Angela, meiner langjährigen Kollegin
im Pflegedienst an den wohnungslosen
Menschen, gewidmet


Ich danke Volker,
der sich für das Titelbild bereitwillig
mit mir fotografieren ließ.

Armen begegnen

Armut wird oft als soziales Problem thematisiert. Es wird viel analysiert und darüber nachgedacht, wie man Armen Menschen aus ihrer Situation heraushelfen und sie in die Gesellschaft integrieren kann. Offensichtlich wird Armut als Skandal empfunden. Das ist gut so.

Theologen bemühen sich, den Armen einen zentralen Platz im Reich Gottes zuzusprechen. Auch ganz praktisch werden in den Kirchen bis hinunter in die Pfarrgemeinden vor Ort mit viel Engagement soziale Projekte initiiert und Geld gesammelt. Die Spendenbereitschaft kann sich sehen lassen. Auch das ist gut.

Aber all das geschieht meist neben den Betroffenen her, nicht mit ihnen. Dieses Getrenntsein hat seine Gründe, und es ist gut, sich bewusst zu machen, was da abläuft (oder besser: was da nicht abläuft), um dann bei sich selber zu sehen, was man in der Beziehung zu den Menschen ändern möchte, die gar nicht so weit weg von uns und doch so ganz anders leben als wir.

Es gab einen Wendepunkt in meinem Leben, der mich dazu brachte, ganz bewusst einen Schritt zum realen Kontakt mit Armen zu gehen. Es war die Erkenntnis: »Ich gehöre dorthin!« Das Gehen in die Szene war auch bei mir mit Ängsten verbunden. Heute halte ich das für ganz natürlich. Doch früher war diese Angst immer mit schlechtem Gewissen gekoppelt. Ich hatte Angst, selbst arm zu werden; fürchtete, dass man meine ganze Hand nehmen würde, wo ich nur meinen kleinen Finger hinstrecken wollte. Doch das geschah nicht. Ich hatte Angst, so viel Ungerechtigkeit erleben zu müssen, dass ich mich radikalisieren und meinen Glauben verlieren müsste, der mir doch so wertvoll war. Aber auch das geschah nicht.

Nein, es bewahrheitete sich, was die Weisheit Jesu im Evangelium lehrt: »Als Reicher komme ich nur schwer in das Himmelreich.« Und: »Selig die Armen, denn sie werden das Himmelreich besitzen.« Es ist tatsächlich so: Die Armen führen mich tiefer in den Glauben und zum Leben – nicht fort davon. Die Angst vor der Berührung mit den Armen hingegen, die Angst vor dem Abfärben ihrer Armut auf mich, ist wie das Feigenblatt Adams, das die Scham bedecken soll. Mit dieser Verlustangst beginnt der Mensch, das Paradies zu verlieren. Unser Herr Jesus aber zeigt uns den Weg, das Paradies wieder zu gewinnen. Könnten wir das doch als Ermutigungsweg sehen und uns frei fühlen, Schritte in Richtung dieser Freiheit zu gehen! Es ist weniger die innere bedrückende Stimme, die sagt »Ich müsste eigentlich und trau mich nicht«, sondern vielmehr der werbende, der verlockende Ruf Gottes.

Wohnungslosigkeit

Penner, Obdachlose, Wohnungslose, Nichtsesshafte – das sind die am häufigsten verwendeten Begriffe. Manche nennen sich selbst mit etwas Stolz »Berber«, wie die Ureinwohner Marokkos, oder »Durchreisender«. Die korrekte Bezeichnung ist »wohnungslos«. »Penner« ist ein Schimpfwort. Der Begriff »nichtsesshaft« wurde im Dritten Reich verwendet und wird heute weitgehend vermieden. Man spricht auch von »Menschen in Wohnungsnot«, wenn die Betreffenden ohne Obdach sind, in Übernachtungsstätten schlafen oder in unsicheren Wohnverhältnissen leben. Offiziell ist jeder wohnungslos, der keinen eigenen Mietvertrag besitzt.

