Ich liebe die Natur,
ich liebe die Landschaft,
weil sie so aufrichtig ist.
Sie betrügt mich nie.
Sie hält mich nie zum Narren.
Sie ist auf heitere, musikalische Weise ernst.
Ich lege mich auf die Erde
und kann mich auf sie verlassen.

Henry David Thoreau


Alles wirkliche Leben ist Begegnung.

Martin Buber

Vorwort

Der Autor auf dem Weg von Preia nach Campello Monti (Foto: Alice Valente Visco)

Kleine Philosophie des nachdenklichen Reisens

Frau in Preia (Foto: Alice Valente Visco)

Kalimpong
— Refugium im Himalaja

Blick auf Kalimpong vom Himalayan Hotel (Foto: Martin Kämpchen)

Kailash
— Reise zum heiligen Berg Tibets

Berg Kailash (Foto: Martin Kämpchen)

Schottland
— Diese befreiende Leere

Auf der Insel Iona (Jeanne Openshaw)

Berg Athos
— Pilgerschaft in unserer Zeit

Berg Athos vom Westen (Foto: Peter Rick)

Neemrana
— Ein Labyrinth als Fort

Neemrana Fort in Rajasthan (Foto: Hotelprospekt)

Nepal
— Wandern gegen die Angst

Nepalesisches Bergdorf auf dem Weg zum
Manaslu (Foto: Paul Vogels)

Sri Lanka
— Das Lächeln des Buddha

Beter bringen Opfergaben in Anuradhapura (Foto: Martin Kämpchen)

Preia
— Kinderland wiederentdeckt

Forno von der Bergseite (Foto: Martin Kämpchen)

Nachbemerkungen

Im Innenhof eines Athosklosters (Foto: Gregor Jeub)

Dank

Ich danke insbesondere den Begleitern auf meinen Reisen. Einige haben die Reisen erst ermöglicht, haben sie vorbereitet und mir bei der Durchführung die Möglichkeit gegeben, mich ganz auf das Reiseerlebnis zu konzentrieren.

Indira Bose gehört zu meinen wichtigen Unterstützern in Kalimpong. Sie baute für mich ein kleines Haus und betreut mich während meiner Aufenthalte.

Paul und Christine Vogels aus Aachen lernte ich auf der Kailash-Reise kennen. Danach haben wir mehrere Reisen gemeinsam unternommen. Berichte von zwei weiteren sind in diesem Band enthalten: Sri Lanka und Nepal. Paul und Christine haben diese beiden Reisen vorbereitet und mich dazu eingeladen.

Jeanne Openshaw war auf allen Schottlandreisen dabei und bereitete sie genau vor, sodass ich sorglos aus dem Zugfenster schauen und die Wanderschuhe anziehen konnte.

Mit Petrus und Henni Rick sowie Gregor Jeub, alle drei aus Aachen, habe ich Griechenland besucht. Petrus und Gregor begleitete ich zur Mönchsrepublik Athos. Petrus besorgte für uns die Einreiseerlaubnis. Auf der ersten Athosreise war ich mit Rüdiger Stadthardt zusammen, den ich auch von der Kailash-Reise kenne. Rüdiger besorgte uns die Einreiseerlaubnis.

Die letzte Reise nach Preia ermöglichte Georg Holzmeister aus Salzburg, der mich im Auto hinbrachte. Alice Valente Visco und Daniele Mastrangelo kamen aus Rom dazu, und ich verdanke ihnen, dass ich mit alten Bekannten kommunizieren und mehr über die Bewohner erfahren konnte.

Im Nepal-Kapitel schreibe ich über Madan Thapa Magar, der mich zuerst als Bergführer begleitete und mich danach zweimal in sein Heimatdorf mitnahm. Durch ihn habe ich viel über die Bergdörfer und die Situation der Jugend in Nepal gelernt.

Über diesen Band mit Reiseessays hatte ich zuerst mit Heinz Ludwig Arnold gesprochen; er ermutigte mich über Jahre hinweg, dieses Buch abzuschließen. Lutz Arnold ist am 1. November 2011 in Göttingen gestorben. Ich brauchte lange, um diesen Schock zu überwinden.

Wie in den Jahren vorher hat mich die Udo Keller Stiftung finanziell unterstützt, sodass ich ohne materielle Sorgen dieses Buch planen konnte.

Ich habe meine Reiseessays am Indian Institute of Advanced Study in Shimla (Nordindien) zu Ende geschrieben und überarbeitet. Das Stipendium des Instituts erlaubte mir eine vollkommene Konzentration auf die Fertigstellung dieses Buches.

Marlene Fritsch hat als Lektorin diesen Band in bewährter Weise betreut.

Allen meinen herzlichen Dank!

Martin Kämpchen

INHALT
Vorwort

Kleine Philosophie des nachdenklichen Reisens
Kalimpong – Refugium im Himalaja
Kailash – Reise zum heiligen Berg Tibets
Schottland – Diese befreiende Leere
Berg Athos – Pilgerschaft in unserer Zeit
Neemrana – Ein Labyrinth als Fort
Nepal – Wandern gegen die Angst
Sri Lanka – Das Lächeln des Buddha
Preia – Kinderland wiederentdeckt

Nachbemerkungen
Dank

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.







© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2017

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Marlene Fritsch

Umschlagfoto: Fotolia.com / Marcell Faber

Gestaltung und Kartenskizzen: Dr. Matthias E. Gahr

ISBN 978-3-7365-0059-4 (print)

ISBN 978-3-89680-987-2 (epub)

www.vier-tuerme-verlag.de

Martin Kämpchen



Lebens-Reisen

9 Versuche, der Ferne näher zu kommen






Vier-Türme-Verlag

Meine Reisegefährten, das Aachener Ehepaar Paul und Christine, hatte ich auf dem Weg nach Kailash kennengelernt. Die Schwierigkeiten dieser Reise hatten uns verbunden; damals musste man zusammenhalten, um durchzukommen. Jetzt ist es 2013 und wir wollten uns die Gefahren einer schwierigen Wanderschaft nicht mehr zumuten. Unser Veranstalter in Kathmandu, den Paul von früher kannte, beschrieb uns die Tour als einen Spaziergang.

»Und wenn ihr müde werdet, setzen wir euch auf ein Pferd.«

»Und wenn ihr Schwierigkeiten habt, ruft mich an und wir holen euch zurück!«

Auf diese Weise beruhigt, hatten wir uns entschlossen aufzubrechen. Man ist gewohnt, dass sich alles planen, ausrechnen und durch Informationen aus dem Internet sozusagen im Voraus erfahren lässt. Es gab keine bedrohlichen Wettervorhersagen oder Nachrichten über Erdrutsche, keine Bedenken der Freunde. Ich wollte also nicht feige sein. Mir war bewusst, dass eine Absage mein Selbstvertrauen so sehr schwächen würde, dass die Wirkung lang spürbar geblieben wäre. Ich hatte Ja gesagt; Zusagen habe ich stets eingehalten.

Er wurde alles andere als ein Spaziergang. Der Trek forderte meine gesammelten körperlichen und geistigen Kräfte heraus. Der Weg führte von Arughat den Budhi-Gandaki-Fluss aufwärts in Richtung des Berges Manaslu, zweigte dann nach Osten ab, folgte dem Tal des Siyar-Flusses und weiter hinauf zum einsamen Tsum-Tal. In einem Kleinbus fuhren wir von Kathmandu bis nach Arughat Basar, einer Kleinstadt nordwestlich der Hauptstadt. Hinten lagen Körbe mit Proviant, die Küchenutensilien, die Zelte, ein Falttisch und drei Faltstühle. Das Küchenpersonal und zwei Bergführer (Guides) kamen mit. Die ersten drei Stunden über eine vielbefahrene, gut ausgebaute Straße, dann weitere drei über Feldwege, die teilweise so löchrig, steinig, holprig waren, dass der Fahrer zum Künstler am Lenkrad wurde. Arughat ist ein hässlicher Outpost der Zivilisation, wie wucherndes Unkraut sind die Straßenzüge zusammengewachsen, Verkaufsbuden bieten lieblos Kram an, Unrat am Weg.

Der Trek und seine Herausforderungen. — Weg von hier! Wir schultern unsere Rucksäcke und machen uns auf. Der Koch und seine drei Küchenjungen, die zwei Kerosinkocher und alles Küchengerät tragen, überholen uns bald. Die Träger, die in Arughat angeheuert worden sind, folgen mit Zelten, unseren drei Säcken mit Kleidung und Ausrüstung sowie dem gesamten Proviant für zwei Wochen. Das Gewicht der geflochtenen Kiepen lastet auf einem breiten Stirnband. Rund dreißig Kilo lädt ein Träger auf seinen Rücken. Außer dem Küchenpersonal und den beiden Führern sind zehn Träger für uns drei Personen unterwegs. Auf dem Rückweg, als die Vorräte geschwunden sind, reduziert sich die Zahl auf sechs. Neben unseren drei Zelten zum Übernachten schlagen die Führer ein Küchenzelt, ein Zelt, in dem wir abends essen und uns aufhalten, und ein kleines Toilettenzelt auf.

Niemand von uns hat mit diesem Aufwand gerechnet. Ich fühle mich beschämt. Eine solche Karawane ist offensichtlich notwendig, um uns Europäer sicher und ausreichend versorgt durch die Berge zu bringen. Jüngere und routinierte Bergwanderer tragen ihre Zelte auf dem Rücken oder essen in den kärglichen Gasthäusern am Weg und übernachten in deren engen Schlafsälen. Unsere Route sollte jedoch bald einsamer werden und wäre dann ohne Zelte und Küche nicht zu bewältigen.

Ich habe den Trek als eine Herausforderung an meinen Mut angetreten, dem Unbekannten nicht auszuweichen. Die menschliche Szenerie, die um uns aufgebaut wird, erscheint mir mit dieser Herausforderung unvereinbar. So viel von der uns gewohnten »Zivilisation« wie möglich soll uns umgeben, damit wir dieses Unbekannte auf ein Mindestmaß reduzieren und die körperliche Anstrengung bewältigen können. Das betrifft auch unsere Ausrüstung: zwei Stöcke, Sonnencreme, sonnenresistente Kleidung, Sonnenhut, Sonnenbrille, drei Hemden, zwei Trekkinghosen, lange Unterhose und warmer Anorak und Wollmütze gegen die Kälte, Regenjacke und Regenhose, zwei Paar Schuhe, Sandalen.

Die ersten Stunden führen uns über einen Weg, den auch Jeeps und Motorräder noch schaffen. Ab dem zweiten Tag wird der Weg eng, steinig, steigt steil aufwärts, fällt steil abwärts, windet sich über Steinbrocken, auf die ich mich mit den Stöcken hinaufwuchte, von denen ich zu den nächsten Steinen hinabspringe, bemüht, nicht zu rutschen, zu straucheln und zu fallen. Über wildes Gestein, über geriffelte Felsen hinauf oder hinunter; über Geröll, durch Rinnsale und von Stein zu Stein balancierend über flache, aber reißende Bachläufe; der schmale Weg oft am Rand eines Abgrunds von zig Metern zur einen und einer grandios aufragenden Bergwand zur anderen Seite. Mit den Stöcken die Tritte abstützen, auffangen, ausbalancieren! Die Füße Schritt für Schritt mit Bedacht setzen, sodass sie nicht umknicken, nicht stolpern, die Knie nicht mehr als notwendig belasten!

