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Luis Antonio Gokim Tagle

Die Geschichte Jesu weitererzählen

Luis Antonio Gokim Tagle

Die Geschichte Jesu
weitererzählen

Aus dem Italienischen von
Gabriele Stein

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Dieses Buch enthält Katechesen, die der Verfasser auf den
Internationalen Eucharistischen Kongressen in Dublin
(2012) und in Québec (2008) gehalten hat, sowie einen
Vortrag vom Ersten Asiatischen Missionskongress in
Chiang Mai, Thailand (2006).

Titel der Originalausgabe:
Raccontare Gesù
Parola – Comunione – Missione
© EMI Editrice Missionaria Italiana, Bologna 2014

Deutschsprachige Ausgabe:
© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2015
Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand / Stefan Weigand
Umschlagmotiv: © KNA-Bild
Satz: Barbara Herrmann, Freiburg
Druck und Bindung: finidr s.r.o., Český Těšín
Printed in the Czech Republic

www.bibelwerk.de

ISBN 978-3-460-32142-7
eISBN 978-3-460-51002-9

Inhalt

Maria: Frau in Gemeinschaft mit dem Wort

Gemeinschaft im Wort Gottes

Gemeinschaft im Wort durch Maria

Die Eucharistie: Das Leben Christi für unser Leben

Das Opfer Jesu Christi

Der geistige Gottesdienst der Getauften

Authentische Anbetung

Mission in Asien: Die Geschichte von Jesus erzählen

»Die Geschichte« verstehen und Geschichten erzählen

Mission in Asien: Die Geschichte Jesu erzählen

Schluss

Anmerkungen

Maria: Frau in Gemeinschaft
mit dem Wort

Die Eucharistie ist die Gemeinschaft mit Christus und miteinander und bietet unserem Nachdenken unendlich viele Ansatzpunkte. Auf den folgenden Seiten werde ich mich mit der Gemeinschaft im Wort durch Maria befassen, und ich möchte dieses faszinierende Thema in zwei Teilen entwickeln. Im ersten Teil werde ich die Gemeinschaft im Wort Gottes behandeln und im zweiten über Marias Erfahrung der Gemeinschaft im Wort als Vorbild für die Kirche nachdenken.

Gemeinschaft im Wort Gottes

Wie sollen wir uns diesem Thema nähern? Vielleicht hilft uns ein Rückgriff auf die alltägliche menschliche Erfahrung. Wenn wir mit einem anderen Menschen in Verbindung treten wollen, dann tun wir das gerne durch ein Gespräch oder einen Dialog. Das geschieht so oft, dass wir uns die eigentliche Bedeutung eines solchen Vorgangs nur selten bewusst machen. Stellen Sie sich vor, jemand hat einen guten Film gesehen: Begeistert erzählt er seinem Freund davon, und der fühlt sich durch die positive Erfahrung des anderen dazu veranlasst, selbst ins Kino zu gehen. Anschließend bringen sie Stunden damit zu, über den Film zu reden, und kommen dabei immer wieder auch auf ihre eigenen Lebensgeschichten zu sprechen. Oder stellen Sie sich vor, jemand erlebt gerade, wie seine Ehe in die Brüche geht. Er ruft einen Freund an, der aufmerksam und mitfühlend zuhört und am Ende selbst ganz niedergeschlagen ist. Anschließend bringen die beiden Stunden damit zu, über ihre Sorgen zu reden, und jeder fühlt sich getröstet durch die Anwesenheit des anderen. Wir sehen also, dass menschliche Gemeinschaft normalerweise dann stattfindet, wenn jemand beginnt, eine Geschichte zu erzählen, und wenn ein anderer ihm zuhört, an seiner Erfahrung Anteil nimmt und sie sich zu eigen macht. In dem Austausch, der darauf folgt, wechseln und verändern sich ihre Rollen: Der Erzählende hört zu, der Zuhörer beginnt spontan zu erzählen. Zwei Menschen und ihre je einzigartigen Welten begegnen einander in einer Einheit, die größer ist als sie.

Dieser einfache Prozess, den wir Gemeinschaft im Wort nennen, ist das Herzstück des Mysteriums und der Sendung der Kirche und wird im ersten Johannesbrief in lebhaften Farben geschildert: »Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens. Denn das Leben wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Wir schreiben dies, damit unsere Freude vollkommen ist« (1 Joh 1,1–4).

