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Clariste Soh Moube

Die Falle
Heute bin ich stolze Afrikanerin

2. überarbeitete Auflage: Februar 2017

Die französische Originalausgabe erschien im Jahr 2011 unter dem Titel
»Le piège. Une de ceux!« bei Goutte de Sable Edition

© Verlag Neuer Weg
Mediengruppe Neuer Weg GmbH
Alte Bottroper Straße 42, 45356 Essen
verlag@neuerweg.de
www.neuerweg.de

Layout und Umschlag: Kämpferischer Frauenrat

CLARISTE SOH MOUBE

DIE
FALLE

HEUTE BIN ICH
STOLZE AFRIKANERIN

MIT EINEM VORWORT
VON AMINATA D. TRAORÉ

HERAUSGEBERINNEN: KÄMPFERISCHER FRAUENRAT
UND WELTFRAUEN IN DEUTSCHLAND
ELVIRA DÜRR, MONIKA GÄRTNER-ENGEL, ANNE WILHELM

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Danksagung

An meine Eltern, denen ich alles verdanke

Worte allein sind nicht genug, um euch meine Wertschätzung auszudrücken. Danke, dass Ihr mich als euer Kind in dieser Welt geleitet habt, und danke für die erbrachten Opfer. Ich danke euch für meine Erziehung und Bildung sowie die meiner Brüder und Schwestern.

Mein Dank gilt auch meinen Geschwistern, die mich stets unterstützt haben.

An Aminata Dramane Traoré: die Tante1, die Freundin, die sich immer wieder als solche bestätigt hat. Sie ist gleichzeitig meine Mentorin, der ich meine »Wiedergeburt« verdanke. Ich sage: »Initché ini baradji2.« Ich hoffe, lange genug zu leben, um dir meine Dankbarkeit zu zeigen und deinen noblen Kampf fortzusetzen.

Ich sage außerdem ein Dankeschön (!) an:

Onkel3 Diadie Yacouba Dagnoko, der mich als Erster ermutigte, dieses Buch zu schreiben, und dessen Kritiken und Vorschläge mir stets eine große Hilfe waren.

Amadou Diakité, Nathalie N’dela Mounier und Annick Thebia Melsan, meine ersten Lektoren und Korrektoren.

Thierry Baffou, der mich immer ermutigte und der mich motivierte, diese Biografie zu verfassen.

José Bové für seine wohlwollende und fürsorgliche Art.

Alle Mitglieder des FORAM, die uns, jeder auf seine Weise, seit unserer Rückkehr unterstützt haben.

Die großartigen Teams des CAHBA und die Teams aus Djenné, allen voran Azize Coulibaly, Valérie Ngo Biem, Assitan Keita.

Meine Weggefährtinnen, insbesondere Joseline und Aicha.

»Jo«, Joseph Mboutchung, für seine Hilfe und seine Freundschaft.

Alle, die – nah oder fern – mit mir während meiner Forschungsjahre zusammengearbeitet und mich unterstützt haben, ganz besonders Arielle Augry.

Die Familie Traoré und die Schwestern Méité, die mich in den Kreis ihrer Familie aufgenommen haben.

Zum Schluss möchte ich meinem außergewöhnlichen Ehemann und Vertrauten danken, denn ohne ihn wäre dies alles nicht möglich gewesen.

Clariste Soh Moube

1In ganz Afrika werden nicht nur Verwandte als Onkel oder Tante bezeichnet. Auch Fremde, die älter sind als man selbst, werden so genannt, um ihnen Respekt zu erweisen. (Anm. d. Ü.)

2»Danke dir, deinem Mann und deinen Kindern«

3Siehe die Anmerkung der Übersetzerin zu »Tante«

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Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Vorwort der Herausgeberinnen der deutschen Ausgabe

Vorwort der Herausgeberinnen zur zweiten Auflage

Vorwort von Aminata D. Traoré

Du sprichst von einem Krieg!

Der Anfang eines neuen Lebens

Zwischenspiel in der Elfenbeinküste

Von der Hoffnung zur Irrfahrt

Der Scheideweg

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Die Hölle der Abschiebung

Der neue Ausgangspunkt

Mein vorheriges Leben

Afrikanerin bin und bleibe ich

Und wenn sich wirklich etwas geändert hätte!

