Tödlicher Bestseller

 

 

Bibliografische Information der Nationalbibliotheken:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Die Österreichische Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Österreichischen Nationalbibliothek.

 

Impressum:

1. Auflage

 

Cover-Foto © Nicole Bleck – Hispaniola FineArt

Cover-Gestaltung: Karin Pfolz

 

Autoren: © Karin Pfolz, Verena Grüneweg

Überarbeitung, Layout, Design: Karin Pfolz, Laura Liedermann

Lektorat: Tanja Dechet

 

Vienna, Austria,

Karina-Verlag, Vienna.

ISBN (Print) 978-3-903056-73-2

© 2017 www.karinaverlag.at

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Verlage, Herausgeber und Autoren unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

 

Für

Rudi und Gordon.

 

 

 

1. Christine 5

2. Der Beobachter 7

3. Christine 10

4. In Tims Wohnung 12

5. Christine 16

6. In Tims Wohnung 19

7. Christine 23

8. Der Beobachter 25

9. Christine 28

10. In Tims Wohnung 31

11. Cornelia 34

12. Der Beobachter 36

13. Christine 39

14. Im Verlag 41

15. Zwischenspiel 47

16. Christine 55

17. Der ganz spezielle Abend, Tim 57

18. Der ganz spezielle Abend, Inakea 59

19. Volker 61

20. Cornelia 63

21. Der Beobachter 65

22. Christine 72

23. Volker 76

24. Im Verlag 78

25. Tim 79

26. Hubert 84

27. Inakea 86

28. Tim 88

29. Christine 90

30. Der Beobachter 93

31. Inakea 98

32. Cornelia 101

33. Hubert 102

34. Christine 103

35. Der Beobachter 106

36. Christine 110

37. Zwischenspiel 112

38. Im Verlag 114

39. Der Beobachter 115

40. Christine 117

41. Hubert 119

42. Christine 120

43. Der Beobachter 123

1. Christine

»Das glaub ich einfach nicht! Es hat wirklich funktioniert!«

Mein Mund verzieht sich zu einem diabolischen Grinsen, als ich die Bildschirmansicht meines PCs vergrößere. Es stimmt. Tatsächlich.

Doch lange kann ich mich an dem Anblick nicht erfreuen, denn das Klingeln des Telefons reißt mich aus meinen Gedanken. Gleichzeitig piepst eine SMS und eine Mail nach der anderen rauscht herein.

»Gratuliere!«

»Wie wunderbar!«

»Ein Traum geht für dich in Erfüllung!«

»Gehen wir feiern?!

»Nun bist du reich!« ...

Klar, natürlich, kaum scheint mein neues Buch auf Platzierung eins im Bestsellerranking auf, schon sind sie alle da, die Blutsauger. Vor einem Jahr, da waren sie sich zu schade, meinen Gruß zu erwidern. Wollten mit der armen Schreiberin nichts zu tun haben. Aber jetzt, da wittern sie das Geld, krabbeln aus ihren Löchern. Zwar sitze ich hier in meinem Haus vollkommen alleine, trotzdem kann ich regelrecht sehen, wie ihre gierigen Hände aus dem PC und dem Handy herauskommen und sich mir entgegenstrecken. Interessant nur, wie die alle herausgefunden haben, wer hinter dem Pseudonym steckt.

Bereits nach zehn Minuten Durchsehen der Nachrichten bin ich so erschöpft, dass ich mir einen Kaffee zubereite und mich einfach auf den Diwan sinken lasse. Doch das Gepiepse und Klingeln der Geräte macht mich wahnsinnig, also stehe ich noch einmal auf und drehe die Töne alle ab. Genug ist genug.

Mit beiden Händen halte ich die Tasse mit der warmen Flüssigkeit. Meinen Kopf lehne ich nach hinten und schließe die Augen. Es beginnt eine Reise in die Vergangenheit. Ich gehe in der Zeit zurück, bis zum Beginn des Schreibens an meinem heutigen Bestseller.

 

Ein Jahr zuvor

 

Das Untermietzimmer ist so schmuddelig und winzig, dass ich in diesem Raum nur atmen kann, wenn ich schreibe und mit voller Konzentration in den Text auf meinem Laptop abdrifte. Als Alternative bleiben mir nur Alkohol oder Drogen, aber beides benebelt die Sinne. Damit fällt es für mich aus, denn ich liebe es, wenn ich bei klarem Verstand bin.

Mein Leben ist so fad, so öde, also schreibe ich an einem Thriller. Ein Spiel der Worte, Raffinessen der Spannung, die immer hoch bleiben muss. Der Leser soll es nicht schaffen, dieses Buch aus der Hand zu legen. Soll, so wie ich selbst beim Schreiben, oftmals in die Irre geführt werden, soll nicht ahnen können, was als Nächstes passiert. Wie immer arbeite ich ohne Konzept, ohne Notizen. Personen erfinde ich im Augenblick, um sie im nächsten wieder ins Nirwana der Worte verschwinden zu lassen. Orte entstehen oder versinken, je nach meiner eigenen Laune. Es ist etwas Wunderbares, wenn aus Phantasie eine Geschichte entsteht.