Sechs Tage lang sind wir zwischen vier und sieben Stunden von 600 auf 3.300 Höhenmetern hinaufgewandert, doch dazwischen mit ständigem Rauf und Runter, mal steiler, mal flacher, mal unterbrochen von einer Strecke durch Wiesen und Haine und an winzigen Dörfern vorbei, mal durch Schlamm, mal über Felder. Der Atem wird schwer, wenn ich zu lange aufsteige. Stehen bleiben, bis ich nicht mehr keuche, dann weiter hoch! Dagegen die Leichtigkeit, mit der unser nepalesisches Team den Trek bewältigt: Keiner benutzt Stöcke, unsere zwei Führer tragen nur feste Turnschuhe, die anderen Sandalen, keiner, auch nicht die gegenüber den Trägern besser ausgestatteten Führer besitzen mehr als zwei T-Shirts oder Hemden und eine warme Jacke und Mütze, nichts gegen Regen, nichts gegen die Sonne. Sie laufen, nein: hüpfen über die Steine und Felsen, beinahe ohne hinzuschauen, hinab und hinauf. Ihre Füße finden überall Halt, und sie kommen kein einziges Mal außer Atem, auch nicht in den höheren Regionen. Während ich maßlos schwitze und alle paar Minuten anhalten muss, um mein Gesicht zu trocknen, weil die Tropfen in die Augen rinnen, habe ich auf dem Gesicht jenes Bergführers, Madan, der stets einen Schritt hinter mir hergeht, keine Tropfen entdeckt. Leichtfüßig läuft er, stimmt immer wieder, auch während wir gefährliche Steinformationen überqueren, ein Lied an; gerät nie aus dem Gleichgewicht oder in Gefahr zu stolpern. Die Träger schleppen ihre Lasten über dieselben Wege. Sie gehen schneller als ich, rasten jedoch häufiger, vor allem in den Schnapsbuden am Weg. Auch wenn sie schwanken, verfehlen sie keinen Tritt.

Was tun wir Europäer in dieser Region? — Wieder stelle ich mir diese Frage, wie vor Jahren auf dem Weg zum Kailash. Ist es gerechtfertigt, in Gebiete einzudringen, für deren Lebensbedingungen wir von der Natur nicht ausgestattet sind, Bedingungen, die aber die Einheimischen mit Elan erfüllen? In den zwei Wochen fühle ich mich als Eindringling. Während wir in die Höhe steigen, beobachte ich den Wechsel der Vegetation. Unten wachsen Bananenstauden und auf Terrassen der frischgrüne Reis, oben breiten sich Nadelhölzer aus und Hirse reift auf den Feldern. Was gibt mir die Berechtigung, denke ich, unterstützt von sämtlichen Hilfsmitteln der Technik und des Kommerzes, ein Fortkommen in diesen Bergen zu erzwingen – eine Bananenstaude in der Höhe zu sein?

Werden wir von der Dorfbevölkerung als Eindringlinge empfunden? Die Nepalesen sind von Natur aus freundlich und heißen uns fremde Menschen willkommen. Gewiss, wir bringen Geld mit, geben Arbeit und bescheidenen Wohlstand, der Tourismus ist auch Anlass für infrastrukturelle Entwicklungen. Genügt das zur Rechtfertigung? Auf dem ersten Wegstück entlang der Budhi Gandaki kommen uns täglich zehn bis fünfzehn Gruppen von ausländischen Trekkern entgegen, auch einige Einzelwanderer, die ihr Gepäck selbst tragen und mit nur einer Begleitperson vorbeiziehen. Darunter sind vorwiegend junge Menschen, allerdings auch erstaunlich viele Pensionäre. Ihnen sieht man oft die Anstrengung an, viele überfordern sich. Die Nepalesen haben alle ihre klar definierten Rollen als Führer, Träger, Köche, als Wirte und Gastgeber in den kleinen Hotels. Für sie sind wir keine Eindringlinge. Wenn ich in die Gesichter der Kinder schaue, kommen unterschiedliche Antworten. In denen der kleineren ist Reserviertheit, manchmal Argwohn, Neugier gemischt mit Abwehr zu erkennen. Die älteren Kinder kommen schnurstraks auf uns zu, um zu betteln. Luftballons, Kugelschreiber und Bonbons sind die beliebtesten Forderungen. Sie gaffen, während die Führer unsere Zelte aufbauen, sie streichen um uns herum, werden manchmal lästig. Unwillkürlich achten wir auf unser Gepäck, wenn sie in der Nähe sind. Vom Trekking-Tourismus wurden sie deutlich verbogen. Keine Familie, auch nicht eine sehr arme, möchte ihre Kinder zu Bettlern erniedrigen.

Auf der zweiten Wegstrecke entlang des Siyar-Flusses wird der Tourismus geringer. Dort wohnen Tibeter, die Dörfer sehen arm aus, die Kinder geradezu verwahrlost. Wir gehen an langen Mani-Wänden entlang. Das sind aufgehäufte Steine, die in tibetischer Schrift mit dem heiligen Mantra »Om mani padme hum« verziert sind. Dieser schwer deutbare Mantra bezieht sich auf den Kreislauf von Entstehen und Erlöschen der Welt, aus dem sich die Menschen befreien wollen. Jede Wand umkreisen auch wir wie die Tibeter im Uhrzeigersinn. In jedem Dorf steht eine Gompa, ein Tempel zu Ehren Buddhas, den wir in der Regel besuchen dürfen.