Nachwort

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Vorwort der Herausgeberinnen

Der Falle entronnen – eine stolze Afrikanerin engagiert sich für die Frauen der Welt

2010: Jean Ziegler, Schweizer Soziologe, Autor und UN-Beauftragter, empfiehlt den Pionierinnen der »Weltfrauen«4, Kontakt zu Aminata D. Traoré aus Mali zu suchen: »… eine der klügsten und engagiertesten Politikerinnen Afrikas«. Der Faden wird geknüpft und Aminata D. Traoré nach Deutschland zum Frauenpolitischen Ratschlag5 eingeladen. Sie schickt Clariste Soh Moube. In vielen Begegnungen erleben wir die stolze Afrikanerin – wie sie spricht, kämpft, lacht, tanzt, streitet, Mut macht und Grundsätze verficht.

2010: Clariste hört lange Diskussionen und viele Mitleidsäußerungen über die Beschneidung der Mädchen in Mali. »Ja …«, sagt sie, »ein großes Problem. Aber warum spricht hier niemand über die Zerstörung der eigenständigen Baumwollverarbeitung in Mali – und damit die Zerstörung der Existenzgrundlage zahlloser Frauen? Etwa, weil die EU massiv daran beteiligt ist? Wir möchten nicht diejenigen sein, als die andere uns definieren.«

2011: Clariste arbeitet im unmittelbaren Vorfeld der ersten Weltfrauenkonferenz in Caracas/Venezuela eng mit den deutschen Frauen zusammen. Viele begeisternde Erfahrungen, aber auch zahlreiche, nervenaufreibende Auseinandersetzungen. Clariste erlebt die 200 deutschen Brigadistinnen, die engagiert in der Vorbereitung tätig sind. »Solche selbstlosen, hart arbeitenden und lernbereiten Frauen aus Europa habe ich selten erlebt«, sagt sie. Aber sie kritisiert auch: »Ihr seid viel zu schnell enttäuscht, wenn euer Plan nicht hinhaut. Ihr kennt nicht den harten Überlebenskampf von Millionen Frauen der Welt. Immer und immer wieder müssen sie trotz aller Widrigkeiten weitermachen, sich durchkämpfen.«

2012: Clariste diskutiert mit uns über die möglichen Austragungsorte der zweiten Weltfrauenkonferenz. Wir sprechen über Sri Lanka, Indien, Nepal. Einwände kommen, Erfahrungen in Nepal: »Wir haben die chaotischen Verkehrsverhältnisse kennengelernt, die Umweltverschmutzung, die stundenlangen Stromausfälle.« Clariste ist ungehalten: »Wir wollen eine Konferenz der Basisfrauen der Welt – und ihr könnt euch nur europäische Konferenzbedingungen vorstellen? Das passt nicht zusammen! Das Wichtigste sind die Frauen, die die Gastgeberinnen sein werden.«

Clariste erzählt uns ihr Schicksal. Dass sie ein Buch darüber geschrieben hat. Wir lesen es – und sind begeistert. Das muss den Frauen in Deutschland zur Verfügung gestellt werden! So entstand die Idee für dieses Buch.

Heute ist Claristes Buch hochaktuell. Die Bilder von Flüchtlingen im Mittelmeer erschrecken und empören uns. Welche Hoffnungen sterben dort täglich? Wie viele Menschen finden den Tod oder enden in erbärmlichen Flüchtlingslagern? Zehn lange Jahre hat Clariste selbst diesen Weg der trügerischen Hoffnungen beschritten, sie wollte in Europa Karriere machen als Fußballerin und ein besseres Leben finden, ihre Familie unterstützen. Schließlich geht sie den unbequemeren Weg: Sie bleibt in Afrika! Afrika wird nur dann eine lebenswerte Zukunft haben, wenn seine Jugend sich dafür engagiert. Dafür steht Clariste Soh Moube.

Gemeinsam mit ihr bereiten wir inzwischen die zweite Weltfrauenkonferenz der Basisfrauen vom 13. bis 18. März 2016 in Kathmandu/Nepal vor. »Frauen der Welt erklimmen die höchsten Berge.« In diesem Sinn wünschen wir dem Buch eine große Verbreitung.