Es ist nicht mein erstes Buch; ich bin praktisch schon Profi im Schreiben. Was meiner Geldbörse allerdings bisher nicht viel einbrachte und mir nur dieses schäbige Zimmer als Unterkunft ermöglichte. Aber diesmal ... ich spüre es bei jedem Wort. Diesmal wird es ein Bestseller. Bald ist es soweit, dass ich die ersten dreißig Seiten habe, dann kann ich beginnen, es Verlagen anzubieten. Eine Liste mit den wichtigsten habe ich bereits zusammengestellt. Sogar die Kuverts für den Versand und die Begleitschreiben sind vorbereitet.

Kurz gleitet mein Blick durch das Zimmer. Die vergilbten Tapeten kleben nur noch in Fetzen an der Wand, als Beleuchtung hängt eine einzelne Glühbirne schief von der Decke. Das einzige Fenster ist mit einem schmutzigen Karton zugeklebt, den ich laut Vermieter nicht entfernen darf. Als Bett dient eine Klappmatratze, die auch schon sauberere Zeiten hinter sich hat. Die Eingangstüre zu meinem Reich ist vollkommen schwarz und verkohlt, da es hier einmal brannte, die Türe aber nie renoviert wurde. Alles in allem ein recht schmuckes Zuhause.

Die Hauptfigur in meinem Manuskript entgeht nur knapp dem Sturz von einer Klippe und muss sich gegen zwei vermummte Angreifer zur Wehr setzen. Natürlich schafft sie das und mit einer kleinen Hinauszögerung des Kampfes gelingt es mir, dass ich auf das Ende der Seite dreißig komme. Die erste Hürde ist genommen. Noch ein weiteres Mal lese ich Zeile für Zeile durch, prüfe die Formatierung und fahnde nach Tippfehlern. Schon kann ich den Drucker starten und das leise surrende Geräusch seiner Arbeit lässt mich lächeln. Endlich beginnt mein Weg. Der Weg einer hochgeachteten, bestens bezahlten und grandiosen Bestsellerautorin.

 

2. Der Beobachter

Der Sommer geht und der Herbst naht mit kleinen Schritten.

Ich liebe diese Nächte, sie sind einzigartig. Wenn die Sonne untergeht, spürst du, wie ein warmes Lüftchen weht, zart streichelt es dich, gibt dir Raum zum Atmen. Keine schwüle Hitze, die einem den Schweiß den Rücken herunterrinnen, aber auch keine Kälte, die dich frieren lässt. Es ist wunderbar hier in der Dunkelheit auf dieser Bank. Perfekt um der Beobachter, der Späher zu sein. Alleine, nur die Sterne sehen mir zu, wie ich an diesen Platz verweile.

Der Tag fordert alles an Geduld von mir, das Licht und seine Helligkeit zu ertragen. Dabei wandern, egal was ich tue, meine Gedanken immer wieder zurück zu diesem Platz. Die Unruhe, wenn langsam die Dämmerung einsetzt, ist für mich kaum zu ertragen. Doch dann umhüllt mich der Mantel der Finsternis, und ich spüre ein Glücksgefühl, denn nun ist es so weit. Die Nacht und ich werden eins. Ich, als ihr Geschöpf, gehe, um meinen Auftrag zu erfüllen.

Jetzt ist der Moment gekommen, dass ich endlich zu ihr darf.

Seit Stunden sitze ich hier, schaue nach oben zu dem erleuchteten Fenster im zweiten Stock. Sehe die Frau, wie sie geschäftig hin- und herläuft. Manchmal bleibt sie stehen und schaut aus dem Fenster. Dabei erkenne ich, dass sie telefoniert und unablässig zu reden scheint. Ein Lächeln liegt auf ihrem Gesicht und sie sieht zufrieden aus. Auch ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Gleichzeitig schüttle ich leicht meinen Kopf. Wie naiv doch manche Menschen sind, sie genau wie all die anderen! Die Vorhänge geöffnet, geben sie jedes Detail ihrer kleinen, privaten Welt kund. Auf den Gedanken, dass dort unten jemand sein könnte, der genau diese kennenlernen möchte, um sie für sich zu nutzen, kommen sie nicht.

Natürlich gibt dies auch ihr die uneingeschränkte Sicht, den Blick frei auf das Geschehen auf der Straße. Aber selbst wenn sie sich anstrengte, sie könnte mich nicht entdecken. Die Straßenlampe neben mir ist schon seit ewigen Zeiten kaputt. Irgendjemand hat das Glas und die Glühbirne zerstört. In dieser Gegend macht sich niemand die Mühe, sie zu reparieren. Die nächste Lichtquelle ist weit genug entfernt, um nicht einmal einen Schimmer von Helligkeit auf mich zu werfen.

 

»City of Angels« – laut dröhnt die Musik von 30 Seconds to Mars in meinen Ohren. Ich brauche das, um zu vermeiden, von all den Geräuschen, die mich umgeben, abgelenkt zu werden. Ich kenne die Bedeutsamkeit, dass jedes Detail, das meine Augen entdecken, im Verstand gespeichert werden muss. Nur mit vollster Konzentration ist dies möglich. Störende Autogeräusche oder auch nur ein zu laut gestellter Fernseher lenken mich ab. Die Wellen der Musik hingegen untermalen das, was ich sehe.