Überwinde deine Angst! — Den Trek als eine geistige Herausforderung anzunehmen heißt, dass es mir nicht darum geht, körperliche Leistungen zu vollbringen; ich will nicht meine Kraft, Ausdauer und meine Leidensfähigkeit prüfen. Ich erwarte keine Erfüllung meines Ehrgeizes, der viele Trekker und Bergsteiger motivieren mag. Das Ego soll nicht bestätigt und gestärkt werden, sondern im Gegenteil seine Grenzen erfahren und Demut lernen.

Die erste Aufgabe ist, meine Angst zu überwinden, die vor Reisebeginn von meiner Fantasie Besitz ergriffen hatte. Ich frage mich: Was wird geschehen, wenn ich mir, fünf, sechs Tagesmärsche von jedem Arzt und Krankenhaus entfernt, den Knöchel verstauche, ein Bein breche, mit Durchfall oder einer fiebrigen Erkältung steckenbleibe? Was werde ich tun, wenn meine Reisegefährten in solche Not geraten? Wie kann ich mir helfen, wenn mich die Höhenkrankheit zwingt zurückzukehren, während der Tross weiterwandert und nicht mehr zu sehen ist? Wie kann ich Schlaflosigkeit verhindern, Gliederschmerzen, einen Anfall der Reiter’schen Krankheit, die die Gelenke entzündet und für die ich anfällig bin?

Längst habe ich mich von den Reden des Touragenten verabschiedet. »Ruf an, wenn du Schwierigkeiten hast.« Seit dem zweiten Tag unserer Wanderung sind die Mobiltelefone tot. Zwei Tagesreisen weiter gibt es in den Gasthäusern auch keine Netzverbindungen mehr. Die Bergführer wissen, dass wir auf der gesamten Reise keine Verbindung zur Außenwelt bekommen werden. Und aufs Pferd setzen? Auch für ein Königreich könnte ich hier kein Pferd mieten. Die steinigen Wege sind nur für Maulesel geeignet, Menschen sind zu schwer für sie. Der rundliche Touragent in Kathmandu hat bewusst gelogen, um uns als Kunden zu gewinnen.

Der Szenarien gibt es viele, und sie enthalten nicht nur herbeifantasierte Gefahren, sondern auch reale, wie viele Trekkinggeschichten beweisen. Angst kann bekämpft werden, indem man bewusst Vertrauen in die »unsichtbaren Mächte« – in Gott, in das Schicksal, in unser Karma – dagegensetzt. Was muss ich tun, um ein so starkes Vertrauen zu erwerben, dass ich mich danach von mir selbst losreißen kann?

Die wichtigste Methode ist das unumwundene Eingeständnis der Angst mir und meinen Gefährten gegenüber. Angst gilt im abendländischen Kulturkreis als Schwäche, fortitudo, Mut, Tapferkeit dagegen als (christliche und weltliche) Tugend. Das Wort kommt von forte – stark. Doch Angst ist keine Schwäche, sondern eine natürliche, aus unserem kreatürlichen Leben emporsteigende Verengung des Geistes. Wir spüren, wie verletzlich unsere Kreatürlichkeit ist und bangen um ihre Unversehrtheit. Den Angstzustand als unumgänglich hinzunehmen, nur das ist schwach. Starke Menschen sind stark, weil sie ihre Angst bekämpfen.

Vertrauen in Gott ist mir durch lange Schulung zur zweiten Natur geworden. Wie aber jetzt in dieser realen Situation Vertrauen durch positive Taten festigen? Ich mache mir morgens beim Erwachen klar, dass ich an diesem Tag verschiedenen Gefahren ausgesetzt sein werde und dass ich sie am ehesten bestehe, indem ich der Angst ins Gesicht blicke. Wie? Drei positive Elemente seien genannt: Absage an das Wettbewerbsdenken; Konzentration; sich nicht beklagen und keine Ansprüche stellen.

In unserer Dreiergruppe setzt sich das Ehepaar stets an die Spitze. Wir haben abgesprochen, dass jeder sein eigenes Tempo wählt, was einem ausgeglichenen Wandern förderlich ist. Von Anfang an nehme ich die dritte Position ein. Zuerst versuchte ich, Schritt zu halten, dann erkannte ich das Als-Letzter-Laufen als meine Chance, mich vom Wettbewerbsdenken zu lösen. Ich übe mich darin, der Letzte zu sein, und fühle mich bald freier. Frei werde ich für die Sammlung auf jeden einzelnen Schritt. Konzentration ist wichtig, weil ich nicht intuitiv die Füße setzen kann wie das Team der Nepalesen. Ich muss mit jedem Schritt wählen, welches der günstige Platz für den Fuß ist. Das verlangt äußerste Konzentration, die nicht mit den Stunden ermüden darf, gerade dann nicht, wenn die körperliche Kraft nachlässt oder der Weg schwieriger wird.

Diese Konzentration auf die äußeren Vorgänge will ich nicht durch innere Ablenkungen verlieren, etwa indem ich gegen meine Situation rebelliere. Ich entschließe mich, anzunehmen, was kommt, auch das Ungewohnte, Unangenehme, Beängstigende: den Schweiß und den Schweißgeruch, die feuchten, muffigen Kleider, die stinkenden Toiletten, die Druckstellen an den Füßen, die schmerzenden Knie, die manchmal mit Unrat übersäten Zeltplätze, das Gezeter der beschwipsten Träger. Ich habe mich entschlossen, diesen Trek zu unternehmen, also bin ich bereit, dem Schwierigen wie dem Großartigen zuzustimmen. Bei allem äußeren Aufwand, der nötig ist, will ich meine Ansprüche auf das erträgliche Maß herabsetzen. Wir brauchen das nahrhafte Essen, das die Küche drei Mal am Tag auf den Falttisch zaubert, um bei Kräften zu bleiben. Aber tadellos saubere Kleidung ist nicht notwendig, ich will mich nicht mit Waschen und Trocknen aufhalten. Ich lasse den Bart wachsen und schaue zwei Wochen lang nicht in den Spiegel. Ich achte darauf, dass ich das Begleitteam nur so stark wie tatsächlich notwendig beanspruche.