Berlin/Gelsenkirchen, im Januar 2014
Elvira Dürr, Monika Gärtner-Engel, Anne Wilhelm

4»Weltfrauen« nennen sich stolz die Frauen, die sich für den Prozess der Weltfrauenkonferenzen (WFK) der Basisfrauen engagieren. Gemeinsam organisierten sie die 1. WFK 2011 in Caracas/Venezuela und die 2. WFK 2016 in Nepal.

5Der »Frauenpolitische Ratschlag« existiert seit 1996 und wurde inzwischen mit jeweils über 1000 TeilnehmerInnen zum größten selbstorganisierten frauenpolitischen Event in Deutschland. Er ist – mit stets zahlreichen internationalen Gastfrauen – eine überparteiliche, demokratische und finanziell unabhängige Plattform des Meinungs- und Erfahrungsaustauschs der kämpferischen Frauenbewegung.

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Vorwort der Herausgeberinnen zur zweiten Auflage

Die erste Auflage ist verkauft! Wir sind stolz und glücklich, dass wir die verbesserte zweite Auflage herausgeben können.

Mit dem Verkauf der ersten Auflage wurde nicht nur finanziell die erfolgreiche zweite Weltfrauenkonferenz der Basisfrauen im März 2016 in Kathmandu/Nepal gestärkt. Die Weltfrauenkonferenz wurde auch breit bekannt gemacht und damit ihr Prinzip der finanziellen Unabhängigkeit bestätigt.

Die zweite Weltfrauenkonferenz der Basisfrauen war ein großer Schritt vorwärts in der Entwicklung der kämpferischen Frauenbewegung weltweit: Frauen aus 61 Ländern waren an diesem Prozess beteiligt. Frauen aus 48 Ländern haben teilgenommen. Der internationale Zusammenhalt ist gewachsen! Und ihre Prinzipien der Überparteilichkeit, der breiten Demokratie, der finanziellen Unabhängigkeit und der weltanschaulichen Offenheit sind zu Markenzeichen der Weltfrauen geworden.

Aus einer Bewegung zur Vorbereitung der Weltfrauenkonferenz ist eine Bewegung der Weltfrauen geworden.

Der Verkauf der zweiten Auflage wird einen Beitrag leisten zur Finanzierung der dritten Weltfrauenkonferenz 2021 – auf einem anderen Kontinent. www.worldwomensconference.com.

Dieses Buch spricht nicht nur über die Flüchtlinge. Hier bekommen die Leserinnen und Leser tiefe Einblicke aus erster Hand, erfahren Konkretes über die Lebensbedingungen afrikanischer Flüchtlinge und die Gründe, warum mehr denn je ihre Heimat verlassen müssen. Wir erleben mit, welche Dramen sich abspielen, bevor sie das Mittelmeer erreichen, in dem Tausende von ihnen bei der Überfahrt ertrinken – oder in Griechenland landen und sofort wieder abgeschoben werden. Claristes Buch ist wunderbar geeignet, hinter die Kulissen zu schauen und die Stärke der Frauen auch in solch schwierigen Lebenssituationen zu erkennen. Angesichts der aktuellen Situation, in der weltweit 65 Millionen Menschen – so viele wie seit dem II. Weltkrieg nicht – auf der Flucht sind, sind die Erfahrungen der fast zehnjährigen Flucht von Clariste Soh Moube eindrücklich, schockierend, aktueller und brisanter denn je. Dabei sind die Bedingungen der Frauen besonders anzuprangern! Claristes Buch macht Mut, den Kampf aufzunehmen – für ein besseres Leben ohne Hunger, Krieg und Ausbeutung: in Europa, in Afrika – weltweit.

Die Flüchtlingspolitik der EU ist in der Krise! Europa wird abgeriegelt, damit keiner hereinkann, und dabei ist es wesentlich die Politik der EU, die auch afrikanische Menschen zur Flucht treibt: In Mali – wo Clariste lange lebte – begann vor allem Frankreich einen Krieg, an dem sich immer offener auch Deutschland beteiligt. Dabei geht es um Rohstoffe: Gold, seltene Erden, Wasser und Land. Aber eben auch darum, wer dort auf diese Rohstoffe den entscheidenden Zugriff bekommt, denn in den letzten Jahren hat der Rivale China einiges an Land und Bergrechten aufgekauft.