2014 waren ca. 335.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung – seit 2012 ist dies ein Anstieg um ca. 18 Prozent. Die Zahl der Menschen, die »Platte machen«, die also ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, stieg seit 2012 um 50 Prozent auf ca. 39.000 im Jahr 2014 (ca. 26.000 in 2012).3

Es sind meist Männer, die ihre Wohnung verlieren und nicht selten alkoholkrank werden. Viele von ihnen leiden auch an offensichtlichen psychischen Krankheiten, sodass sie mit dem bürgerlich strukturierten Leben nicht zurechtkommen. In den letzten Jahren – besonders seit der Wirtschaftskrise – trifft man unter den Wohnungslosen aber auch immer mehr Menschen aus europäischen Ländern an, die nach Deutschland kamen, um Arbeit zu finden, und stattdessen auf der Straße gelandet sind. Allen Wohnungslosen aber ist gemein: Sie sind bettelarm und überwiegend nicht krankenversichert.

Auch wenn man von der Armut anderer Menschen heutzutage täglich in den Nachrichten hört, bleibt es doch eine virtuelle Welt und erscheint den meisten irgendwie unwirklich. Mein eigenes Leben etwa bewegte sich im Mittelmaß der Gesellschaft: in einer relativ intakten Familie, geregelt in Schule, Vereinen und Studium. So war es schon ein kleiner Schock, als ich in Frankfurt am selben Ort Banker und Drogenabhängige so offensichtlich nebeneinander sah. Meine bürgerlich geprägte Welt ist nur eine unter vielen Welten. Die Wohnungslosenszene kannte ich nur vom Hörensagen, das heißt eigentlich gar nicht.

In der Wohnungslosenhilfe wird ein Schritt in eine andere Lebenswelt vollzogen. Man wechselt während der Arbeitszeit aus dem gewohnten Umfeld in die Welt wohnungsloser Menschen. Es leben Menschen direkt auf dem Boden an Häuserecken, unter Brücken, in Parkanlagen, im Wald. Manche haben Behelfsunterkünfte wie Gartenhütten, Autos, Zelte, Bauruinen. Viele werden in Notunterkünfte vermittelt und teilen mit Kollegen vorübergehend ein Zimmer. Unzählige wohnen in unsicheren Wohnverhältnissen, unangemeldet bei Familienmitgliedern, Freunden oder Lebenspartnern, solange der Hausfriede währt. Wohnungslos zu sein, ist immer noch überwiegend ein männliches Schicksal. Man verzeihe mir darum, dass ich deshalb im Folgenden auf feminine Endungen verzichte.

Drei Erklärungen sind mir begegnet, warum Menschen auf der Straße leben. Die eine besagt, diese Menschen würden die Freiheit und das alternative Leben einer festen Wohnung vorziehen. So kenne ich tatsächlich jemanden, der in einer Gartenhütte übernachtet, sich einen Lederschurz genäht und einen Irokesenschnitt zugelegt hat. Aus seinem Mund freilich babbelt er hessisch. Manche tragen auch Cowboyhüte und »verzieren« so ihre Lebensweise.

Eine zweite Erklärung, sieht den Grund für Wohnungslosigkeit in der unbarmherzigen Leistungsgesellschaft, die keine Menschen duldet, die etwas anders sind und nicht genau die Leistung bringen, die dazu in die Lage versetzt, eine eigene Wohnung bezahlen zu können. Solange es kein Grundrecht auf Wohnen gibt, wie es zum Beispiel die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe seit Langem fordert, werden Menschen auf der Straße leben.

Die dritte Erklärung besteht darin, dass Wohnungslosigkeit immer selbst verschuldet sei und oft labile oder schiefe Charaktere ereile.

Meiner Erfahrung nach kommt das erste Motiv so gut wie nicht vor. Bei allen sich alternativ gebenden Menschen erfuhr ich eine Geschichte, die hinter der Fassade auftaucht und von unfreiwilliger Obdachlosigkeit erzählt. Die »exotische« Lebensweise ist stets eine nachträgliche Interpretation, die versucht, Ruhe ins Leben zu bringen.

