INHALT


EINLEITUNG
Nathan, der Prophet des Sonnenaufgangs


DER ERSTE SONNENAUFGANG
Der Wind


DER ZWEITE SONNENAUFGANG
Die Einsamkeit


DER DRITTE SONNENAUFGANG
Die Liebe


DER VIERTE SONNENAUFGANG
Das Leben


DER FÜNFTE SONNENAUFGANG
Der Schmerz


DER SECHSTE SONNENAUFGANG
Die Wolken


DER SIEBTE SONNENAUFGANG
Das Vergessen


DER ACHTE SONNENAUFGANG
Das Wissen


DER NEUNTE SONNENAUFGANG
Die Wahrheit


DER ZEHNTE SONNENAUFGANG
Die Freiheit


DER ELFTE SONNENAUFGANG
Die Vollkommenheit


DER ZWÖLFTE SONNENAUFGANG
Gott


ÜBER DEN AUTOR

Für Nathan,

den Propheten,

der auf dem Grunde

Deines Herzens wohnt.

DER ZWÖLFTE SONNENAUFGANG

Gott

EINLEITUNG

Nathan, der Prophet des Sonnenaufgangs

DER ERSTE SONNENAUFGANG

Der Wind

DER ZWEITE SONNENAUFGANG

Die Einsamkeit

DER DRITTE SONNENAUFGANG

Die Liebe

DER VIERTE SONNENAUFGANG

Das Leben

DER FÜNFTE SONNENAUFGANG

Der Schmerz

DER SECHSTE SONNENAUFGANG

Die Wolken

DER SIEBTE SONNENAUFGANG

Das Vergessen

DER ACHTE SONNENAUFGANG

Das Wissen

DER NEUNTE SONNENAUFGANG

Die Wahrheit

DER ZEHNTE SONNENAUFGANG

Die Freiheit

DER ELFTE SONNENAUFGANG

Die Vollkommenheit

DER AUTOR

Stefano Biavaschi

geboren 1955, ist Lehrer und Journalist in Mailand, wo er auch in der katholischen Jugendarbeit und in der Lehrerfortbildung tätig ist. Er schreibt für die großen italienischen Zeitungen und hat einige Gedichtbände veröffentlicht.

Stefan Biavaschi

Der Prophet des Windes

Zwölf Weisheitsgeschichten








Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Aus dem Italienischen von Carina Wörner


Italienische Originalausgabe:

Stefano Biavaschi: Il Profeta del Vento

(Collana Letteraria 9)

© Fede & Cultura, I-37138 Verona

ISBN 978-88-89913-94-9

www.fedecultura.com


© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2013/2016

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Dr. Ulrike Strerath-Bolz

Umschlaggestaltung: Dr. Matthias E. Gahr

Umschlagfoto: Undine Aust / Fotolia.com

ISBN 978-3-89680-841-7(print)

ISBN 978-3-89680-984-1 (epub)

www.vier-tuerme-verlag.de

Nathan, der Flötenspieler, war ein wenig traurig an jenem Tag. Schon seit geraumer Zeit waren ihm die Melodien ausgegangen, und er wusste nicht, welche Weisen er für die Seinen noch spielen sollte.

Wie immer setzte er sich ans Meeresufer und beobachtete den Horizont. Inzwischen kannte er ganz genau den Punkt, an dem sich die Sonne langsam aus dem Wasser erheben würde. »Gleich wird der Wind zu flüstern beginnen«, sprach Nathan zu sich selbst. Und tatsächlich, als der erste Sonnenstrahl übers Wasser hüpfte, zerzauste ihm ein Windhauch das Haar.

So war es immer: Sobald die Sonne aufging, erhob sich der Wind und blies immer stärker, bis sich die Sonne vom Horizont gelöst hatte. Und dann flaute der Wind plötzlich wieder ab.

»Es scheint fast, als würde er aus der Sonne kommen«, dachte Nathan, atmete tief ein und lehnte sich mit dem Rücken an einen Felsen. Seine Schilfrohrflöte hielt er in den Händen.

Als die aufgehende Sonne einen Halbkreis über dem Wasser bildete, frischte der Wind auf und peitschte ihm ins Gesicht.

