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Über den Autor

Wilhelm Filchner

(1877-1957) schlug zunächst die Offizierslaufbahn ein. Mit 23 Jahren führte er auf eigene Faust und mit dürftigen finanziellen Mitteln versehen einen spektakulären Ritt über Das Dach der Welt durch. 1911-1912 leitete er während der heroischen Ära der Polarforschung die zweite deutsche Antarktisexpedition zum Weddell-Meer, bei der er das Filchner-Schelfeis entdeckte.

Über seine Expeditionen veröffentlichte er zahlreiche Bücher und Reiseberichte.

Dr. habil. Cornelia Liidecke

(geb. 1954) ist korrespondierendes Mitglied der Académie International d‘Historie des Sciences in Paris und leitet die Expertengruppe für Geschichte der Antarktisforschung des Scientific Committee on Antarctic Research. Als Privatdozentin der Universität Hamburg lehrt sie Geschichte der Geowissenschaften und hält zahlreiche Vorträge im In- und Ausland. Ihre Bücher beschäftigen sich hauptsächlich mit der Geschichte der Polarforschung.

Zum Buch

»Wer in Asien vorwärts kommen will, muss sich zu ganz anderer Denkungsart bequemen, als sie dem Europäer geläufig ist. In Asien heißt die Parole sonderbar genug: ›Schnell, aber langsam!‹ Das erste und wichtigste für mich war, mich innerlich darauf umzustellen.«Wilhelm Filchner

Auf seiner zweijährigen Reise durch Zentralasien 1926-1928 durchquert Filchner die Wüste Gobi und Tibet. Dabei legt er 6.000 km zurück und führt an 160 Stationen geophysikalische Messungen durch. Präzise beschreibt er seine Erfahrungen und Schwierigkeiten bei der Reise durch Sumpf, Steppe, Treibsand und über schnee-bedeckte Pässe im Hochgebirge. Beim Kontakt mit anderen Kulturen ist er immer auf eins bedacht: die Verständigung und Freundschaft unter den Völkern und Frieden in der Welt aufzubauen.

Der bayerische Offizier, Forschungsreisende und Reiseschriftsteller Wilhelm Filchner, wurde durch seine Antarktisexpedition von 1911-1912 bekannt, doch entwickelte er schon zuvor ein besonderes Interesse für die Gebiete Zentralasiens. So zieht es ihn 1926 nach seinem Ritt über den Pamir (1900) und der Reise durch China und Tibet (1903-1905) erneut in das Innere Asiens. Mit begrenzten finanziellen Mitteln – vonseiten der Regierung kam keine Unterstützung – erforscht Filchner das Gebiet um den Qinghai-See, führt unterwegs erdmagnetische Messungen durch und macht im tibetischen Kloster Kumbum zahlreiche Foto- und Filmaufnahmen. Zuhause hält man ihn bereits für tot – doch Filchner kehrt 1928 wohlbehalten von der Reise wieder zurück.

DIE 100 BEDEUTENDSTEN ENTDECKER

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Wilhelm Filchner

Wilhelm Filchner

Om mani
padme hum

Meine China- und
Tibetexpedition

1926–1928

Eingeleitet von Cornelia Lüdecke

Mit 103 Abbildungen und Skizzen
sowie einer Übersichtskarte

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nach der Ausgabe Leipzig, 1941, 20. Auflage
Lektorat: Dietmar Urmes, Bottrop
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
nach der Gestaltung von Nele Schütz Design, München
Bildnachweis: culture-images GmbH, Köln
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0396-0

