angekommen waren, sagte der Führer, dass er die Kirche schon sehe. Worauf der Blinde mit lauter Stimme flehte: »Ach, heilige Maria Magdalena, des Lazarus und der Martha Schwester, wenn es doch auch mir vergönnt wäre, deine Kirche zu sehen.« Worauf ihm die Augen aufgetan waren.

Ein Mann schrieb seine Sünden auf einen Zettel und schob ihn unter das Altartuch in Sainte-Madelaine. Er betete ohne Unterlass und bat Gott um Verzeihung für seine Schuld. Alsbald, als er den Zettel zur Hand nahm, fand er keine Spur seiner Schrift.

Ein Ritter, der alle Jahre das Grab Maria Magdalenas besucht hatte, erlitt seinen Tod im Streit. Da kamen seine Freunde und klagten, dass er ohne Beichte und Kommunion habe sterben müssen. Als er nun auf der Bahre lag, erhob sich der Tote, dass alle erschraken, und bat, man möge zu einem Priester schicken. Dieser hörte die Beichte, reichte dem Ritter die Wegzehrung, worauf sich dieser abermals niederlegte und verschied.