Wenn es dort oben nichts zu entdecken gibt, lass ich meine Gedanken schweifen, sehe anderen Menschen in ihren Wohnungen zu, wie sie vor den Fernsehern sitzen. Ich denke darüber nach, was es wohl sein könnte, das heute ihrer Unterhaltung dient. Eine Serie wie »Criminal Minds« oder auch ein spannender Thriller? Immer wieder faszinierend für mich diese Treuherzigkeit derer, die sich Morde und die damit verbundenen Opfer und Täter anschauen. Sie sind gefangen in dem, was dort über den Bildschirm flimmert, aber sobald sie den An- und Ausknopf drücken, ist das, was sie gesehen haben, aus ihren Köpfen verschwunden. Sie gehen ihren normalen Leben nach und kämen nie auf die Idee, vielleicht selbst eines Tages zum Opfer zu werden.

Egal ob sie in der Dunkelheit alleine durch die Straßen radeln und jedem ohne Bedenken ihre Haustür öffnen. Sie ahnen nicht, dass der nette Handwerker, Postbote oder auch der nervige Nachbar, der sein könnte, der ihrem Leben ein Ende setzen will. Sie fühlen sich in Sicherheit, bis ihnen jemand, wie ich es bin, begegnet und die Erkenntnis, dass die Welt nicht nur aus guten Menschen besteht, für sie zu spät kommt. Auch ich liebe gute Thriller –Bücher, Filme oder Fernsehserien. Sie bleiben jedoch in meinem Kopf verankert. Für mich sind sie das beste Lehrmaterial, um Fehler zu vermeiden, die meinem Unterfangen ein Ende bereiten würden.

Beinahe hätte ich das Pärchen, das einige Schritte von mir entfernt auf dem Bürgersteig läuft, nicht bemerkt. Arm in Arm gehen sie dicht aneinander geschmiegt und halten immer wieder an, um sich zu küssen. Ein schöner Anblick, glücklich verliebte Menschen, selbst für mich. Allerdings habe ich nicht die Zeit, ihn zu genießen.

Mechanisch ziehe ich mir die Kapuze meines schwarzen Pullovers tiefer ins Gesicht. Auch wenn heute Nacht nichts passiert, ist es immer besser, dafür zu sorgen, dass niemand dein Gesicht sieht. Die Gefahr, dass er sich zu einem späteren Zeitpunkt daran erinnert, ist zu groß. Ich verstehe mein Handwerk und weiß, was ich zu tun habe, um Problemen aus dem Weg zu gehen. Bei meinem sagen wir mal, etwas ausgefallenem Hobby lernt man dies sehr schnell. Tarnung ist davon eines der wichtigsten Details, darum auch der schwarze Kapuzenpulli. Schwarz ist eine unauffällige Farbe, nicht so grell wie Gelb oder hell wie Weiß. Mit ihr verschwindest du am Tage in der Masse der Menschen, da fast jeder so etwas trägt. Und des Nachts verschmilzt du mit der Dunkelheit. Die Vorzüge der Kapuze habe ich ja bereits erläutert.

Das Pärchen zieht herumalbernd an mir vorbei und würdigt mich keines Blickes. Es ist wie immer, ich bin für sie nur ein langweiliger Schatten, den sie, sobald sie mich gesehen haben, sofort wieder vergessen. Genau so, wie ich es möchte.

Kurze Stille, dann beginnt das nächste Musikstück auf meiner Playlist: »Die Wölfe sind los« von Casper. Ich liebe dieses Lied, denn es spornt mich an. Genau das bin ich, ein Wolf und ich will Blut sehen. Jedoch ein einsamer. Ein Rudel wäre nur hinderlich. Doch manchmal wünsche ich mir, es wäre anders. Eine Partnerin an meiner Seite, ähnlich wie Bonnie und Clyde, gemeinsam gegen die Langeweile kämpfen. Bisher ein Traum, so absurd und unrealistisch, dass ich kaum darauf zu hoffen wagte. Aber dann traf ich sie.

 

Immer noch geht die Person meines Begehrens in ihrer Wohnung auf und ab. Es muss etwas wirklich Aufregendes in ihrem Leben passiert sein, denn sie fuchtelt häufig mit einer Hand in der Luft herum. Ich freue mich für sie, denn Aufregung ist ein gutes Gefühl – Langeweile kann tödlich sein. Zwar nicht für mich, aber für andere, wenn sie mich überkommt. Die Frau dort hinter dem Fenster nahm mir sehr oft in den letzten Monaten meine Langeweile und ersetzte sie durch Spannung.

Bei unserem ersten Kontakt hätte ich niemals vermutet, dass so eine Person, nichtssagend und blass, dazu fähig wäre. Allerdings je öfter sie meine Wege kreuzte, umso mehr bemerkte ich ihre Veränderung. Waren ihre Schritte am Anfang auf dem Pflaster der Straße stolpernd und die Schultern vornüber gebeugt, läuft sie jetzt wie eine Königin. Aufrecht und stark, so als gehörte die Welt ihr allein.

Genau diese Frau knipst dort oben gerade das Licht in ihrer Wohnung aus.

Zu früh zum Schlafengehen, also rechne ich damit, dass sie noch fortgeht. Und richtig, nur Minuten später öffnet sich die Haustür und Christine tritt aus ihrer Wohnung. Nebenbei erwähnt – von der ich übrigens der Eigentümer bin. Ich kenne jedes Zimmer, jede Ecke und jedes Detail ihrer Einrichtung. Natürlich, denn ich bin ja der Besitzer. Aber alles, was meine Angebetete in den Räumen verändert hat, kenne ich ebenso. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie zu betreten, wenn Christine nicht da war. Und manchmal, wenn sie schlief, besuchte ich sie auch.