Es bleiben die beiden anderen Erklärungsversuche. Die gesellschaftliche und die persönliche Interpretation geben sich in regelmäßigem Rhythmus von einigen Jahren das Zepter in die Hand. Mir scheint, die auf die individuelle Situation bezogene Interpretation von Wohnungslosigkeit ist noch stark, wird aber zurzeit wieder von der gesellschaftlichen Interpretation abgelöst. Man wird wohl immer beide Seiten sehen müssen. Es gibt Fälle, in denen ich mehr die persönlichen Unfähigkeiten sehe, in anderen scheinen mir die äußeren Umstände zu überwiegen. Doch unabhängig vom Grund für die Wohnungslosigkeit: Im Gesetz heißt es eindeutig, dass jede Armut Recht auf Hilfe hat, ob selbst verschuldet oder fremd verschuldet.4

Hilfen für wohnungslose Menschen

Am Beispiel von Unterkunft, Verpflegung, ärztlicher Versorgung und Hygiene möchte ich den täglichen Kampf um die Grundbedürfnisse und die Hilfsmöglichkeiten aufzeigen.

Unterkunft

Die klassische erste Hilfe für wohnungslose Menschen ist die Unterkunft. Größere Kommunen unterhalten Übernachtungsstätten, in denen auch soziale Beratung angeboten wird. Ihre Aufgabe ist es, die Kontakte zu Arbeitsvermittlung, Gesundheitssorge und Arbeits- beziehungsweise Sozialamt herzustellen. In den größeren Städten sind diese Hilfen teils sehr ausdifferenziert. Übernachtung, Tagesaufenthalte mit Essmöglichkeiten und Duschen, medizinische Versorgung, Arbeitsämter und Sozialberatung liegen dann in verschiedenen Händen. Die Hilfsmöglichkeiten in den Städten mögen zwar größer sein, doch die Wege sind weiter. Je größer die Stadt, desto länger auch die Wartezeiten. Menschen, die in Wohnungsnot geraten, haben Recht auf Hilfe. Oft heißt es auf der einen Seite: »Die kriegen doch alles!« Und auf der anderen Seite wird gesagt: »Da hilft dir keiner!« Ich vermute, die Wahrheit liegt in der Mitte. Denn das Recht, das auf dem Papier steht, bekommt man erst nach einigen bürokratischen Hürden. Vorher müssen zwei Dinge geklärt sein. Kann man sich ausreichend selber helfen? Gibt es nahe wohlhabende Verwandte, die eventuell unterhaltspflichtig sind?

Es gab einen 60-Jährigen, der auf der Straße lebte. Sozialarbeiter wollten mit ihm zum Sozialamt gehen, damit er etwas Geld bekomme. Der Mann erklärte jedoch, das sei sinnlos, er bekomme keine staatliche Unterstützung. Das konnten die Sozialarbeiter nicht glauben und versuchten es dennoch. Es stellte sich heraus, dass der hochbetagte Vater des Wohnungslosen noch lebte und ausgesprochen wohlhabend war. Er hätte also für ihn sorgen müssen. Der Sohn lehnte das ab. So ging er leer aus, blieb auf der Straße und ließ sich von Passanten »das tägliche Brot« geben.

Ähnlich ergeht es so manchem, der nicht möchte, dass seine Frau oder seine Kinder von seinem Schicksal erfahren. Er würde sich zu sehr schämen, wenn sie für seinen Unterhalt aufkommen müssten. Von den Verwandten wird aber je nach Reichtum nur eine geringe Beteiligung verlangt.

»Der Sozialstaat funktioniert nur zwischen 9 und 11 Uhr«, lautet ein Spruch. Das kommt der Wahrheit nahe. Ich weiß, sollte jemand wie ich kurzfristig in Geldnot geraten, könnte ich rund um die Uhr einen Geldautomaten aufsuchen und mir etwas ziehen. Außerdem hätte ich Verwandte, Freunde und liebe Nachbarn, die mir bestimmt kurzfristig aushelfen würden. Irgendjemanden würde ich immer erreichen. Wohnungslose sind aber so weit gekommen, dass sie diese Möglichkeit nicht mehr haben. So bleibt nur der Gang zu einem Amt, der so mühsam sein kann, dass sie ihn abbrechen und meinen, mit dem Sammeln von Pfandflaschen oder mit Betteln besser zurechtzukommen.

Seitdem die Pfandpflicht für Flaschen eingeführt wurde, ist das Leergutsammeln für viele die Einnahmequelle geworden. Was für die Umwelt erfunden wurde, wurde den Armen zum Segen!