»Heute mag ich nicht spielen«, sagte er. Er betrachtete seine Flöte. Lächelnd hielt er sie dem Wind entgegen. »Warum spielst du nicht heute?«

Die Luft strömte durch das Instrument, ließ es vibrieren und entwich gleichzeitig durch alle Grifflöcher. Überrascht stellte Nathan fest, dass so etwas wie ein Ton entstand. Also versuchte er, einige Grifflöcher mit seinen Fingern zu schließen, und der Wind begann anders zu pfeifen. Aber es war noch keine Musik.

Nathan neigte seine Flöte etwas, drehte sie zum Wind, doch er suchte vergeblich nach der richtigen Position. Als er gerade aufgeben wollte, kam ihm der Gedanke, das Instrument der Sonne entgegenzuhalten. Sofort umwehte ihn eine liebliche Melodie. »Hei! Du kannst ja wirklich spielen!«, sagte Nathan lachend. »Lass uns sehen, welche Weisen du zustande bringst. Ich werde die Finger bewegen, und du komponierst.«

Der Wind begann Töne zu erzeugen; er sprang mit unterschiedlicher Stärke von einer Note zur anderen und spielte dabei Klänge, die Nathan noch nie zuvor gehört hatte.

Verwundert stellte er fest, dass viele Töne harmonisch waren, andere hingegen hörten sich an wie Gemurmel, Schreie, Ächzen, Flüstern. So lange, bis sich ein Ton von den anderen unterschied und dort, zwischen Meer und Felsen, eine Stimme erklang:

»Nathan!«

Die Erinnerung an jene Stimme, die er am Ufer des Meeres vernommen hatte, beunruhigte Nathan den ganzen Tag. Hatte er wirklich seinen Namen gehört?

Nur zu gern hätte er daran gezweifelt, aber diese Stimme hatte er nicht nur mit seinen Ohren gehört: Es war, als hätte sie seinen ganzen Körper durchströmt. Erschrocken hatte er daraufhin seine Flöte zurückgezogen und war nach Hause zurückgekehrt.

Unterwegs sprach er zu sich selbst: »Morgen werde ich nicht mehr an den Strand gehen. Die Inspirationen, die mir fehlen, kann ich auch im Wald oder auf dem Hügel finden.«

Er verbrachte eine schlaflose Nacht, und als die Morgenröte am Himmel aufzog, war Nathan schon wieder auf den Beinen. Er nahm seine Flöte und ging nach draußen. Die klare Luft gab ihm Sicherheit.

»Wovor habe ich eigentlich Angst?«, dachte er auf dem Weg zum Meer. »Vor dem Wind? Auch wenn der Wind wieder durch meine Flöte erklingen sollte, erklingt nicht auch das Meer durch das Auswaschen der Felsen? Erklingt nicht auch der Sand durch die Brandung der Wellen?«

Als Nathan jedoch das Ufer erreicht hatte und den Horizont beobachtete, fühlte er sich unruhig; es war ihm, als würde er beobachtet. Der erste Lichtstrahl gab ihm das Zeichen für das Auffrischen des Windes. Nathan streckte den Arm und richtete seine Flöte aus.

Der Wind begann stärker zu blasen. Zischend und pfeifend wirbelte er in das Instrument. Nathan umfasste es fester und versuchte, den Rest seines Körpers zu entspannen. Nach einigen Augenblicken durchzogen die ersten Töne die Luft.

»Einige scheinen tatsächlich tief in mir zu erklingen«, dachte er. In der Ferne sah er eine Schar Möwen, die von der Meeresoberfläche zum Flug abhob. Er fühlte sich ganz und gar im Reinen mit sich. Er hatte schon immer die Poesie der Natur geliebt. Von allen Dingen hatte sie ihm immer den größten, schönsten Zauber geschenkt. Er schloss die Lider und versuchte, sich ganz zu versenken.

»Nathan!«

Erschrocken öffnete Nathan die Augen. »Wer bist du?«, schrie er lautlos und zog auf der Stelle seine Flöte zurück. Sie hörte sofort auf zu spielen.