Eilig läuft Christine die Straße runter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich stehe auf, recke meine Glieder, um meinen Rücken zu dehnen. Allmählich merke ich doch, dass die Zeit an mir nagt. Mein bisheriges Leben hatte zu viele anstrengende Phasen.

Aber jetzt ist nicht der richtige Moment für Selbstmitleid.

Ich beeile mich, aufzubrechen, um ihr zu folgen.

Die Nacht der Entscheidung ist gekommen. Es gibt keinen Aufschub mehr. Ich muss Christine gegenübertreten, um die Richtige zu treffen. Doch bis dahin würden noch viele Stunden vergehen, das weiß ich bereits jetzt.

In allem, was sie tut, lässt sie sich Zeit. Ich rechne auch heute Nacht damit, dass es wieder so sein wird. Stunden, in denen ich die Chance habe, Erinnerungen an unsere gemeinsame Vergangenheit zum allerletzten Mal in meinen Verstand Revue passieren zu lassen. Alles noch einmal zu erleben, bevor das Ende da ist.

 

3. Christine

Immer wieder ist es für mich aufregend, wenn ich die Blätter eines neuen Manuskriptes an Verlage sende. Die Chancen, dass mein Buch angenommen wird, stehen bei weniger als fünf Prozent. Dazu kommt noch, dass es Monate dauert, bis eine Antwort eintrifft. Wenn ich überhaupt eine bekomme. Denn es ist inzwischen üblich, dass viele Verlage nicht mehr antworten. Außer man legt ein frankiertes und beschriftetes Rückkuvert bei, dann senden sie zumindest das Manuskript wieder zurück. Nun, auch das ist ein Zeichen der Ablehnung, wenn sich meine Einreichung nach vielen Wochen wieder im Briefkasten findet. Trotzdem kann ich nicht anders, als weiter zu schreiben. Es ist einfach mein Weg und den muss ich gehen. Ich glaube an das, was ich schreibe. Meine Gedanken, Gefühle, Phantasien –verpackt in Zeilen, die noch mit der einen oder anderen Wahrheit verbunden sind.

Meine bisherigen Veröffentlichungen musste ich selbst finanzieren und eingespielt haben sie mir die Kosten bisher nicht. Diesmal muss es einfach klappen, dass ich einen ordentlichen Verlagsvertrag bekomme, denn ein weiteres Buch kann ich mir nicht mehr leisten. Meine gesamten Rücklagen sind aufgebraucht, mein Konto überzogen, die Kreditkarte gesperrt und mit der Miete bin ich seit drei Monaten im Rückstand.

Mein alter Drucker hat es geschafft. Ein ganzer Stapel bedrucktes Papier liegt am Boden verstreut, da das Gerät kein Ablagerungsfach mehr besitzt. So spuckt er nach einem endlos erscheinenden Druckvorgang die Blätter einfach in hohem Bogen aus dem Ausgabeschlitz ins Nirwana meines Zimmerbodens. Ich sammle die Seiten ein und sortiere sie. Endlich kann ich die Briefumschläge fertig befüllen. So oft habe ich diese Tätigkeit in meinem Leben schon gemacht, aber diesmal fühlt es sich anders an. Wie der Beginn von etwas Neuem, etwas sehr Unbekanntem. Jetzt liegen sie vor mir, die fertigen Briefe und warten darauf, dass ich sie auf die Reise schicke. Unmöglich, dass ich bis zum nächsten Tag warte. Zwar ist der Weg zum Postamt ziemlich weit und mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht erreichbar, doch das ist mir egal. Mit einer Hand packe ich die Briefe, mit der anderen die Wohnungsschlüssel und meine Tasche und mache mich auf den Weg.

Der kalte Wind lässt mich augenblicklich erschauern, sobald ich die Türe zur Straße öffne. Natürlich vergaß ich in meiner Aufregung, eine Jacke mitzunehmen. Es war schon spät und zurückzugehen, um das Teil zu holen, würde vielleicht bedeuten, dass das Postamt schließt, bevor ich es erreiche. Also durchhalten, so bin ich wenigstes gezwungen, rasch zu gehen. Immerhin bringt mir das nicht nur den Vorteil der schnelleren Geschwindigkeit, sondern auch eine höhere Körperwärme.

An anderen Tagen wähle ich den etwas längeren Weg, den, der rund um den kleinen Wald führt, der sich zwischen der Fußgängerzone und meiner Wohnung befindet. Aber heute muss ich auch auf die helle Erleuchtung verzichten, denn die Zeit und die Kälte drängen mich. Trotz der bereits völligen Dunkelheit wird wohl das schwache Licht meines Mobiltelefons ausreichen müssen. Der Weg, der durch diesen Wald führt, ist nicht asphaltiert, sondern nur ein natürlich entstandener Pfad. Dies macht das Gehen im Finstern nicht gerade einfach. Allerlei Gestrüpp wächst von allen Seiten in den Weg und kratzt an meinen Beinen. Jeder meiner Schritte muss gut überlegt sein, denn zu den Unebenheiten kommen noch die Wurzeln der Bäume, die ihre Ausläufer über diesen Pfad legen. Bereits nach der ersten Biegung bereue ich meine Entscheidung, diese Abkürzung zu nehmen. Immer weniger Licht dringt zu mir durch, so kann ich nicht rasch vorwärtsgehen, sondern muss den Weg ertasten. Wenigstens ist der Wind hier etwas abgeschwächt, sodass ich nicht so friere.