Es ist ein Märchen, dass Arbeitsunwillige einfach »zum Amt gehen« können und Geld kriegen. Wer ein Arbeitsangebot ablehnt, dem wird das Geld erst gekürzt und dann ganz gestrichen. Arbeitslust oder -unlust spielen keine Rolle. Und seien wir ehrlich: Oft genug wollen auch wir nicht arbeiten und tun es unwillig nur deshalb, weil die Konsequenzen sehr hart wären. Darüber ärgern wir uns nicht. Doch bei Wohnungslosen ist man verärgert, wenn sie sagen: »Ich will nicht arbeiten!«

Die Notunterkünfte können in Großstädten ziemlich groß ausfallen. Selbstredend werden dort keine Bedingungen wie im Hotel geboten. Mehrbettzimmer sind normal. Das allzu enge Wohnen mit mehreren Zimmergenossen, manchmal mit Kollegen, die es mit der Hygiene nicht so genau nehmen oder alle zwei Stunden nachts ihren Alkoholpegel auffrischen müssen, damit sie nicht in einen gefährlichen Entzug kommen, ist keine gute Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Ich bin immer wieder erstaunt, dass es nicht viel öfter zu Auseinandersetzungen kommt. Man hört ja von Polizei- und Krankenwageneinsätzen und manchmal von Bränden in Notunterkünften. Das ist bedauerlich und auch ein Grund, warum viele es vorziehen, draußen im Freien zu schlafen. Wenn sie gut ausgerüstet sind und mit allen Kleidern in einen dicken Schlafsack schlüpfen und unter einer Überdachung regen- und windgeschützt liegen können, geht das auch im Winter. Die Hardliner sagen mir öfter: »Solange es keine minus 20 Grad hat, geht das gut. Da hab ich meine Ruhe!«

Verpflegung

Die zweite Hauptaufgabe der Wohnungslosenhilfe ist die Sicherstellung der Ernährung. Das Geld der Arbeitslosenhilfe, umgangssprachlich Hartz IV genannt, oder der Sozialhilfe, die manche auch »Stütze« nennen, soll dazu dienen, sich mit den Dingen des täglichen Lebens selbst zu versorgen. Wenn da Küchen wären, in denen man sparsam kochen könnte, oder wenn da nicht die Zigaretten wären, auf die man nicht verzichten kann, würde das vielleicht sogar reichen. So aber bewahrheitet sich der Spruch »Am Ende des Geldes ist noch so viel Monat übrig«.

Und die vielen, die gar kein Geld bekommen? Damit sie alle dennoch einigermaßen über die Runden kommen, gibt es vielerorts organisierte Essensausgaben, teils kostenlos, teils für einen kleinen Beitrag, der die Kosten nicht deckt. Das ist in eher ländlichen Gebieten in den Unterkünften mitorganisiert, in den Städten sind diese Angebote oft ausgelagert. Das heißt: Essen gibt es nicht in den Unterkünften, sondern in den Tagesstätten, die man dazu extra aufsuchen muss.

Ärztliche Versorgung

Es ist schwierig für wohnungslose Menschen, sich in unserem Gesundheitssystem zurechtzufinden. Wer Bezüge vom Arbeits- oder Sozialamt erhält, wird auch in einer Krankenkasse angemeldet. Sobald der Antrag bei einer Krankenkasse bearbeitet und der Bewilligungsbescheid angekommen ist, kann der Patient dann wie jedermann zu einem Arzt seiner Wahl. Doch wohnungslose Menschen passen nicht so recht in das Wartezimmer einer Arztpraxis. Die meisten gehen dort nicht hin. Seit den 90er-Jahren werden darum eigene Ambulanzen für diese Klientel gegründet, die teils von der öffentlichen Hand (Kommunen, Landkreise) unterstützt, größtenteils aber von ehrenamtlichen Fachkräften betrieben werden, etwa von Ärzten und Ärztinnen oder Krankenpflegekräften im Ruhestand. Zunehmend kommen in diese Ambulanzen auch Menschen, die keine Krankenversicherung vorweisen können, was vom Gesetz her eigentlich gar nicht sein dürfte.