Mit dieser Einstellung bin ich hinauf- und hinuntergestiegen und habe zwei Wochen erlebt, die ich nicht missen will. In der Nacht sah ich mich, allein im Zelt, im Halbschlaf die Felsen hinabstürzen. Jede Nacht fiel ich vom Berg. Doch als ich morgens zu wandern begann, war ich frei von Angst. Erstaunlich, dass ich in die Tiefe hinabschauen konnte, wo der Fluss schäumte, dass ich vor dem schier endlosen Rauf und Runter auf schmalem, felsigem Pfad nicht erschauderte. Offenbar war ich vorbereitet.

Die Sorge des Bergführers. — Madan, der Bergführer, der mich begleitet, ist ein dreiundzwanzigjähriger Student aus armen bäuerlichen Verhältnissen. Mit fünfzehn Jahren wanderte er zwei Tage lang zum Flughafen Lukla, um sich dort als Träger für Bergtouristen anheuern zu lassen. Die Familie brauchte das Geld, die älteren Brüder hatten Schulden. Mit fünfzehn, noch nicht ausgewachsen, trug der Junge schwere Lasten auf die Berge. Jahrelang war das sein Los, aber Madan besuchte zwischen den Treks die Schule, er wollte mehr erreichen. Als er mir eines Abends von diesem Kampf erzählte, begann er zu weinen, so stark war der Erinnerungsschmerz. Vor zwei Jahren wurde er vom Lastenträger zum Bergführer befördert und soeben hat er, spät für sein Alter, die Prüfungen bestanden, die ihn zum Universitätsstudium berechtigen.

Madan singt und pfeift, während er einen Schritt hinter mir hergeht. Er bleibt stehen, wenn ich innehalte, um zu verschnaufen; wenn ich die Berge anstaune und die Arme ausbreitend »Ahh« sage, ist er neben mir und freut sich über sein »beautiful Nepal«. Immer aufmerksam, aufnahmebereit, kein einziges Mal ungeduldig oder spöttisch, fordernd oder herablassend ob meiner Schwächen, ist er ein zuverlässiger Begleiter, das Licht, das mir den Frieden gibt, weiterzuwandern, und die Ursache, diese Wanderung mit Freude abzuschließen. Wir wachsen zu einer Gemeinschaft zusammen, die in solchen besonderen Situationen nicht unüblich ist und danach meist erlischt.

Besuch in Merangdi. — Die Gemeinschaft ist nicht erloschen. Zweimal, im Mai 2014 und im Januar/Februar 2015, hat mich Madan in sein Heimatdorf Merangdi im südlichen Teil des Distrikts Solukhumbu mitgenommen. Hoch im Norden dieses Distrikts, der an Tibet grenzt, liegt der Mount Everest. Eine Fahrstraße vom Süden bis in den Norden besteht noch nicht; nur Fußwege gibt es. Solukhumbu bleibt also infrastrukturell unerschlossen.

Die Reise in Madans Dorf beginnt in Kathmandu, sehr früh am Morgen reisen wir in einem Jeep, einem Sammeltaxi, ab. Obwohl die Strecke rund dreihundert Kilometer bis zur Endstation Sallery, der Distrikthauptstadt, misst, braucht der Jeep zwölf Stunden, meist sogar einige Stunden mehr. Nach den ersten fünfzig Kilometern werden die Straßen zu Staubpisten und so holprig, dass der Jeep oft im Schritttempo fahren muss. Auf der gesamten Strecke herrscht rege Bautätigkeit. Die Straße wird erweitert, ausgebaut und gegen Erdrutsche gesichert. Man sieht gesprengte Felsen, hohe Mauern, überall Bagger und Lastwagen, die Erde und Bauschutt abtransportieren. Mehrmals müssen alle Fahrzeuge eine halbe Stunde oder länger warten, weil ein Lastwagen, der beladen wird, die Straße blockiert; deshalb auch die Verspätungen.

Rund zwanzig Kilometer vor Sallery steigen wir aus und klettern zu Fuß steil hinab zu einem Bach, über den eine Holzbrücke führt. Durch Nadel- und Mischwälder geht der Weg so steil aufwärts, dass ich meine Trekkingstöcke einsetzen muss. Nach zwei bis drei Stunden erreichen wir Merangdi, das in 2.350 Metern Höhe am Hang liegt.

Die soliden zweistöckigen Steinhäuser liegen weit verstreut und haben jeweils einen Hof vor dem Eingang und terrassenförmige Felder in ihrer Umgebung. Ein Balkon führt entlang der zwei Seiten, die talwärts weisen. Zu ebener Erde sind die zwei oder drei Wohnräume, im oberen Stock unter dem Giebeldach aus Schiefer liegt die Küche.

Im Haus von Madans Familie wohnen die Eltern, die jüngere Schwester Kumari und der Großvater. Als wir eintreffen, pflügt der Vater gerade ein Feld oberhalb des Hauses, um Kartoffeln zu pflanzen. Die Schwester, eine Schülerin, ist uns entgegengekommen, um Madan seinen schweren Rucksack abzunehmen. Natürlich arbeitet sie im Haushalt mit. Nicht nur beim Kochen und Putzen hilft sie, sondern sie verrichtet auch schwere Arbeit, trägt etwa die gefüllten Kannen von der Wasserstelle fünfzig Meter vom Haus entfernt hinauf zur Küche, schleppt das Holz, das der Vater gespalten hat, in einer Kiepe zur Feuerstelle. Einmal in der Woche geht sie zu Fuß nach Pattale Basar, um Proviant nach Hause zu bringen. Da Madans ältere Brüder nicht mehr im Elternhaus wohnen, muss Kumari eine männliche Arbeitskraft ersetzen, und sie scheint es willig zu tun.