www.marixverlag.de

INHALT

Einleitung von Cornelia Lüdecke

Vorwort zur 12. Auflage

»Om mani padme hum«

1.Von Moskau bis Chorgos

2.Nach Kuldscha

3.Zum Sairam-nor. Mein wissenschaftliches Programm

4.Tihwa (Urumtschi), der Hauptstadt Sinkiangs entgegen

5.Der Kampf um den Reisepass

6.Zwischen feindlichen Brüdern

7.Lussar. Tage der Krankheit und Not

8.Unprogrammgemäßer Abstecher nach Lantschou

9.Und dennoch ... westwärts. Marsch durch Kriegsgebiet

10.Tankar. Junri-gomba

11.Zum Kuku-nor. Bei den Dogpas

12.Von Pass zu Pass

13.Verlust der Karawane. Nach Dsundja

14.In und um Dsundja

15.Durch das Räubergebiet

16.Zum Dri-tschü

17.Tibetische Vorposten. Über den Dang-la

18.Das Verhör

19.Nach Nga-tschu-ka befohlen

20.Botschaft vom Dalai-Lama

21.Aufregende Verhandlungen

22.Nga-tschu-ka

23.Der Freiheit entgegen

24.Westmarsch. Im Schnee versunken

25.Harte Tage

26.Nach Tschang-ling-körr

27.Hinüber zum Selling-tso

28.Eine kritische Nacht. Schen-tsa-Dsong

29.Im Gebiet der großen Seen

30.Auf Sven Hedins Spuren

31.Auf neuen Wegen zum Teri-nam-tso

32.Nach Se-li-pu

33.Unter Räubern

34.Im Quellgebiet des Indus

35.In Eilmärschen nach Gartok

36.Bange Stunden. In Leh

37.Kaschmir. Srinagar. Am Ziel

38.Über den Himalaja heimwärts

Mein Dank

Literaturverzeichnis

Register

EINLEITUNG

Ende des 19. Jahrhunderts konnte sich noch niemand vorstellen, dass Wilhelm Filchner einmal als Forschungsreisender bekannt würde, dessen Routenaufnahmen und erdmagnetische Vermessung einen bedeutenden Beitrag für die Erschließung noch weitgehend unbekannter Regionen Innerasiens lieferten. Wilhelm, der am 13. September 1877 in München auf die Welt kam, verlor im Alter von vier Jahren seinen Vater Eduard Filchner, einen Mitgründer des Bayerischen Roten Kreuzes. Nachdem sich der Halbwaise in der Schule als ausgesprochener Lausbub erwies und nicht mehr zu bändigen war, wurde Onkel Tambosi aus Südtirol zum Vormund des nunmehr zehnjährigen Knaben bestellt. Der schickte ihn zunächst in ein Pensionat und anschließend in das Bayerische Kadettenkorps. Diese Institution war dem Realgymnasium gleichgestellt und zeichnete sich durch eine straffe Erziehung aus. In dieser Zeit kümmerten sich Thomas Knorr, ein anderer Onkel und Inhaber der Münchner Neuesten Nachrichten (seit 1945 Süddeutsche Zeitung), und dessen Freund und Mitinhaber Georg Hirth um den Jungen. Damals waren das Knorrsche und das Hirthsche Haus beliebte Treffpunkte des Münchner Künstlerlebens, sodass Filchner schon früh mit den renommiertesten Kunstmalern wie Lenbach und Stuck in engen persönlichen Kontakt kam. Obwohl er sich für die Malerei begeisterte und ihm ein unverkennbares Talent attestiert wurde, folgte Filchner dem Wunsch seines Vormunds und schloss als Fünfzehnjähriger mit seinen künstlerischen Ambitionen vollständig ab. Stattdessen konzentrierte er sich nunmehr ganz auf die Militärlaufbahn. Mit dem Reifezeugnis des Kadettenkorps trat er in die Kriegsschule ein, wurde dem 1. bayerischen Infanterieregiment »König« zugeteilt und sechs Monate später zum Degenfähnrich befördert.

Neben dem Militärdrill gab es in München auch angenehme Zeiten, insbesondere den Fasching in der sechswöchigen Fastenzeit zwischen Heilige Drei Könige und Aschermittwoch. Da ging man verkleidet auf äußerst vergnügliche Tanzveranstaltungen in Bierhallen, Hotels oder Kunstmuseen. Auf einem solchen Münchner Faschingsball lernte er die russische Pianistin Pia Müller kennen, die ihn einlud, sie daheim im Kirchspieldorf Poelwe bei Dorpat (heute: Tartu) in Estland für ein Studium der russischen Sprache zu besuchen. Daraufhin belegte er in der Kriegsschule prompt einen Grundkurs in Russisch. Tatsächlich bekam er dann einige Wochen Urlaub, um in der russischen Ostseeprovinz seine Sprachkenntnisse zu vertiefen. Die Gelegenheit nutzend dehnte er seine Reise über St. Petersburg, Moskau, Nishni-Nowgorod, Kasan und die Wolga abwärts bis nach Samara aus. In Sewastopol auf der Krim war seine Reisekasse soweit reduziert, dass er über Konstantinopel (heute: Istanbul), Sofia, Belgrad und Warschau nach Berlin zurückkehren musste, wo er schließlich völlig mittellos ankam. Das während der Reise erlebte »sorgenarme Landfahrerleben« gefiel Filchner so gut, dass er künftig immer ausgedehntere Reisen unternehmen würde. Die damit verbundene Geldknappheit sollte ihn meistens dabei begleiten.