Wir danken an dieser Stelle allen, die sich für die Herausgabe und den Vertrieb von »Die Falle« engagiert haben:

der Stadtfrauenkonferenz Berlin, die im September 2012 eine erste Lesung organisierte und die Herausgabe des Buches initiierte; namentlich Anna-Lin Karl (1980–2016), Michèle Pauthe, Martina Hering-Motaleb, Christiane Fiebing

den Übersetzerinnen, dem Lektor und den Lektorinnen, den vielen Frauen und Männern, ohne deren Mitwirkung dieses Buch nicht erschienen wäre

den vielen Verkäuferinnen und Verkäufern

Euch allen herzlichsten Dank!

Wir wünschen auch der zweiten Auflage eine gute Verbreitung.

Und damit ist auch der zweite Traum von Clariste Soh Moube in Erfüllung gegangen: eines Tages ihr Buch und dessen Geschichte innerhalb des Schengen-Raumes wiederzusehen.

Berlin/Gelsenkirchen, im Februar 2017
Elvira Dürr, Monika Gärtner-Engel, Anne Wilhelm

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Vorwort

Was passiert mit den jungen afrikanischen Frauen, die beschließen, nach Europa zu emigrieren? Sie sind nicht immer zu sehen und auch nicht immer zu hören. Mit den jungen afrikanischen Männern teilen sie das Gefühl des Versagens und der Nutzlosigkeit, solange sie die Mauern der Schengenzone nicht überwunden haben. Ihre Angst, dies nicht zu schaffen und dabei zu sterben, ist begründet. Doch die Hoffnung, in Europas beeindruckende Hightech-Festung hineinzukommen, ist oft viel größer. Clariste Soh Moube beleuchtet in diesem sehr aufschlussreichen Bericht ihre Motivation, ihren Werdegang und ihre Erfahrung als junge Afrikanerin, die sich entschließt, ihrer Armut ein Ende zu setzen und so ihren Eltern helfen zu können. Letztere haben Zeit ihres Lebens sehr hart gearbeitet, um ihr und ihren Geschwistern ein würdevolles Leben in Kamerun zu ermöglichen. Clariste hat neben der Schule sehr früh angefangen, Fußball zu spielen, und sie hat sehr schnell gemerkt – wie andere Afrikaner vor ihr auch –, dass sie diesen Sport als Sprungbrett benutzen könnte, um nach Europa zu gelangen. Als sie beschließt, das Land zu verlassen, vertraut sie sich nur ihrer Schwester an. Diese begleitet sie bis nach Edinae in Kamerun – jenem Ort, in welchem die Geschichte dieses Buches beginnt und der der Ausgangspunkt ihrer langen und erstaunlichen Reise ist.

Clariste verlässt 1998 ihr Heimatland Kamerun. Erst 2008 kehrt sie dorthin zurück, obwohl sie ihre Ziele nicht erreicht hat. Doch sie tut dies mit erhobenem Haupt, voller Selbstbewusstsein und voller Vertrauen in die Zukunft. Rückblickend zeigt sie uns durch dieses Buch das Afrika der Menschen ohne Stimme, ohne Heimat und ohne Zukunftsperspektive. Sie hilft uns, dieses Virus des Ausreisens, dem viele junge Afrikaner zum Opfer fallen, zu begreifen, und beschreibt den Schiffbruch, den sie in doppelter Hinsicht erleiden: in ihrer Heimat wegen der Arbeitslosigkeit, die seit den 1980er-Jahren sehr angestiegen ist, und weit von ihrer Heimat entfernt, mitten im Nirgendwo. Wenn sie nicht längst tot sind, können sie dort festgenommen, eingesperrt, erniedrigt und ausgewiesen werden. Die Solidarität, die ihnen selbst in ihrer Heimat nur selten zuteil wird, bleibt ihnen meist auch in den Transitländern verwehrt.