Heute ist sogar die Mehrheit unserer Patienten nicht krankenversichert. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen sind mit dem Slogan »Fordern und Fördern« die Anforderungen für die Arbeitslosen auf den Arbeitsämtern verschärft worden, sodass noch weniger Menschen dort hingehen und damit automatisch aus der Krankenversicherung herausfallen. Oftmals realisieren das die Betroffenen nicht rechtzeitig. Manche Menschen sind psychisch so schwer belastet, dass sie die Ämtergänge nicht schaffen. Wieder andere können nicht in Deutschland versichert werden, weil sie aus anderen Ländern kommen und dort versichert sein müssten, was aber meist nicht klappt. Wer nicht versichert ist, hat in unserem Gesundheitssystem schlechte Karten. Aus humanitären Gründen muss jeder schwer Kranke behandelt werden. Es ist aber für uns immer schwierig, Nichtversicherte in eine notwendige Behandlung zu vermitteln. Zwar müssen Notfälle von Krankenhäusern behandelt werden. Doch alle, die nicht als Notfälle gelten, sind nur schwer zu Fachärzten oder in ein Krankenhaus zu vermitteln. Die behandelnden Ärzte und Krankenhäuser kämpfen dann oft um die Erstattung der entstandenen Kosten, für die keine Krankenversicherung zuständig ist. Nicht selten brechen die Patienten die Behandlung aus Furcht vor der hohen Rechnung ab, die man ihnen aushändigt, obgleich kaum Aussicht besteht, dass diese Rechnung beglichen wird. Es heißt oft, in Deutschland würden alle Menschen medizinisch gleich behandelt. Das stimmt schon lange nicht mehr! Aus zwei Klassen im Gesundheitssystem sind sogar drei Klassen geworden: Privatpatienten, Kassenpatienten und Nichtversicherte.

Wenn das medizinische Personal in seiner knappen Zeit in unserem ökonomisch immer enger gestrickten Gesundheitssystem Nichtversicherte behandelt, die zudem besonders schwierig sind wegen ihrer Verwahrlosung, ihrer Suchtkrankheiten, ihrer unberechenbaren Verhaltensweise oder ihrer fremden Sprache – wie soll das gutgehen? Das bringt den ganzen Stationsablauf durcheinander, die Geschäftsleitung sitzt den Ärzten wegen der Kosten im Nacken, und die Mitpatienten verlangen, in andere Zimmer verlegt zu werden. Das mag zwar nicht immer so sein, doch es ist ein typisches Problem.

Wir sind in der Straßenambulanz nicht unbedingt menschlicher oder besser, aber wir haben die Bedingungen, die uns die Behandlung von Patienten mit besonderen sozialen Schwierigkeiten ermöglichen. Die Stadt Frankfurt unterstützt jede unserer Behandlungen, sodass wir ohne finanzielle Nachteile Nichtversicherte behandeln können. Wir können uns mehr Zeit für den Einzelnen nehmen und unsere Patienten brauchen bei uns keinen Termin. Sie können einfach kommen, müssen dafür aber Zeit mitbringen, die sie meist haben. Gut, wenn sie dann auch die Geduld haben, die sie brauchen, bis sie drankommen. Ärzte und Ärztinnen aus dem allgemeinärztlichen, dem psychiatrischen und dem zahnärztlichen Bereich bieten ihre Hilfe an. Dazu haben wir die Möglichkeiten der Pflege mitsamt Kleiderkammer integriert und stehen in engem Kontakt mit vielen Diensten, die die soziale Problematik weiter bearbeiten können. Weil unsere Arbeit die Herzen rührt, können wir mit Geldspenden und mit hoch motivierten ehrenamtlichen Fachkräften arbeiten. Normalen medizinischen Einrichtungen fehlen all diese Ressourcen.

Hygiene

Sie mögen sich fragen, warum sich viele wohnungslose Menschen selten waschen. Das täuscht erst einmal. Die meisten Menschen ohne Wohnung, die Sie auf der Straße treffen, unterscheiden sich nicht äußerlich von uns. Sie sind nicht als Wohnungslose erkennbar. Es ist eine Minderheit, die auffällt – das aber deutlich. Für Menschen, die keinerlei Unterkunft haben, ist es nicht so einfach, sich täglich zu pflegen. Möglichkeit zur körperlichen Hygiene finden diese Menschen in den Unterkünften. Sie können auch in kleinem Maße frische Kleidung in ihrem Spind verstauen. Doch wer auf der Straße lebt, wird schneller schmutzig und wird kaum unter den wenigen Habseligkeiten auch noch frische Kleidung mitnehmen. Auch die Tagesstätten bieten Duschmöglichkeiten und gebrauchte Kleidung an, die fast ausschließlich von Mitbürgern gespendet wird. Doch die Zahl der Bedürftigen ist dermaßen angestiegen, dass man die Öffnungszeiten der Duschen einschränkt beziehungsweise Wartelisten anlegt. Dasselbe gilt für die Kleiderkammern. Bei der Kleiderausgabe will man verhindern, dass ganze Säcke auf dem Flohmarkt verkauft werden, wie es manche ganz Mittellose machen, um irgendwie zu Einkünften zu kommen. Darum geht man mit der Ausgabe restriktiver um. Kleidung gibt es zwar genug. Doch sie soll dem direkten Gebrauch zugutekommen, sonst gehen diejenigen leer aus, die sich nicht durchsetzen können.