Die Lektüre der damals aktuellen Schrift von Graf Yorck von Wartenburg über »Rußlands Vordringen in Asien« anlässlich der Besetzung des japanischen Port Arthur im Gelben Meer und der Einrichtung eines Marinestützpunktes im Nordwestpazifik fesselten sein Interesse, sodass er sich ebenfalls auf eigene Kosten nach Osten wenden wollte. Als ihm im Jahr 1900 ein neuer Urlaub auf drei Monate gewährt wurde, nahm er sich die Überquerung des Pamirs bis zur russisch-indischen Grenze zum Ziel.

Im Alter von 23 Jahren brach er mit dreihundert Mark und Empfehlungsbriefen des russischen Gesandten an den russischen Kriegsminister zum »Dach der Welt« nach Zentralasien auf, das Sven Hedin im Reisebericht über seine erste Expedition (1893–1897) so plastisch beschrieben hatte. 1899 war Hedin zu seiner zweiten Expedition nach Zentralasien aufgebrochen. Zunächst hatte Filchner als junger Abenteurer noch keine wissenschaftlichen Ambitionen, sondern nur die Bewältigung der vorgegebenen Strecke vor Augen. Trotz der Belastung durch die Höhenkrankheit bei der Überquerung von drei bis über 4000 m hohen Pässen kämpfte sich Filchner bis nach Pamirski-Post und dann weiter zum chinesischen Grenzposten Chadariasch durch. Dort traf Filchner zufällig auf die Expedition des britischen Archäologen Auriel Stein, der von Indien kommend auf dem Weg nach Kaschgar war. Durch ihn erfuhr Filchner vom sogenannten Boxeraufstand, der von der chinesischen Provinz Schantung ausging und in der Ermordung des Gesandten der deutschen Reichsregierung, Clemens von Ketteler, am 20. Juli in Peking gipfelte. Spontan entschloss sich Filchner, seine geplante Weiterreise nach Indien abzubrechen, um sich stattdessen als Soldat zum chinesischen Kriegsschauplatz zu begeben. In Kaschgar hoffte er, vom russischen Generalkonsul die benötigten Reisepapiere zu bekommen. Auf abenteuerlichem Weg langte er dort an, musste aber dann erfahren, dass er keinerlei Unterstützung für seine Weiterreise auf dem Landweg erhalten würde. Stattdessen wurde ihm geraten, sich nach Konstantinopel zu begeben, um von dort auf dem Seeweg zum Kriegsschauplatz zu gelangen. Nachdem ihn der dortige deutsche Gesandtschaftsarzt für tropendiensttauglich befunden hatte und er an Bord der »Maria Theresia« gegangen war, wurde er kurz nach dem Ablegen ohnmächtig. Der erste Arzt diagnostizierte Typhus, ein zweiter Malaria und Schwarzfieber, weshalb das Schiff in Quarantäne genommen wurde. Schließlich konnte Filchner über Venedig mit der Bahn nach München zurückkehren, wo er als körperlich völlig gebrochener Mensch ankam. Er brauchte sieben Monaten zur Erholung, und erst nach fünfzehn Monaten traten auch keine Schwächezustände mehr auf.

Kaum genesen bewarb sich Filchner zur Teilnahme an der ersten deutschen Südpolarexpedition (1901–1903), die unter der Leitung des Geographen Erich von Drygalski auf dem Schiff »Gauß« über die Inselgruppe der Kerguelen im Südindischen Ozean zum Südpolarkreis vordringen wollte. Sein Ritt über den Pamir bezeugte zwar, dass er zu sportlichen Höchstleistungen fähig war und sich durchbeißen konnte, seine bisherigen Erfahrungen qualifizierten ihn jedoch keineswegs zum Expeditionswissenschaftler, sodass Drygalski ihn zusammen mit vielen anderen Bewerbern ablehnte.