Ich habe unsere Begegnung dadurch herbeigeführt, dass ich denen meine Tür geöffnet habe, die – wie sie – eine Freundin zum Zuhören brauchen und einen Ort, an dem sie durchatmen und wieder zu Kräften kommen können. Ich bin darüber sehr froh. Clariste gehört heute zu den wenigen aus Ceuta und Melilla zurückgekehrten Flüchtlingen, die mich in meiner Auffassung bestärken, dass wir heute in Afrika konkrete und zuverlässige Informationen zur Zwangsemigration geben können. Zusammen mit Valérie Ngo Biem, einer anderen Überlebenden des Flüchtlingsdramas von Ceuta und Melilla, erforschten wir Gründe, Wege und Mittel, um in Afrika zu leben. Clariste heiratete Valéry Moube, der selbst ein »Rückwanderer« ist, und konnte auf diese Weise ihr Wissen über die Rückkehr nach Afrika erweitern. Durch die Zusammenarbeit mit dem Centre Amadou Hampâté Ba (CAHBA) und dem Forum für ein neues Mali (FORAM) zeigen wir Wege auf, die – so hoffen wir – andere junge Afrikaner gehen werden und dabei erkennen, dass der Wiederaufbau Afrikas eine riesige Baustelle und eine in jeder Hinsicht spannende Arbeit ist. Jeder ist dazu aufgefordert: sowohl jene, die trotz der widrigen Umstände und der Not in Afrika geblieben sind, als auch die, die gegangen sind, aber ihren Weg in der Fremde noch nicht gefunden haben.

Aminata D. Traoré

Dort

Man sagt, dass dort6 Hoffnung erlaubt ist;
Man sagt, dass dort alles möglich ist;
Man sagt, dass dort alles schön ist;
Man sagt, dass dort weder Hunger noch Durst existiert;
Man sagt, dass dort jeder seine Chance hat;
Man sagt, dass dort Krankheit nicht tötet;
Man sagt, dass dort alles Leid hinter dir liegt …

Aber was man uns nicht sagt, ist:
Dort muss man die richtige Farbe haben;
Dort wird niemals dein Zuhause sein;
Dort haben wir keine Rechte, nur Pflichten;
Dort sind wir niemand, nur einer unter vielen;
Dort können nur die anderen Nein sagen …
Dort ist nicht das Paradies für uns.

Ich weiß, das haben sie mir klargemacht,
Dass es nicht erst seit heute so ist,
Es war schon immer so.
Es sind sie, die »Herren der Welt«, die es so festgelegt haben.

»Ich entdecke mich eines Tages auf der Welt und ich erkenne mir ein einziges Recht zu: das, vom anderen ein menschliches Verhalten zu verlangen. Eine einzige Aufgabe: meine Freiheit nicht zu verleugnen, was auch immer ich wähle.« 7

Frantz Fanon

6Europa, auf der anderen Seite der Schranke

7Aus dem Buch »Peau noire masques blancs« (Schwarze Haut, weiße Masken), 1952

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Du sprichst von einem Krieg!

Am Ende des Traums, der Albtraum

»Du willst keinen Haoussa8, aber du liebst seine Juwelen«

Beti-Sprichwort

Donnerstag, 29. September 2005
Am frühen Morgen in Belyounech9 bei Ceuta
.
Ich habe mich nie für jemanden gehalten,
der besonders viel Glück hat,
ich komme immer entweder zu früh oder zu spät.

Ich bin auch an diesem Donnerstag, 29. September 2005,
mit dem Blick starr auf den Stacheldraht gerichtet,
in Belyounech geblieben;
ich bin zu spät gekommen.
Gerade rechtzeitig, um die Spuren des unerbittlichen
und blutigen Kampfes der Männer, mit bloßen Händen
gegen den Stacheldraht, zu erkennen.

Das Blut und der Geruch von Tränengas
lagen noch erstickend in der Luft.
Man konnte es sehen, und da, die »boules«10!

Etwas weiter hörte ich Schüsse,
Schreie von Menschen und Gebell von Hunden.
Einige meiner Weggefährten sind durchgekommen,
andere nicht.
Ja, wenn nicht zu den leblosen und steifen Körpern zu gehören,
Glückssache war,
dann hatte ich diesmal Glück.
Auf der falschen Seite der Absperrung, in Handschellen,
saß ich zusammen mit meinen Unglücksbrüdern.
Alle beseelt von der gleichen Wut zu siegen,
von den gleichen Zielen,
die gleichen Waffen führend
und ständig im gleichen Kampf.