»Verdammte Scheiße!« Ich stolpere über einen Ast, die Briefumschläge rutschen mir aus der Hand und ich lande bäuchlings auf der Erde. Mühsam und fluchend rapple ich mich wieder auf. Zwei der Umschläge landeten in einer Wasserpfütze, die anderen sind in das Gebüsch neben dem Weg gesegelt. Jetzt muss ich das Ganze auch noch aufsammeln. Das Handy hat den Sturz nicht wirklich überlebt. Zwar funktioniert die Taschenlampenfunktion noch, aber das Display ist vollständig zerbrochen. Meine Knie schmerzen vom Aufprall, die Handflächen sind aufgeschürft. Damit ich die Umschläge aus dem Gestrüpp holen kann, brauche ich beide Hände; so halte ich meine Lichtquelle mit den Zähnen. Mit einer Hand drücke ich die Äste zur Seite, mit der anderen versuche ich, meinen Schatz zu bergen. Doch irgendwo harkt es fest, ich bekomme es nicht frei. Anziehen möchte ich nicht, da es sonst zerreißen könnte. Also muss ich runter, auf meine schmerzenden Knie. Inzwischen ist mir sowieso alles egal, denn das Postamt erreiche ich kaum mehr, bevor es schließt.

Wo das nur festhängt? Der Akku lässt auch schon nach, so ist das Licht nur noch ein schwacher Schimmer. Etwas Schweres liegt auf dem verklemmten Eck. Ich taste danach und will es wegschieben. Es ist länglich und rund. Zuerst denke ich, dass es sich um ein Stück eines Baumstammes handelt, doch das Material fühlt sich weicher an – und kalt. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Jetzt kann ich es erkennen. Es ist ein Bein. Ein weibliches Bein, das in einem Stöckelschuh steckt.

Über den Anblick bin ich so entsetzt, dass ich nicht schreie, nicht geschockt bin. Ich starre einfach nur auf das Bein. Langsam geht mein Blick weiter und ich sehe die gesamte Gestalt. Eine Frau, das Gesicht unter einem weiteren Gestrüpp, sodass ich nicht erkennen kann, wie sie aussieht. Doch anhand der Kälte, die der Körper ausstrahlt und der verdrehten Lage kann sie nicht mehr am Leben sein. Ich höre ein Geräusch. Wie ein Ast, wenn jemand darauf tritt. Schnell schnappe ich meine Briefe, die nun freikommen, und laufe. Mehrmals stolpere ich, aber stürze nicht. Wie von Sinnen renne ich den Weg entlang, hinaus aus dem Wald.

Erst das helle Licht der Straßenbeleuchtung lässt mich kurz innehalten. Mein Herz rast, ich zittere am ganzen Körper. Ich habe keine Lust mehr, die Briefe heute auf die Post zu bringen. Stattdessen will ich nur noch in mein kleines, stinkendes Loch, das sich Wohnung schimpft. Die Türe hinter mir mehrmals versperren und nichts mehr sehen von all der Grausamkeit.

Endlich in meiner Wohnung angekommen, lasse ich mich auf das Bett fallen. Ich sollte etwas tun. Jemanden verständigen, aber dann müsste ich noch einmal dorthin, die Stelle wiederfinden. Und wie sollte ich jemanden anrufen – und wen? Mein Telefon habe ich geschrottet und meine Nachbarn, nun, die sind so auf Drogen unterwegs, dass die nichts verstehen würden.

Aber eines ist mir klar geworden. Das Manuskript, das ich verschicken wollte, ist schlecht. Es ist nicht gut. Es ist nicht die Wirklichkeit, nur eine unreale Erfindung. Meine Erinnerung bringt mir die Worte einer Lektorin, die mich vor langer Zeit beraten wollte, wieder zurück:

»Du willst einen Bestseller? Ein Buch, das jeder lesen will? Dann schreibe nur das, was du auch erlebt hast. Nur wenn du den Schmerz siehst, kannst du ihn beschreiben. Nur wenn du die Lust spürst, kannst du die Menschen mit deinen Worten fesseln. Alles andere, das du schreibst, ist nur ein Füllen leerer Blätter.«

 

4. In Tims Wohnung

Ein Schmatzen direkt neben seinem Ohr rüttelt Tim wach.

Nicht gerade erfreut darüber, in seinem Schlaf gestört zu werden, öffnet er die Augen. Grelles Sonnenlicht blendet ihn. »Verdammt nochmal!« Wieder hatte Tim letzte Nacht vergessen, die Vorhänge zu schließen. Schön für seinen Nachbarn, der ihm gegenüber wohnt und häufig seinem Hobby, dem Spannen bei anderen, frönt. Auch wenn er glaubt, dass keiner es mitbekommt, Tim hatte ihn schon öfters mit dem Fernglas am Fenster stehen sehen.

»Wenigstens ist ihm eine gute Show geboten worden«, murmelt er, steht auf, um wenigstens jetzt für ein wenig Dunkelheit zu sorgen. Schlaftrunken wankt er zum Fenster. Erst als Tim dort angekommen ist, bemerkt er, dass er sich völlig nackt der Welt präsentiert. Gleichgültig zuckt er mit den Schultern.