Filchner hatte die Zeit der Rekonvaleszenz indes genutzt, um die überstandenen Abenteuer in seinem Erstlingsreisewerk »Ritt über den Pamir« niederzuschreiben, das 1903 in Berlin herauskam. Sven Hedin, den Filchner im Hause des Geographen Ferdinand von Richthofen in Berlin anlässlich einer Abendeinladung seiner Studenten kennengelernt hatte, verfasste ein Vorwort. Hedin, der auf seiner ersten Expedition vom Pamir aus durch die Wüste Takla-makan nach Tibet gezogen war, hatte auf seiner zweiten Expedition nach Zentralasien (1899–1902) 2000 km auf dem Fluss Tarim bis zum See Lop-nor zurückgelegt. Den anschließenden Versuch, bis nach Lhasa vorzudringen, musste er jedoch aufgeben. Hedin wurde Filchners großes Vorbild, was seine künftigen Expeditionen, Reisebücher und Selbstdarstellung im Allgemeinen anging.

Nicht nur die übliche Leserschaft von Abenteuerromanen und Reiseberichten lobte Filchners Werk, sondern auch der Chef des Großen Generalstabs der Armee, Graf von Schlieffen, gratulierte ihm zu seinem »hochbedeutenden Buch«, das in militärischen Kreisen sehr beachtet wurde. Bei einer persönlichen Begegnung mit Graf von Schlieffen antwortete Filchner auf die Frage, welche Disziplin in der militärischen Laufbahn ihn am ehesten reizen würde: »Das Vermessungswesen und das Studium fremder Völker!« Der Soldatenberuf und die wissenschaftliche Spezialausbildung sah er als die sich glücklich ergänzende Grundlage an, »vermöge derer ein Forschungsreisender seine Aufgabe erfüllen kann.« (Filchner 1950a, S. 41). Auch Prinzregent Luitpold von Bayern fand Gefallen an Filchners Pamirbericht, sodass er ihn mehrfach zu verschiedenen Geselligkeiten wie auch Tafelrunden zu viert in das Nymphenburger Schloss in München einlud.

Um seinen künftigen Lebensplan ausführen zu können, erweiterte Filchner zunächst seine Ausbildung und hörte sowohl 1901 als auch 1903 als Hospitant an der Technischen Hochschule (heute: Technische Universität München) Vermessungskunde bei Prof. Max Schmidt und Geographie bei Prof. Sigmund Günther. 1902 heiratete Filchner die Münchner Apothekertochter Ilse Ostermaier. Dieser Ehe entstammte die Tochter Erika (später verheiratete Schneider).

Als ihm ein längerer Urlaub von achtzehn Monaten in Aussicht gestellt wurde, begann Filchner mit der Planung einer neuen und diesmal wissenschaftlich ausgerichteten Expedition, die in den Jahren 1903 bis 1905 nach China und Osttibet führen sollte. Er ging nach Berlin, wo ihm sowohl Prof. Richthofen als auch Prof. Gustav Hellmann vom Preußischen Meteorologischen Institut bei den systematischen Vorbereitungen halfen. Deren Empfehlungen ermöglichten es, dass er in der Kartographischen Anstalt von Moisel und Sprigade arbeiten konnte und von Prof. Oswald Venske am Erdmagnetischen Observatorium in der Durchführung von magnetischen Messungen geschult wurde. Außerdem führte ihn Ernst Kohlschütter vom Reichsmarineamt in die astronomische Ortsbestimmung ein.

Für die Expedition stellte sich Filchner drei Aufgaben: »Erstens: erdmagnetische Erforschung von Nordosttibet, zweitens: Auslotung des bislang nur in groben Umrissen bekannten Sees Koko-nor (Qinghai-See, eines der größten Salzseen der Erde), und drittens: Durchquerung eines Gebietes, das sich vom Oring-nor, eines der Zwillingsseen des Matschu (Oberlauf des Gelben Flusses), in Ostrichtung den Matschu abwärts bis zur chinesischen Grenzstadt Sung-p’an-t’ing erstreckt.« (Filchner 1950a, S. 48). Die Anreise bis hin zur Basisstation, unterteilte sich in vier Abschnitte:

1. Fahrt im Hausboot auf dem Han-Fluss,

2. Überschreiten des Ts’in-ling-Gebirges

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Filchners Reiseroute zu den Ngoloken durch Zentralasien (1903–1905), Quelle Filchner 1950a, S. 55 (vgl. Literaturangabe)