In der Schule muss sie die Prüfungen der achten Klasse nachholen, bevor sie aufsteigen kann. Kumari will die Schule aufgeben; offensichtlich widersprechen die Eltern ihr nicht entschieden genug. Nur Madan, der in seiner Familie die beste Schulbildung besitzt und darum für sie eine Autoritätsperson darstellt, versucht Kumari zu überreden, weiterzulernen. Madan hat den Nutzen erkannt. Was sie denn später tun wolle, fragt er die Schwester.

Einen Beauty Parlour aufmachen, sagt sie. Einen Beauty Parlour? – Beide sind wir erstaunt. Wie kommt sie denn auf die Idee? Sozialarbeiter von der Regierung hatten das Dorf besucht, sie boten verschiedene Ausbildungsprogramme an, darunter auch Schönheitspflege. Die unerfahrene Kumari bedenkt nicht, dass sie diese Ausbildung nur in der Stadt bekommen und den Beruf ebenso nur in der Stadt ausüben kann. Hohe Investitionen und ein Wechsel von Merangdi nach Kath­mandu!

Madans ältere Brüder, Man Bahadur und Kedar, sind verheiratet und wohnen mit ihren Familien in der Nähe. Beide haben es in der Schule nicht weit gebracht und verrichten ungelernte Arbeit. Kedar ist Holzfäller in den umliegenden Wäldern. Man Bahadur, der älteste Bruder, betreibt eine Wirtschaft im nächsten Ort, Ghunsa. Vor der Heirat hatte er sein Glück mit Arbeitsaufenthalten im Irak und in Dubai versucht; insgesamt verbrachte er sechseinhalb Jahre im Ausland, um ordentlich Geld zu verdienen.

Die Atmosphäre im Haushalt ist ruhig und gemächlich. Die Abwesenheit von Fernsehen und Radio ist mir so angenehm, doch die Familie wäre wahrscheinlich für Abwechslung dankbar. Die Integration des Großvaters in die Familie scheint harmonisch. Er sitzt und döst in der Sonne, er genießt die Mahlzeiten; als wir von Kedar zum Abendessen eingeladen werden, ist er selbstverständlich dabei. Er wird zu keinerlei Arbeit angehalten, beteiligt sich aber mit kleinen Verrichtungen. Kühe, Hühner, Ziegen und Hunde gehören zum Familienleben.

Die Küche im oberen Stockwerk ist der Mittelpunkt. Von morgens bis spätabends brennt Holz im offenen Herdfeuer. Vater oder Mutter kochen die Mahlzeiten, machen Wasser heiß oder bereiten Tee zu. Der Rauch zieht nur langsam durch die Ritzen im Dach ab. Die Küche ist darum oft rauchig. Ich kann kaum die Augen offen halten, so beißt der Rauch; die Familie ist daran gewöhnt und versucht nicht, sich zu schützen. Gewiss kennt niemand, auch nicht Madan, die Gefährdung für die Atemwege und die Lunge. Alle Küchen, die ich im Dorf betreten habe, sind ohne Fenster, also dunkel und, obwohl geräumig, recht unwohnlich. In der Küche isst die Familie. Wenn Verwandte kommen, übernachten oft einige Familienmitglieder auf dem hölzernen Küchenboden. Der Vorteil ist, dass die Küchen wärmer als die anderen Räume sind.

Madan, ein typisches Jungenschicksal. — Auf unseren Wegen in Merandi und zu den Nachbardörfern erfahre ich mehr über Madans Jugendzeit. Man stelle sich vor: Ein noch im Wachstum begriffener Junge verlässt den Schulunterricht, um wochenlang Lasten von dreißig Kilogramm die Berge hinauf- und hinabzutragen! Madan war nicht kräftig genug, nicht ausreichend ernährt für diesen Job. Während der Treks kommen die Träger in den Dörfern unter, in den Scheunen, in einer Küche, kaum geschützt vor der Kälte; ohne hygienische sanitäre Anlagen. Mit sechzehn Jahren wäre er beinahe gestorben, als er auf etwa 5.500 Metern höhenkrank wurde. Der Bergführer schickte ihn allein zurück. In einer Berghütte angekommen, wurde Madan bewusstlos und blieb unbemerkt liegen. Erst einen Tag später trug man ihn zu Tal. Sein Vater transportierte ihn zunächst in die nächstgelegenen Krankenhäuser von Lukla und Phaplu, und dann flog er seinen Sohn nach Kathmandu, wo er einige Wochen im Krankenhaus eine Lungenentzündung auskurierte. Die Schulden musste die Familie jahrelang abbezahlen. Die ihm von der Trekkingfirma zustehende Versicherungssumme wurde ihm vorenthalten. Madan war nicht über seine Ansprüche informiert.

Als Träger oder Küchenpersonal bei Trekkingtouren zu arbeiten und davon zu leben ist das Schicksal von zigtausenden Nepalesen. Sie verdienen relativ gut, weitaus besser als Tagelöhner in der Stadt. Ihre Arbeit ist allerdings auch härter und saisonbedingt. Sie sind in diese Situation hineingeboren worden und denken nicht darüber nach, wie auch die Touristen selten an den Verhältnissen Anstoß nehmen, obwohl sie sie eigenen Landsleuten wohl nicht zumuten würden. Wie gefährlich die Sherpas (wie Träger und Bergführer genannt werden) leben, hat der Unfall am Hang des Mount Everest am 18. April 2014 gezeigt, der auch in Deutschland Aufsehen erregte.