Warum sollte er sich darüber Gedanken machen? Zumindest bietet er seinen Zuschauern einen sehr heißen Anblick. Das jahrelange Fitnesstraining und die gesunde Ernährung zahlen sich mittlerweile aus. Selbst mit fünfundvierzig Jahren schätzte man ihn auf höchstens sechsunddreißig und meistens jünger.

Mechanisch zieht er die Vorhänge zu und geht zurück zum Bett.

Vorsichtig setzt er sich auf die Kante, um die Person, von der das Schmatzen gekommen war, nicht aufzuwecken. Zuerst will er sie anschauen, im Schlaf beobachten. Er genießt diese kurzen Augenblicke der Illusion, die Frau gefunden zu haben, die ihn ergänzt. Die seine Intelligenz besitzt und seine Vorlieben mit ihm teilt. Die Realität holte ihn spätestens dann ein, wenn sie, genau wie all die anderen Frauen, ihren Mund öffnet. Beim ersten Wort, das über ihre Lippen kommt, verpufft jedes Mal seine Wunschvorstellung wie eine Seifenblase.

Mit der Hand streicht er über die Decke – wie gut sich das kalte und glatte Satin der Bettwäsche anfühlt – und wandert langsam hoch. Behutsam schlägt er sie zurück und betrachtet den Frauenkörper, der sich ihm offenbart. Im gedämpften Licht des Zimmers hebt sich ihre Haut zart und weiß vom Schwarz des Lackens ab. Verletzlich wirkend, wie sie dort nackt vor ihm liegt. Jung und wunderschön. Ihr Körper, auf der Seite ruhend, ein Knie angewinkelt, bietet Tim einen Anblick, der jedes Männerherz höher schlagen ließe.

Zarte Füße, sehr gepflegt, alles andere hätte auch Ekel in ihm ausgelöst, mit kleinen zierlichen Zehen, die mit rosa Nagellack lackiert sind.

»Süß, wie ein kleines Mädchen«, denkt Tim und lächelt. Weiter gleitet sein Blick ihren Körper hinauf. Wahnsinnig schlanke Beine, die ebenso wie sein Körper auf hartes Training hinweisen, scheinen nie enden zu wollen. Dann dieser hübsche, knackige, runde Po, ein Gedicht! Auf ihrem grazilen Rücken zeigt sich ein schwarzes Tattoo. Verschnörkelte Lilien mit Efeuranken zieren ihn von den Schulterblättern bis zum Gesäßansatz. »Interessant«, murmelt Tim. »Das hatte ich noch nie in meinem Bett!«

Auch der Rest von ihr ist wirklich nicht zu verachten. Ein flacher Bauch mit einer kleinen, aber feinen Brust. Nicht diese aufgepumpten Silikondinger, sondern ein Busen wie die Natur ihn schuf.

Unverständlich für Tim, warum Frauen die Schmerzen einer Operation auf sich nehmen, nur um einen großen und vollen Busen mit sich rumzuschleppen.

Ihm gefällt eine Handvoll echtes, natürliches Fleisch, das er berühren kann, weitaus besser. Lange, blonde Haare verdecken ihr Gesicht. Aber auch ohne es zu sehen, kennt er den Anblick. Bei Gott, nicht von den Erinnerungen der letzten Nacht, denn davon gibt es nicht allzu viele. Es liegt daran, dass sich nie etwas ändert. Jedes Mal, wenn er nach seinen Partynächten erwacht, liegt der gleiche Typ Frau neben ihm. Routine, nichts als Routine! Selbst der geilste Fick beinhaltet für Tim nichts als den immer gleichbleibenden Ablauf – ein Fluch seines bisherigen Lebens.

Er hat genug gesehen, deckt die Kleine wieder zu und steht vom Bett auf. Der Wunsch, weiterzuschlafen, macht dem Bedürfnis nach einem starken, guten Kaffee Platz. Tim nimmt den Morgenmantel vom Haken neben dem Bett und zieht ihn sich über. Nicht, dass er ein Problem damit hätte, weiterhin ohne Kleidung den Morgen zu verbringen, doch die Kälte, die ihn leicht frösteln lässt, sorgt nicht gerade für ein angenehmes Wohlbefinden.

Geräuschlos verlässt Tim das Schlafzimmer und läuft vom Flur aus die Treppe runter in die Küche. Er braucht sich nicht anstrengen, leise zu sein, er beherrscht die Lautlosigkeit, ohne darüber nachdenken zu müssen.

Sein erster Gang in die Küche führt Tim zum Kaffeevollautomaten.

Ein Wunder der Technik für ihn. Frischgemahlene Bohnen und nur durch Drücken einiger Tasten die richtige Stärke des Kaffees zu erhalten – gibt es etwas Besseres am Morgen? Früher – das ganze nervige Aufbrühen, hoffen, dass es auch so schmeckt, wie man es sich vorstellt. Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei. Die einzige Arbeit, die ihm noch bleibt, heißt Wasser und Kaffeebohnen auffüllen, um dann sehr schnell das ersehnte Lebenselixier in den Händen zu halten.

Während die Maschine blubbernd arbeitet und der Kaffeeduft langsam den Raum erfüllt, horcht Tim, ob sein Gast mittlerweile aufgewacht ist.

Kein Laut kommt von oben aus dem Schlafzimmer. Die Kleine hat einen gesunden Schlaf. Oder sollte man es eher komplette Erschöpfung nach der letzten Nacht nennen?