3. Wagenfahrt auf der großen Straße Si-an-fu – Lan-tschou-fu und

4. Marsch von Lan-tschou-fu nach Si-ning-fu.

Ursprünglich plante Filchner, die Expedition zusammen mit zwei befreundeten Offizierskameraden aus Berlin durchzuführen. Aber seine abenteuerlustige Frau wollte ihn nicht ohne sie ziehen lassen, sondern ihn selbstverständlich bis zur Basisstation an der tibetischen Grenze begleiten. Außerdem riet ihm Prof. Richthofen, die Expedition um seinen Schüler Albert Tafel, einen hervorragenden Geographen und Mediziner zu erweitern, der zusätzlich auch dem Schutze von Filchners Frau dienen könne. Fünf Expeditionsmitglieder würden jedoch die vorgesehene Minimalausstattung der Expedition erheblich erweitern, was die Kosten unnötig erhöhen und aus Filchners Sicht dem wissenschaftlichen Programm keineswegs nützen würde. So war er gezwungen, seinen Freunden schweren Herzens die Teilnahme aufzukündigen, obwohl sie ihn sehr gerne in das zum Teil noch völlig unbekannte Tibet begleitet hätten. Die Expedition wäre sicherlich anders verlaufen, hätte Filchner seine beiden Kameraden als ihm dienstlich untergeordnete Teilnehmer dabei gehabt anstelle des völlig unmilitärisch agierenden Tafel, der als Wissenschaftler Probleme lieber ausdiskutierte, anstatt Befehle ohne zu hinterfragen blind auszuführen. Wie der Geographiehistoriker Hanno Beck treffend bemerkte, waren beide »grundverschiedene Persönlichkeiten, die nicht zueinanderpassten, höchstens getrennt marschieren, aber kaum vereint schlagen könnten. Es wäre besser gewesen, sie wäre nicht gemeinsam gereist.« (Beck 1971, S. 38). Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem, das Filchner auch auf seiner nächsten Expedition begegnen sollte.

Richthofen, der zwischen 1868 und 1872 ganz auf sich gestellt in China sieben ausgedehnte Forschungsreisen durchgeführt hatte, erreichte mit seinem aus eigener Erfahrung sicherlich gutgemeinten Ratschlag allerdings das Gegenteil, denn Filchner (Sternzeichen Jungfrau) verkrachte sich mit dem um nur zwei Monate jüngeren Tafel (geb. 6. November 1877, Sternzeichen Skorpion) zutiefst. Ob Tafel während der Expedition mit Filchners Frau angebandelt hatte – Filchner spricht von einem Bruch des »gentlemen agreement« – sei dahingestellt. Jedenfalls war Filchner bis zu Tafels Tod im Jahr 1935 der Ansicht, dass dieser nie aufgehört habe, gegen ihn zu intrigieren und einen »Hetzfeldzug« zu führen. Aus Filchners kurz vor seinem Tod zusammengetragenen und von Kirschmer 1985 veröffentlichten »Feststellungen« geht hervor, dass das Verhältnis zwischen beiden Tibetforschern aus Todfeindschaft und Rachsucht bestand. Demnach hätte der von krankhaftem Ehrgeiz getriebene Tafel Filchners Fleiß und Ausdauer bei den täglichen Vermessungsarbeiten untergraben wollen und vieles getan, um die wissenschaftliche Ausbeute zu verringern. Dabei berichtete Filchner im Vorwort zu seinem Reisebericht »Rätsel des Matschu« (1907) noch recht positiv über seinen Begleiter, dessen Schneid und Tapferkeit er das Gelingen seines Unternehmens verdanke. Sie hatten in Tibet nicht nur Gefechte mit den räuberischen Ngoloken überstanden, sondern auch Schneefälle, schlechte Wege, schwierige Sumpfstrecken und Zeiten, die von Mutlosigkeit geprägt waren. Tafel erwies sich sogar als treibende Kraft und Seele der Unternehmung, wie es Filchner in seinem ursprünglichen Bericht auch nicht verleugnete. In der zweiten, gekürzten Buchfassung von 1925 (»Quer durch Ost-Tibet«) verschwieg er jedoch Tafels Anteil am Erfolg der Expedition völlig. In den dazwischenliegenden Jahren hatte sich die Feindschaft zwischen beiden Forschern extrem verschärft. Ähnliches kann man auch in seinem Buch »Tschung-Kue (1925) feststellen, in dem Filchner den ersten Teil der Expedition von Shanghai quer durch China zur nordwestlichen Grenzstadt Si-ning-fu beschrieb, wo er die Operationsbasis für die Expedition nach Osttibet einrichten wollte. Unter Mithilfe des noch zu Beginn seiner Karriere stehenden Schriftstellers Paul Gerhard Zeidler publizierte er in diesem Buch neben seinem Reisebericht zusätzlich noch einen auf persönlichen Erlebnissen und gedruckten Quellen basierten Einblick in das alte China, das aus damaliger Sicht kurz vor dem Zusammenbruch stand. Hier widmete Filchner mehrere Kapitel der Grenzstadt Si-ning-fu und der weiblichen Stellung im chinesischen Familienleben in Bezug auf Erziehung, Vermählung, Scheidung und Freitod. Allerdings veränderte er auch hier den Reisebericht dahingehend, dass er seine vom ihm kurz nach der Expedition geschiedene Frau nur sehr nebulös als »eine mir sehr nahestehende Dame« als Begleitung erwähnte, während er nicht umhin kam, Tafel zumindest an einigen Stellen namentlich aufzuführen.