Die meisten Träger verrichten ihren Beruf, bis sie zu schwach dafür geworden sind, sie entwickeln sich nicht weiter. Die arbeitslosen Monate verbringen sie bei ihren Familien in den Dörfern, wo sie ihre Felder bestellen oder Gelegenheitsarbeiten nachgehen. Andere wohnen bei Verwandten in Kathmandu, wo es einfacher ist, als Träger angeheuert zu werden.

In den arbeitsfreien Monaten kehrte Madan zur Schule in Ghunsa zurück. In den Schulferien arbeitete er häufig als Straßenarbeiter und auf Baustellen. Er zeigte mir auf der Fahrt zu seinem Dorf drei Stellen, an denen er zur Verbreiterung der Straße tage- und wochenlang mit dem Hammer Steine kleingeschlagen hatte. Einige Jahre später wagte er den Sprung nach Kathmandu, weil es in der Umgebung von Merangdi keine weiterführende Schule gab.

Warum wollte er weiterlernen, frage ich ihn. Die Antwort charakterisiert weniger ihn als seine Generation: weil gute Bildung einen besseren Job mit höherem Einkommen verspricht. Wirtschaftliche Sicherheit ist wichtig – nicht Freude an Wissen und Horizonterweiterung, an Kenntnissen und Fertigkeiten! Ein solches Interesse stellt sich wohl erst ein, nachdem man einen guten Job ergattert hat.

In Kathmandu wohnte Madan zunächst bei Verwandten aus seinem Magar-Stamm, die sich in verschiedenen neu erschlossenen Wohngegenden in den noch preiswerten Außenbezirken konzentrieren. Finanzielle Probleme zwangen ihn immer wieder, den Schulunterricht abzubrechen, um auf Treks zu gehen. Dadurch verlor er zwei Schuljahre. Er schaffte es jedoch, genügend Englisch zu lernen, um vom Träger zum Bergführer aufzusteigen. Jetzt trägt er nur seine eigene Reiseausrüstung im Rucksack mit, körperlich braucht er weniger zu leisten.

Die Jugend verlässt ihre Heimat. — Die Situation der Jugend Nepals ist bis heute wenig hoffnungsvoll. Und nach dem Erdbeben im April 2015 ist sie noch prekärer geworden. Zwar entstehen immer mehr Schulen in den abgelegenen Dörfern, doch wer Bildung besitzt, möchte nicht länger das harte Leben in den Bergen führen, wo die Berufsoptionen auf Landwirtschaft und Handwerk begrenzt bleiben. Die Jugend zieht nach Kathmandu, dem einzigen großstädtischen Zentrum Nepals. Dies hilft weder der Entwicklung der Dörfer, die um ihr eigenes Entwicklungspotenzial gebracht werden, noch dem aus allen Nähten platzenden Kathmandu. Als ich vor etwa dreißig Jahren Kathmandu zum ersten Mal besuchte, besaß es ein beschauliches, kleinstädtisches Milieu. Heute ist es geplagt von immensen infrastrukturellen Problemen. Neben einem Stromdefizit sind die Transport- und Kommunikationswege der Bevölkerung heillos überlastet. Busse und Minibusse sind während des Tages überfüllt, Taxis für die allgemeine Bevölkerung zu teuer. Madan und ich haben uns, solange wir in Kathmandu waren, täglich mehrmals in die »Mikrobusse« hineingezwängt, in denen man selten einen Sitzplatz bekommt, sondern gebückt versuchen muss, während der heftig schlingernden Fahrten Halt zu bekommen.

Viele junge Menschen nutzen Kathmandu als Sprungbrett zu den Golfstaaten, nach Südkorea oder nach Malaysia, wo sie als ungelernte Arbeiter oder im Hotelgewerbe unterkommen. Die Auslandsjobs bringen viel Geld, das zurück nach Nepal fließt, um die zurückgelassenen Familien der Arbeiter zu unterstützen. Ich las, dass sich die Überweisungen aus dem Ausland auf 25 Prozent von Nepals Bruttoinlandsprodukt summieren. Allerdings reißt die Notwendigkeit, im Ausland zu arbeiten, zigtausende Familien auseinander. Die Ehemänner besuchen ihre Familien nur einmal im Jahr oder alle zwei Jahre. Die Frauen müssen die Kinder allein aufziehen, auf den Beistand der Väter jahrelang verzichten.

Außerdem werden den Auslandsarbeitern oft entwürdigende Arbeits- und Lebensbedingungen aufgenötigt. Immer wieder lese ich von der Ausbeutung der nepalesischen und indischen Vertragsarbeiter. Die Medien verbreiteten Berichte über die Arbeitsbedingungen in Katar, wo indische und nepalesische Arbeiter wie Sklaven gehalten werden. Doch die Regierung in Nepal und die Arbeitnehmer beklagen sich selten über diese Zustände, weil man sich diese Arbeitschancen, zu denen es kaum Alternativen gibt, nicht verbauen will. Die Nepali Times protestiert gegen diese Haltung und schreibt, man vergesse, »dass die Golfstaaten die billigen Arbeitskräfte ebenso braucht wie wir das Geld, das sie nach Hause schicken«.