Sich eine Tasse aus dem Küchenschrank nehmend und mit Kaffee füllend, strengt er sich an, ein paar Bruchstücke vom Geschehen der letzten Stunden in sein Gedächtnis zu rufen. Den ersten Schluck des Getränks nimmt Tim auf dem Weg zu seinem Küchentresen. Dort stellt er den Kaffee auf die Tischplatte und schiebt einen Hocker zurück, um sich darauf zu setzen. Mit den Ellbogen stützt er seinen Kopf in beide Hände und schließt die Augen.

Leise stöhnt er auf. Das Nachdenken fällt ihm schwer, zumal sein Kopf von den Nachwehen der letzten Nacht wie verrückt hämmert.

»Denk nach, Junge, denke nach«, murmelt Tim und die ersten Bilder blitzen vor seinen Augen auf.

Samstag – der gestrige Tag – nichts Besonderes für ihn. Ein Tag wie jeder andere. Um 20 Uhr verließ er seinen Verlag. Nach stundenlangem Lesen schundhafter Manuskripte von irgendwelchen Möchtegernautoren reichte es ihm und er machte sich auf den Weg nach Hause. Dort hielt es Tim nicht lange, zu leer die Wohnung, zu ruhig um den restlichen Abend zuhause zu verbringen. Nach einer schnellen Dusche und einem Auffrischen seines Äußeren verließ er sie und fuhr mit dem Taxi in den Club.

Der Club, ein Ort der Schleimer, Schmarotzer und aller, die sich für etwas Besonderes halten. Für ihn unverständlich, warum es ihn immer wieder dorthin zieht. Seine Erinnerungen zeigen ihm, dass auch letzte Nacht alles wieder nach dem alten Schema ablief. Menschen, die sich Freunde nennen, aber keine sind. Nervende Autoren, die um seine Aufmerksamkeit buhlten. Kreischende Frauen, die ihn anschmachteten – kaum zu ertragen, ohne Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Ein paar Näschen Koks – scheiß auf gesunde Ernährung – man gönnt sich ja sonst nichts und viel zu viele Gläser Champagner.

Dann ein Filmriss in seinem Gedächtnis, nur gähnende, schwarze Leere.

Das Nächste, woran Tim sich erinnert, wahrscheinlich erst Stunden später, sind die Bilder von der Kleinen, nackt auf seinem Bett.

Verdrehte Augen, Hände, die nach ihm greifen und lustvolles Stöhnen aus ihrem Mund. Nicht dieses Pornogeschrei mancher Frauen, die glauben, Männer wollen das hören. Für Tim ein Grund, den Sex zu beenden und sie nach Hause zu schicken. Nein, ehrliches Verlangen nach ihm. Ihr ganzer Körper drückt Lust aus, willenlose, verzerrende Lust. In diesen Moment hätte er alles mit ihr machen können, eine Puppe ohne eigenen Willen. Egal welche Praktiken er von ihr forderte, sie wäre drauf eingegangen. Die Lust ließ sie nicht nachdenken, schrie in ihr nach mehr. Er erfüllte ihr diesen Wunsch. Immer tiefer drang er in sie ein. Dann begann er, mit ihrem Verlangen zu spielen. Je mehr sie mit ihrem Körper ihm entgegen kam, umso häufiger zog er sich zurück.

Tim genoss dieses Betteln in ihren Augen, die Enttäuschung, die in ihnen stand. Kurz bevor sie aufgeben wollte, glaubte, er würde aufhören, hätte schon seine Befriedigung gehabt, stieß er mit kurzen, harten Stößen wieder zu. Ihre Hände, die sich in das Fleisch seiner Schultern krallten. Beine, die ihn umschlangen, bis ein Zittern ihren Körper durchlief und sie erschöpft in seinen Armen lag.

 

Und auch hier wieder derselbe Ablauf. Befriedigung, Entspannung seinerseits? Nein, nicht im Geringsten. Gut, das Mädchen hatte ihren Orgasmus gehabt, er nicht. Lustig, dass es den Damen nie auffiel, zu sehr mit sich und ihrer eigenen Lust beschäftigt, entging es ihnen jedes Mal.

Warum dann das Ganze? Die Macht über sie, den Verlust ihrer Selbstkontrolle zu sehen, das war es, was Tim an diesem Spiel reizt. Mehr nicht!

Das übliche Bedauern darüber beschleicht ihn. Spiele, alles in seinem Leben waren nur dumme Spiele. Ähnlich wie »Mensch ärgere dich nicht«, kurz vor dem Gewinnen und dann wirst du rausgeschmissen.

Dieser Funke, den er bei all diesen Frauen sucht, der aber nicht in ihnen wartet, sich ihm in ihren Augen zu zeigen. Dieser wirft ihn raus aus seinen Illusionen, es könnte dieses eine Mal anders sein.

Aber er hatte ihn gesehen, nicht bei dieser Schlampe, sondern bei ihr.

Sie, die in nichts denen glich, die er in sein Bett führte.

Vollkommen durch ihre Unvollkommenheit.

Ein Diamant versteckt unter dreckigen Steinen.

Vor einigen Nächten begegnete sie ihm bei seinem ruhelosen Spaziergang.

Ein kurzer Augenkontakt, als sie ihm gegenüberstand. Es war da, dieses Funkeln von unendlicher Liebe. Ohne ihn zu kennen, gab sie ihm ihr Herz, ihre Seele. Doch dann entriss sie ihm wieder alles, nahm es zurück und der Funke erlosch. Ihr Gesicht aber blieb in seinem Gedächtnis verankert.