Von den persönlichen Querelen einmal abgesehen, durchquerte Filchners Expedition erfolgreich das größte damals noch unbekannte Gebiet Zentralasiens. Mit großer Ausdauer und Beharrlichkeit führte er unterwegs umfangreiche Messungen der magnetischen Deklination, Inklination und Horizontalintensität durch, die selbst durch extreme Witterungsbedingungen nicht unterbrochen wurden. Manchmal zogen sich die Beobachtungen an einer magnetischen Station bis zu zwölf Stunden hin. Dazu kam noch die astronomische Ortsbestimmung mit Hilfe von Stern- und Sonnenhöhenbeobachtungen oder der Messung von Monddistanzen, die fünf bis sieben Stunden in Anspruch nahmen, sowie die Feststellung der Ortshöhe mit dem Siedethermometer und weitere meteorologische Messungen. Daneben wurden auch botanische und zoologische Sammlungen angelegt. Zu den herausragendsten Ergebnissen gehörte die erstmalige Kartenaufnahme des Han-Flusses von einem fahrenden Hausboot aus.

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Han-Kiang, in der Stromschnelle nördlich Tsou-ma-t’an (1905), Quelle: Filchner 1925, Tsung-Kue, Bild 7

So konnte die Strecke zwischen Scharakuto und Sung-p’an-t’ing lückenlos aufgenommen werden. Nach allen überstandenen Abenteuern brachte Filchner reichhaltige Messdaten, Sammlungen und tibetische Ethnographica mit nach Deutschland, wo er in Berlin seine Routenaufnahmen der Kartographischen Anstalt von Moisel und Sprigade und die magnetischen und meteorologischen Daten Prof. Georg von Elsner vom Meteorologischen Institut zur Auswertung übergab.

Zentralasien und Tibet blieben weiterhin im Fokus der Forschung. Kaum nach Berlin zurückgekehrt brach Tafel noch Ende 1905 auf eigene Kosten und nur in Begleitung von Einheimischen zu einer dreijährigen Expedition in das chinesisch-tibetische Grenzgebiet auf, die an Filchners Route anschloss. Dabei besuchte er während der Butterfestwoche das nahe Si-ning-fu gelegene Kloster Kumbum, über dessen Geschichte Filchner 1906 den ersten Band seiner wissenschaftlichen Ergebnisse veröffentlicht hatte.

Neben Tafel zog auch Sven Hedin 1905 erneut nach Tibet, durchquerte die Wüste Kewir und überschritt bis 1909 den Transhimalaja zur Erforschung des Quellgebiets von Brahmaputra und Indus acht Mal. August Hermann Francke, ein Herrnhuter Missionar und Tibetologe, der zwischen 1896 bis 1910 Missionsstationen in Leh, Khalatse und Kyelang unterhielt, erforschte 1909 auf einer 2000 km langen Reise noch völlig unbekannte Regionen im westlichen Himalaja und setzte 1910 seine Forschungen weiter fort.