Wer in Kathmandu bleibt, ist meist in der Tourismusindustrie beschäftigt. Eine Familie zieht die anderen aus den Dörfern nach. Alle sind als Träger, Köche oder Bergführer auf den Trekkingreisen der Ausländer oder im Hotelgewerbe in der Hauptstadt angestellt. Viele haben es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. In der Innenstadt hat sich an jeder Straßenecke eine Trekkingagentur eingenistet. Die Zugewanderten bilden Organisationen, um sich in Notfällen gegenseitig zu helfen und um die Verbindung zu ihren Dörfern nicht zu verlieren. Obwohl sie den relativen Komfort der Großstadt nutzen und ohne triftigen Grund nicht in ihre Dörfer zurücksiedeln würden, fühlen sie sich nicht als Großstädter und bleiben unter sich. Ihre Kinder wachsen am Rand der Großstadt auf und kennen die Heimatdörfer der älteren Generationen nur von kurzen Besuchen. Identitätskonflikte werden unvermeidlich sein und im Volk Narben hinterlassen.

Zwei Welten und ihre Konflikte. — Junge Menschen wie Madan bewegen sich in unterschiedlichen Welten. Er ist nach wie vor seinem Heimatdorf Merangdi verbunden, auch wenn er seit fünf Jahren nicht mehr dort wohnt. Das Familienbewusstsein, das Asiaten aneinander fesselt, ist auch in Nepal stark – unter den Stämmen wie den Magars, Madans Stamm, womöglich noch ausgeprägter. Die Mehrzahl der Familien in Merangdi ist weitläufig mit Madan verwandt. Die südliche Region von Solukhumbu, in der das Dorf liegt, ist inzwischen über Mobiltelefon zu erreichen, was den Familienzusammenhalt auch über weite Entfernungen stärkt.

In Kathmandu wohnt Madan zur Miete ebenso unter Seinesgleichen. Alle Nachbarn, die wir dort treffen, leben vom Bergtourismus. Er kann mir keinen Menschen außerhalb seines Stammes nennen, mit dem er regelmäßigen Kontakt pflegt. Vor zwei Jahren hat er eine Kusine, die in einem anderen Distrikt Nepals wohnte, geheiratet – auf Druck übrigens von einem Senior aus Merangdi, jetzt sein Nachbar in Kathmandu, der eine geachtete Stellung in der Sippe einnimmt. Erst allmählich beginnt sich Madan, nachdem er als Student andere Menschen kennengelernt hat, aus dieser Isolation zu befreien.

Madan ist in der archaischen Bergwelt zu Hause, ebenso aber in der Großstadt Kathmandu. Sein dritter Lebenskreis waren bisher die westlichen Ausländer, die er jahrelang während der Trekkingtouren begleitete und von denen er bewusst und unbewusst Eigenschaften und Verhaltensweisen angenommen hat. In der modernen Stadt Kathmandu ist er aber noch nicht angekommen. Erstaunlich ist zum Beispiel, dass er nie ein Kino besucht hat, nie eine Disko oder Bar. Madan trinkt keinen Alkohol und raucht nicht. An den Vergnügungen eines modernen städtischen Teenagers hat er nie teilgenommen. Der Grund ist nicht nur in seiner bisherigen Isolation zu finden, sondern auch in seinen begrenzten finanziellen Möglichkeiten. Obwohl jung und weltlich unerfahren, kennt er schon soziale Not, Krankheit und instabile Lebensverhältnsse aus eigener Erfahrung. Hinzu kommen Pflichten als Sohn und als Vater, die schwer auf ihm lasten.

Auf das soziale Klima in Merangdi reagiert Madan ambivalent. Es ist einerseits idyllisch, insofern als menschliche Wärme, Familienzusammenhalt, eine enge Beziehung zu Feld, Wald und Tieren vorherrschen. Man merkt die Zufriedenheit, wenn der junge Mann, der die beste Bildung seiner Familie und seiner Dorfes besitzt, mit den Familienmitgliedern am Küchenfeuer sitzt und eines jener trägen, mundfaulen Gespräche führt, die im dörflichen Zusammenhang so typisch sind. Andere – lebhaftere, thematisch bezogene – Gespräche und direktere Formen der Begegnung ist er aus Kathmandu gewohnt.

Anderseits klagt Madan, das soziale Klima im Dorf sei vergiftet, denn in der kleinen Gemeinschaft, in der jeder alles vom anderen weiß, regieren Neugier, üble Nachrede, Eifersucht sowie geistige und moralische Enge. Es fehlt die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu sammeln. Madan als typischer »Outsider-Insider« fühlt sich von diesem Milieu abgestoßen und meidet es, doch gleichzeitig wird er die tiefe ursprüngliche Verbindung mit den Menschen seiner Familie und seines Stammes nicht aufgeben. Aufgrund seiner Bildung wird ihm die Aufgabe zuteil, die Konflikte des Generationenwechsels in der Großfamilie entscheidend mitzutragen. Schon drängt ihn der etwa sechzigjährige Vater, er würde gern zu ihm nach Kathmandu ziehen, weil ihm die Feldarbeit zu anstrengend wird. Was wird dann aus Haus und Feld in Merangdi? Madan zeigte mir mehrere Häuser in seinem und in umliegenden Dörfern, die leerstehen und verfallen, weil die Besitzer in die Städte gezogen sind.

Undurchdringbar, beinahe fremd erscheinen mir die Menschen in den Bergen von Nepal. Sind es die Berge, die die Menschen so stark formen, dass sie schwer erlebbar sind? Die Berge, die sich ihnen so schwer aufs Gemüt legen, dass es ihnen Mühe macht, sich der Außenwelt mitzuteilen? Bei aller Freundlichkeit, die sie in ihren Gesichtern und Gesten tragen. Ist es ihr Clandenken, das den Menschen etwas Irrationales mitgibt, weil es sie gegen ihre höheren Einsichten handeln lässt?