In unseren Herzen war immer noch Platz für alle.
Kein bisschen Hass,
aber ein ausgeprägter Durst nach Gerechtigkeit,
nach einem Leben anders als das,
das wir schon immer mit uns herumschleppten.
Ich werde diesen Stacheldraht
immer in Erinnerung behalten, diese Mauer,
der jeder die Eigenschaften zuschreibt, die ihm passen,
»Mauer der Schande«, »Mauer des Hasses«,
»Mauer der Apartheid« …
Für einen Moment war ich gleichzeitig sehr nahe
und sehr weit entfernt
von dem Ziel meines Kampfes: Mbeng, Europa.

Jetzt weiß ich in meinem tiefsten Innern,
dass etwas in mir zerbrochen ist an diesem Tag.
Wie gezwungen, plötzlich aufzuwachen,
mich der Realität zu stellen,
vor der ich die Augen verschlossen hatte:
Afrika? In meinem Kopf überschlug sich alles.
Seitenweise kehrte mein Leben der Mühsal
zwischen meinem Kontinent, dem ich den Rücken kehren wollte,
und Europa, das sich mir jäh verschloss, zurück,
als wäre es gestern gewesen.
Ich sah, wie alles angefangen hatte an diesem fernen Tag,
so fern und doch erst sieben Jahre her.

8Händler aus dem Norden Kameruns

9Marokkanische Stadt in der Nähe von Ceuta

10Kugeln, die Golfbällen sehr ähneln und aus den Gewehren der spanischen Guardia Civil kommen

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Der Anfang eines neuen Lebens

Douala, 22. September 1998

Dieser Dienstag mochte für andere ein gewöhnlicher Tag gewesen sein, doch für mich war er mein Tag X, auf den ich lange gewartet hatte und der mit diesem feinen Regen begann. Ob das ein schlechtes Omen war, das auf Schwierigkeiten hinweisen sollte – oder eher auf einen Segen? Noch heute bin ich überzeugt, dass ich damals die richtige Entscheidung getroffen habe.

Zusammen mit meiner Schwester, die sich bei der Arbeit freigenommen hatte, um mich bei meiner Einschiffung zu begleiten, verließen wir unseren Wohnort, Douala. Es war am frühen Morgen, kurz nach unserem Morgengebet. Ich liebte diese Stadt, in welcher ich aufgewachsen war, bis zu dem Moment, an dem ich mich gezwungen fühlte, sie zu verlassen, um nach etwas Neuem zu suchen. Wir begaben uns an die Westküste, genauer gesagt an die Bucht von Edinae – ein kleiner Ort unweit von Limbe. Nach mehreren Pannen am Fahrzeug und nachdem die sich immer abwechselnden Fahrer nach und nach das Gefährt auseinandergenommen hatten, sodass zum Schluss nur noch eine fahrende Rostlaube übrig blieb, kamen wir trotzdem pünktlich zum Fahrtantritt an. Es war am frühen Abend gegen 17 Uhr.

Als ich einige Tage zuvor den Entschluss gefasst hatte, diesen neuen Weg zu beschreiten, um anderswo ein besseres Leben zu finden, hätte ich mir im Traum nicht vorstellen können, was mich erwartete, und Edinae war nur der Anfang.

Diese kleine Ortschaft war schwarz von dem Staub, der durch Felsstürze des Mont Cameroun entstand. Es regnete unablässig. Als wir dort ankamen, wimmelte es nur so von Menschen, und die Stimmung, die dort herrschte, gab diesem Ort den Anschein, fünfmal größer zu sein. In Edinae waren Menschen aus aller Herren Länder zu finden, die kamen und gingen, diskutierten, lachten, schrien und Handel trieben. Es war in der Tat ein besonderer Ort – des Handels und Schmuggels. Man musste manchmal die riesigen Warenballen, die frisch am Hafen ankamen, wegschieben, um überhaupt vorwärtszukommen, um bis zum Zollamt zu gelangen. Auf dem Weg dorthin boten einige nicht ganz zuverlässige Leute mir an, meine CFA-Francs11 in nigerianische Naira umzutauschen. Drei Meter weiter ließ ich meinen Reisepass abstempeln, um dem Gesetz Genüge zu tun. In demselben kleinen Barackenlager kaufte ich meine Bordkarte. Dann füllte ich die Formulare aus, immer noch in Begleitung meiner Schwester und eines freundlichen Mannes, den ich nie zuvor gesehen hatte. Er war sicherlich ein Händler oder ein Schmuggler. Es gab fast keinen Unterschied zwischen dem einen oder dem anderen Beruf, denn jeder übte hier fast jede Tätigkeit aus.