Tausend Gedanken wirbelten Nathan durch den Kopf; im Herzen aber spürte er ein Gefühl des Friedens. Diese Stimme und auch diese Musik – sie hatten beide denselben Zauber wie die Dinge, die er beobachtete. Auch wenn sie völlig neu für ihn waren, erinnerten sie ihn doch an die Gefühle, die ihn durchströmten, wenn er seine besten Melodien komponierte. Langsam hob er den Arm und hielt zuversichtlich seine Flöte wieder in den Wind.

»Nathan! Fürchte dich nicht. Warum fürchtest du dich davor, neue Töne zu hören, wo du dich doch selbst beklagst, für deine Flöte keine Musik mehr zu haben?«

Nathan erstarrte in der Stille.

»Wenn du weiterhin das spielen möchtest, was du immer gespielt hast, Nathan, dann kannst du das tun. Aber bist du sicher, dass du den Deinen nicht mehr schenken kannst?«

Nathan wusste nicht, was er denken sollte. Was meinte diese Stimme? Was er zu komponieren vermocht hatte, das hatte er gespielt. Was sonst könnte er auf seiner Flöte zum Klingen bringen?

»Die größte Musik kennst du noch nicht, Nathan. Siehst du denn nicht, was den Deinen alles fehlt? Siehst du denn nicht, dass viele Menschen leben, ohne ihren Reichtum zu kennen? Aber wenn du spielst, kannst du ihnen das Leben schenken.«

»Ich bin nur ein Flötenspieler«, sagte Nathan zaghaft. »Wie kann ich mit meinen Tönen den Menschen das Leben schenken?«

»Alles, was du tust, Nathan, alles, was du sagst, jeder Ton, den du dir denkst und mit anderen Tönen zusammensetzt, trägt den Sinn aller Dinge in sich. Mit seiner eigenen Vollkommenheit. Den Sinn aller Dinge, Nathan. Wenn du mit dem Flötenspiel den Deinen den Sinn der Dinge übermitteln kannst, wirst du den Menschen Leben schenken. Wenn aber deine Weisen keinen Sinn mehr in sich tragen, dann werden sie denen, die du liebst, auch kein Leben schenken. Sei ihr Beschützer, Nathan, denn wenn du ihnen das Leben nicht schenkst, dann sind sie dem Tod ausgeliefert. Niemand kann ohne Sinn leben. Und wenn du sie liebst, dann verurteile sie nicht zu einem Leben ohne Sinn.«

»Ich kann das nicht«, wandte Nathan ein. »Ich bin kein Redner. Ich kenne nur einige Melodien. Und nur die kann ich spielen. Unter den Meinen gibt es sicher bessere Flötenspieler.«

»Aber es ist deine Aufgabe, Nathan. Du kannst sie nicht auf andere übertragen. Fürchte dich nicht, ich werde dir die richtigen Worte in den Mund legen. Ich werde durch dich die Musik spielen, für die du geboren bist. Du musst dich nur ganz den Tönen hingeben, die du hörst. Du musst nur diesen Gesang in dich aufnehmen. Und jedes meiner Worte wird bei dir bleiben, du wirst keines davon je wieder vergessen, Nathan. Diese Noten werden dir für immer übergeben. Sie werden in deinen Fingern bleiben, so lange du lebst.

Und wenn du spielst, wirst du mein Lied spielen, aber es wird dein eigenes Lied sein. Weil wir in diesem Moment eins sein werden. Wann immer du zum Sonnenaufgang an diese Stelle kommst, werde ich zu deinem Herzen sprechen, Nathan. Und du wirst alles verstehen. Denn alles, was das Herz berührt, erhellt auch den Geist. Und nachdem ich an zwölf Tagen zu dir gesprochen habe und du die sieben Schritte zur Vollkommenheit kennst, wirst du zu den Menschen gehen und spielen.«

Am nächsten Tag war Nathan sehr früh aufgestanden. Er hatte ein seltsames und wunderbares Gefühl in seiner Brust, eine ganz eigene Mischung aus Furcht und Freude. Er musste immerzu an all das denken, was ihm widerfahren war, und an das, was er gehört hatte.

Aber hatte er es wirklich gehört? Nathan konnte es einfach nicht glauben. »Warum ich?«, fragte er sich.