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Der diplomatische Vertreter des Klosters Kumbum (1905), Quelle: Filchner 1927, S. 128 rechts

Filchner hingegen pausierte nun mit seinen Reisen. Auf Anregung von Richthofen wurde er vom Truppendienst befreit und bis 1909 für drei Jahre der Trigonometrischen Abteilung der Preußischen Landesaufnahme nach Berlin abkommandiert, damit er an der Auswertung seiner Messungen und Beobachtungen von Land und Leuten mitarbeiten konnte. Neben seinem Reisebericht veröffentlichte Filchner bis 1913 die wissenschaftlichen Ergebnisse in zehn Bänden und fünf Kartenwerken. An seine Zeit in der Trigonometrischen Abteilung schloss Filchner dann eine einjährige Ausbildung als Trigonometer und Topograph im Preußischen Generalstab an.

Statt für die Fortsetzung seiner erdmagnetischen Landesaufnahme wieder nach Zentralasien zu reisen, wechselte Filchner jetzt sein Arbeitsgebiet völlig – vielleicht um einer möglichen Kollision mit Tafel aus dem Weg zu gehen. Das nächstes Ziel sollte die Südpolarregion sein, wohin der Brite Robert Falcon Scott 1910 bekanntermaßen für einen zweiten Vorstoß zum Südpol aufbrechen würde. Damals war noch völlig unklar, ob die Antarktis ein von Gebirgen durchzogener Kontinent war oder ein mit Eis gefüllter Meeresarm, der vom Weddellmeer zum Rossmeer reichte und den Kontinent in einen kleineren Westteil und einen größeren Ostteil trennte. Daraus ergaben sich Filchners Hauptaufgaben, die sich aus ozeanographischen Messungen im Südatlantik während der Anreise, meteorologischen und magnetischen Messungen während der Überwinterung in der Antarktis und geologischen Untersuchungen auf Schlittenreisen zusammensetzten. Um die Finanzierung der Expedition zu sichern, wurde der Verein Deutsche Antarktische Expedition gegründet, der das Expeditionsschiff »Deutschland« kaufte und Filchner als Expeditionsleiter anstellte. Diese Konstellation war sehr ungewöhnlich und auf einem Expeditionsschiff wenig Erfolg versprechend. Außerdem folgte Filchner Drygalskis Rat, Richard Vahsel, den erfahrenen 2. Offizier seiner Südpolarexpedition als Kapitän zu nehmen.

Eine im Sommer 1910 durchgeführte Vorexpedition nach Spitzbergen diente Filchner und seinen fünf Kameraden dazu, während der Überquerung und Kartierung der Hauptinsel von der Advent-Bay bis zur Wiche-Bay die Ausrüstung zu testen und Erfahrungen im polaren Gelände zu sammeln. Nachdem sie aus Platzgründen an Bord des Schiffes, das sie von Tromsø nach Spitzbergen brachte, ihre Ponys nicht mitnehmen konnten, mussten sie sich selber vor ihre schweren Schlitten spannen. Sie plagten sich sehr, als es über das steile und von Spalten überzogene Gletschergebiet ging, denn ihre Ausrüstung war nicht auf Gewichtsersparnis ausgelegt. Dennoch konnten sie unterwegs wie vorgesehen eine Routenaufnahme der noch nicht kartierten Region durchführen und deutsche Namen auf ihrer Karte verewigen.

Schließlich verließ die zweite deutsche Antarktisexpedition auf der »Deutschland« unter großer Anteilnahme der Bevölkerung am 6. Mai 1911 den Kaiserhafen von Bremerhaven. Auf der Reise nach Süden traten schon die ersten Probleme zwischen den Expeditionsteilnehmern auf, sodass einige von ihnen in Buenos Aires das Schiff verlassen mussten. Erst hier kam Filchner selbst an Bord, was sich als sehr ungünstig erweisen sollte. Am 21. Oktober erreichte die Expedition die Walfangstation Grytviken auf Südgeorgien, wo sich Filchner mit dem norwegischen Stationsleiter Carl Anton Larsen anfreundete. Während ihres Aufenthalts führte die Expedition an der ehemaligen deutschen Station des ersten Internationalen Polarjahres (1882-1883) in der Royal Bay magnetische Vergleichsmessungen durch. Außerdem wurden dort mehrere Wochen lang meteorologische Daten aufgezeichnet. Am 11. Dezember brach die Expedition schließlich in Richtung Weddellmeer auf, wo sie am 30. Januar 1912 bei 78° S auf eine etwa 30 m hohe Eisbarriere stieß und das Prinzregent Luitpold-Land entdeckte. Zur selben Zeit hatte Scotts norwegischer Konkurrent Roald Amundsen bereits den Südpol als Erster erreicht. Auch die Expedition des Japaners Nobu Shirase hatte dieses Ziel, gelangte jedoch mangels Erfahrung und geeigneter Ausrüstung auf dem Ross-Schelfeis nur bis 80° 5' S und erforschte die Alexandra Mountains in König-Edward-VII-Land westlich von Amundsens Winterlager. Amundsen kehrte als Sieger heim, während Scott und seine vier Kameraden auf dem Rückweg kurz vor dem letzten rettenden Depot entkräftet starben.