Ein anderer Aspekt der Hygiene sind aber auch unsere Idealvorstellungen. Erst in der Neuzeit, mit dem größeren Bewusstsein der Individualität, kam die Einstellung auf, dass man nicht riechen dürfe, quasi »geruchlich unsichtbar« sein müsse, es sei denn durch künstliches Parfüm. Der Stallgeruch war bis dahin eine normale Sache.5 Inzwischen achten wir so sehr auf Hygiene, dass wir eher in Gefahr geraten, an zu viel Sauberkeit als an zu viel Schmutz zu erkranken. Seift man sich nämlich täglich die natürliche Fettschicht (und damit den Geruch) von der Haut ab, verliert man ihren Schutz. Viele Putzmittel sind schädlicher als der Schmutz, der weggeputzt wird. Wer auf der Straße lebt, kann meist dem hohen Ideal der Sauberkeit und Geruchlosigkeit nicht gerecht werden. Das ist weniger ein Problem der Gesundheit als der sozialen Verträglichkeit. In unserer Arbeit müssen wir täglich Wunden verbinden. Der Patient darf erst duschen, die Wunden werden gründlich gereinigt und mit desinfizierender Wundlösung von möglichst vielen Keimen befreit, bevor sie keimarm verbunden werden. Das ist Standard medizinischer Wundbehandlung. Oft sehen wir aber stark verschmutze Wunden, manchmal mit wochenlang nicht gewechselten Verbänden, die – o Wunder! – dennoch nicht besonders entzündet sind. Das widerspricht unseren Erwartungen. Wir bleiben natürlich trotzdem bei unseren Standards.

Auch kommt es immer wieder vor, dass öffentliche Mülleimer nach Essensresten durchforstet werden. Uns wird schon schlecht, wenn wir dabei zusehen oder auch nur daran denken. Doch ich kenne keinen Wohnungslosen, der sich damit den Magen verdorben hätte. Ich möchte gewiss nicht zur Nachahmung aufrufen, doch unsere Ängste entsprechen oft nicht der Realität.

Das gilt auch, wenn eine Wohnung so vermüllt ist, dass überall verschimmelte Essensreste verteilt sind und entsprechendes Ungeziefer angezogen wird. Es ist nicht erwiesen, dass dies die Gesundheit so sehr beeinträchtigt, dass man den Bewohner vor dem Müll zwangsweise retten müsste. Nur wenn er in seiner Wohnung so viele Dinge stapelt, dass der Boden droht, durch das Untergeschoss zu brechen, muss eingeschritten werden.

Andererseits müssen auch die Mitbewohner im Haus nicht alles stillschweigend ertragen. Es ist natürlich die erste Wahl, Gespräche mit dem Messie zu führen, der seine Wohnung so sehr vermüllt, dass die Nachbarn ernstlich gestört sind. Gespräche allein bringen aber meist nicht die Abhilfe, weil ein Messie sich nicht so einfach ändern kann. Der Vermieter kann dem Mieter nach Abmahnungen bei zu großer Geruchsbelästigung kündigen. Besser ist es aber, vorher den psychosozialen Dienst der Stadt um Hilfe zu bitten, um eine Lösung zu finden, die nicht gleich für den Betroffenen zur Wohnungslosigkeit führt. Nicht selten können geschulte Mitarbeiter mit dem Bewohner die Wohnung Stück für Stück aufräumen und die Lage entspannen. Schnelle Lösungen darf man aber nicht erwarten. Den Mitbewohnern wird viel Geduld abverlangt. Deshalb ist es immer besser, die Probleme anzusprechen, bevor sie ganz unerträglich geworden sind. Leider geschieht dies jedoch allzu oft nicht!