Menschliche Gemeinschaft

Was der heilige Johannes hier beschreibt, ähnelt den oben erwähnten alltäglichen Erfahrungen einer Gemeinschaft zwischen zwei oder mehr Personen. Doch die Darstellung des heiligen Johannes betrifft einen besonderen Menschen, einen sogenannten Apostel, der seinem Zuhörer ein besonderes Wort verkündet. Ihr Gespräch erblüht in der Gemeinschaft miteinander, die in Wirklichkeit Gemeinschaft mit dem Vater und mit Jesus Christus ist, dem im Fleisch sichtbar gewordenen Wort. Was für ein großes Geheimnis, das sich da in einer ganz alltäglichen menschlichen Erfahrung entfaltet! Wir wollen uns etwas eingehender mit diesem schönen Text befassen.

Welches Wort teilt der Apostel mit seinem Zuhörer? Es ist das sichtbar gewordene Wort des Lebens, das beim Vater gegenwärtig ist. Das Wort, das der Apostel verkündet, ist Jesus Christus, das fleischgewordene Wort. Einfacher ausgedrückt: Das Wort des Apostels ist Jesus Christus. Das macht uns das Neue Testament unmissverständlich klar: Nach Pfingsten verkündete Petrus seinen Zuhörern die Person Jesu, des Nazoräers, den Gott gesandt hatte und der ans Kreuz geschlagen worden war, den Gott jedoch von den Toten auferweckt und zum Herrn und Messias gemacht hat (Apg 2,22–24.36). Petrus erklärte, dass wir im Namen Jesu gerettet werden (Apg 4,12). Doch wir dürfen nicht vergessen, dass Petrus Jesus verkündigen konnte, weil er ihn gehört, gesehen und berührt hatte.

Ein anderer großer Apostel, Paulus, wurde es nicht müde, immer nur von Jesus Christus zu sprechen. Obwohl er nicht zu den Zwölfen gehörte, war ihm dennoch die Gnade einer besonderen Offenbarung des Auferstandenen zuteilgeworden und hatte sein Leben von Grund auf verändert (Apg 9,1–19). Doch sein Wissen über das irdische Leben und Wirken Jesu fußte auf dem, was andere ihm von Jesus erzählt hatten. An die Korinther schrieb er: »Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe« (1 Kor 15,3). Seine Begegnung mit dem lebendigen Herrn und die Geschichte Jesu, die ihm erzählt worden war, hatten ihn darauf vorbereitet, Jesus als den Messias und Herrn zu verkündigen.

Der Apostel verkündet also, kurz gesagt, die Person Jesus Christi, die Geschichte seines Wirkens, Predigens und Heilens, das ganz auf das Reich Gottes ausgerichtet ist. Er erzählt, wie die Menschen Ihn ablehnten und kreuzigten und wie Gott Ihn vom Tod erweckt hat. Bei seiner Auferstehung wurde Jesus als der Gesalbte Gottes, ja als der göttliche Sohn Gottes geoffenbart, der in vollem Umfang über die Welt und ihre Zukunft herrscht. Ob nun Petrus, Paulus, Stephanus, Philippus oder Maria Magdalena – sie alle erzählen die freudige Geschichte von Jesus Christus und von der Bestimmung der Welt, die sich in Ihm, ihrem göttlichen Erlöser und Messias, erfüllt.

Der Apostel, das müssen wir festhalten, stellt Jesus objektiv dar. Doch dass er Fakten über Jesus weitergeben kann, beruht auf seiner persönlichen Erfahrung. Er hat Ihn gehört, gesehen, geschaut und berührt. Dank seiner Vertrautheit mit Jesus kann der Apostel Quelle einer historischen Verkündigung über Ihn sein. Das Objektive und das Subjektive, das Faktische und das Persönliche berühren einander. Die, die Jesus selbst gehört haben, können seine Geschichte glaubwürdig weitererzählen, sodass ihre Zuhörer Jesus an ihren Träumen, Freuden, Leiden, Hoffnungen, Enttäuschungen, Fragen und Weisheiten teilhaben lassen. Alle diese Dinge, aus denen ihre Welt besteht, bringen sie durch ihr Zuhören in die Gemeinschaft ein.