Dieser Mann, der sich Seid nannte, hatte uns von Anfang an geholfen, unseren Weg zu finden. Ohne ihn hätten wir es nie geschafft, diesen Teil unseres Landes Kamerun zu erreichen, den wir nun entdeckten. So beeilte ich mich, ein Auge auf unser Transportmittel zu werfen. Ich wäre außerstande, das, was ich in dem Moment sah, zu beschreiben. Es waren grob zusammengezimmerte Bretter, eine Art riesiger Einbaum, der mit einem Motor versehen war. Das also meinten sie, als sie mir erklärten, ich würde mit dem Boot nach Nigeria fahren?

»Das also ist dieses ›Boot‹, mit dem wir dem Meer trotzen werden?«, fragte ich mich im Stillen. Mein Magen verkrampfte sich.

»Meine erste Etappe – Nigeria – ist noch nicht erreicht«, dachte ich. Der Vorschlag Seids, uns zu einem Getränk einzuladen, kam mir gerade recht. Ich musste mich wieder fangen, denn die Ansicht dieser Barke hatte mich aus der Fassung gebracht! Hundert Meter weiter konnte man eine andere Kulisse erleben, einen fantastischen Imbissstand, der aus dem Meer ragte und diesem düsteren Ort etwas Anmut verlieh. Er war zwar fehl am Platz, doch dank ihm konnte man alles andere hier ein klein wenig vergessen. Während wir am Tisch saßen, konnten wir das wunderschöne Meer beobachten, das ruhig bis zum Horizont war. Der Betreiber erzählte uns bei unserer ersten Bestellung, dass der Besitzer dieses Imbissstandes in England lebte, und er hatte genau denselben Weg genommen, den auch ich in Kürze nehmen würde. Es bedurfte keiner anderen Worte, um mir wieder Mut zu machen. Doch! Vielleicht hatten die zwei Biere, die ich hastig getrunken hatte, auch etwas bewirkt? Ich war bereit, jedes Hindernis zu überwinden, das mir bei meinem Vorhaben im Weg stehen würde, selbst wenn ich schwimmend dorthin gelangen sollte. Von nun an waren mir alle Reisebedingungen gleich. Alles, was jetzt zählte, war, aus Kamerun herauszukommen. Noch etwas anderes gab mir Mut – die Unterstützung meiner Schwester. In ihren Augen konnte ich lesen: »Du bist nicht allein!«

Plötzlich fühlte ich mich wie mit einer großen Mission betraut. Ich warf einen Blick auf die Uhr, die ich für wenig Geld gekauft hatte, und zog meine Sportschuhe aus und dafür Sandalen an. Sie schienen mir für meine neue Situation eher geeignet zu sein. In meiner Umhängetasche war nur das Nötigste. Ich hielt meine Badekappe für den Notfall griffbereit und musste nur noch die Rettungsweste holen, zu deren Besitz mich mein Ticket berechtigte. Man sagt, dass diese »Ausrüstung« wegen der zahlreichen Schiffbrüche, die viele Menschenleben gekostet hatten, Pflicht geworden sei.

Wir gingen alle drei zum Ufer, an dem Barken in den verschiedensten Größen angelegt hatten. Unsere war die längste. Fast alle Passagiere nahmen schon Platz. Der gefürchtete Moment des Abschiednehmens war nun gekommen. Seid sprach einen Passagier an, den er zu kennen schien. Ohne ihn zu fragen, ob wir dasselbe Ziel hatten, vertraute er mich diesem an mit der Bitte, während der gesamten Reise auf mich aufzupassen, da diese Fahrt für mich eine Feuertaufe war – oder besser gesagt, eine Meerestaufe.

»Meine letzte Stunde hat geschlagen«»Es wäre dumm, hier zu sterben, unweit der Meinen, ohne überhaupt weggekommen zu sein.«