»Prinzessin, komm zurück!« Ohne dass er es merkt, spricht Tim die Bitte laut aus. Alles von ihr, jedes kleinste Detail spiegelt sich in seinen Gedanken wider. Als ob sie hier in diesem Raum seine Gesellschaft teilt.

Erregung steigt in ihm auf, das Verlangen nach ihr lässt sein Glied steif werden.

Das Mädchen da oben rührt sich noch immer nicht.

Vielleicht, wenn er jetzt zu ihr geht, sie noch einmal, mit dem Bild seiner Prinzessin vor Augen, nimmt, vielleicht wird es diesmal dann nicht nur ein ernüchterndes Spiel sein. Vielleicht ...

5. Christine

Die Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Es ist so klar und deutlich, was ich zu tun habe. »Du kannst nur schreiben, was du erlebt hast, sei es real oder in der Phantasie, aber du musst es erleben«, sage ich zu mir selbst.

Sämtliche Angst ist von mir abgefallen. Das schwindende Adrenalin in meinem Körper bringt mich zur Ruhe und lässt mich alles normal sehen. Was soll denn sein, wenn ich da noch einmal hingehe? Die Frau ist tot, die wird mich kaum anfallen, und dass der Mörder noch in der Nähe ist, das ist nicht anzunehmen. Außerdem gibt es da noch immer die Möglichkeit, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist. Also Herzanfall oder gestolpert und blöd gefallen. So etwas in dieser Art.

Tote kenne ich nur von Abbildungen im Internet oder aus Zeitschriften. Wenn ich also in meinem Thriller eine richtige und tolle Beschreibung haben will, dann muss ich mir das einfach ansehen. Ich muss spüren, wie der Tod sich anfühlt.

Irgendwo habe ich doch mal eine Taschenlampe gehabt, die wäre jetzt perfekt, wenn mir nur einfallen würde, wo ich sie vergraben habe. Viele Möglichkeiten gibt es in diesem Palast ja nicht. Ich krabble am Boden und ziehe alle Sachen, die ich unter dem Bett verstaut habe, hervor. Irgendwo in diesem Kuddelmuddel wird sie schon sein.

»Ich hab nicht gewusst, dass ich so viele Socken besitze«, denke ich mir, als ich all meine Schätze neben mir aufhäufe. Aus einem zusammengerollten Pullover fällt die Taschenlampe und rollt mir genau vor die Füße.

Ein gutes Omen.

Müde bin ich sowieso nicht mehr. Der Schock über meinen Fund hat mich so wach gemacht wie noch nie. Ich könnte jetzt niemals schlafen. Also packe ich meine Taschenlampe, meinen Notizblock, eine kleine Kamera und meine Putzhandschuhe und verlasse die Wohnung auf einen zweiten Versuch, etwas aus meinem Buch zu machen. Diesmal vergesse ich allerdings nicht die Jacke, denn dieser Ausflug wird wohl ein wenig länger dauern.

Die Straßen sind menschenleer, zu dieser Stunde aber auch kein Wunder. Meine Schritte sind sehr schnell, denn irgendwie bin ich aufgeregt, möchte sehr rasch zu meinem ersten Leichenfund. Zumindest bevor jemand anderes sie entdeckt und alle Spuren verwischt sind. Ha, ich denke schon wie eine Detektivin, das kann ja nur gut werden.

Erst einige Meter, nachdem ich in den Waldweg eingebogen bin, schalte ich die Taschenlampe an, denn ich möchte nicht erwischt werden. Es muss ja nicht sein, dass ich vielleicht verhaftet werde, nur weil ich in der Nähe einer Leiche bin und die Polizisten glauben, ich sei die Mörderin.

Naja, vielleicht auch eine gute Erfahrung zur Verwertung in meinem Buch, aber der Weg aus so einem Schlamassel heraus, der könnte sich als kompliziert herausstellen. Das werde ich einmal zu einem späteren Zeitpunkt ausprobieren, wenn ich schon etwas felsenfester in der Welt der Kriminalität stehe.

Endlich kann ich das Gebüsch ausmachen, wo meine erste Leiche liegt. Die Aufregung macht mich ganz kribbelig. Bis jetzt dürfte niemand die Tote gefunden haben, denn alles ist ruhig. Sonst wären da bestimmt ein Menschenauflauf und Absperrungen. Jetzt nähere ich mich langsam. Das Erste, was ich sehe, sind die Beine. Ich kann sie zwischen den Blättern des Busches hervorlugen sehen.

Ein wenig mulmig wird mir schon bei dem Anblick. Sie schaut so kalt aus, so steif. In der Theorie habe ich mir das natürlich sehr einfach vorgestellt, jetzt, wo ich neben ihr stehe, und von oben mit meiner Taschenlampe auf sie leuchte, da wirkt das alles etwas unheimlich. Doch meine Sucht nach Anerkennung, mein Bedürfnis, endlich das ultimative Buch zu schreiben, verscheucht die Zweifel, ob das richtig ist, was ich hier mache.

Im Stehen geht das nicht, also knie ich mich neben sie. Ich strecke meine Hand aus und berühre für einen Augenblick ihr Bein. Schnell zucke ich zurück. Sie ist so hart, die Haut. So als wäre sie aus Stein.

Ich muss einfach mutig sein, das kann ja nicht so schwer sein, die wehrt sich mit Sicherheit nicht mehr.