Filchners Expedition war keine triumphale Heimkehr nach seiner Expedition vergönnt. Unglücklicherweise verhinderte eine Springflut die Fertigstellung seiner Überwinterungsstation auf dem sogenannten Stationseisberg in der Vahsel-Bucht. Kurz darauf beobachtete Filchner den Abbruch einer gigantischen Eisscholle, deren Zerbrechen und Abdriften er akribisch in mehreren Skizzen festhielt. Aufgrund seiner topografischen Ausbildung war er der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, denn seine Kartierung war einzigartig. Erst durch die Einführung von Satelliten konnten weitere Abbrüche von gigantischen Eisschollen beobachtet werden. Anstelle der Scholle entstand 1912 eine Bucht, die Filchner nach seinem Gönner Herzog Ernst-Bucht nannte. Da nun keine Station mehr eingerichtet werden konnte, wollte Filchner nach Südgeorgien zurückkehren. Allerdings wurde die »Deutschland« schon bald von einer sich rasch bildenden Eisdecke festgesetzt. Am 15. März 1912 begann eine rund neunmonatige Drift durch das Weddellmeer, die durch den sogenannten Weddell-Wirbel hervorgerufen wurde, dem 1915 Shackletons »Endurance« zum Opfer fallen sollte. Während der Drift richteten die Wissenschaftler für das Messprogramm während der Überwinterung auf der Eisscholle neben der »Deutschland« meteorologische und magnetische Stationen ein.

Außerdem wurden durch ein Loch im Eis Meerestiefen gelotet und ozeanographische Messungen durchgeführt. Am 8. August 1912 starb überraschend Kapitän Vahsel, wobei die Todesursache Syphilis allerdings geheim gehalten wurde. Nun rückte der 1. Offizier Wilhelm Lorenzen zum Kapitän auf, mit dem Filchner gar nicht zurechtkam. Dadurch nahmen die Spannungen an Bord erheblich zu. Dann ereignete sich auf dem Eis in der Nähe des Schiffes eine merkwürdige Schießerei, bei der eine Kugel fast das österreichische Expeditionsmitglied Felix König getroffen hätte.

Schließlich löste sich am 26. November die »Deutschland« aus der Eisumklammerung, und Filchner ließ Südgeorgien ansteuern, wo sie am 19. Dezember vor Anker gingen. Hier eskalierten die bereits schon länger bestehenden Feindseligkeiten gegen Filchner und seinen wenigen Getreuen in einer Meuterei. Durch die umgehende offizielle Beendigung der Expedition in Grytviken konnte erreicht werden, dass über diesen Vorfall nichts an die Öffentlichkeit ging. Eine weitere Folge war, dass die wissenschaftlichen Ergebnisse nicht gemeinsam herausgegeben wurden, sondern in verschiedenen Fachzeitschriften erschienen. Filchner selbst veröffentlichte nur sein Reisewerk »Zum sechsten Erdteil«. Die Expedition konnte zeigen, dass zwischen der West- und Ostantarktis kein Meeresarm existierte und dass das Weddellmeer von einer Eisbarriere, dem später nach ihrem Entdecker benannten Filchner Schelfeis, begrenzt wurde. Der Meteorologe Erich Barkow hatte Pionierarbeit geleistet und während der Drift im Eis mit seinen aerologischen Aufstiegen bis in 2500 m Höhe die meteorologischen Bedingungen in höheren Luftschichten über dem Weddellmeer kontinuierlich untersucht. Auch diese Messungen sind einzigartig, denn sie wurden nie mehr über einen so langen Zeitraum wiederholt. Wilhelm Brenneckes ozeanographische Untersuchungen entdeckten im Südatlantik eine vierfache Strömungsschichtung, die am Äquator von einer Oberflächenströmung nach Süden ausgehend mit zunehmender Tiefe jeweils abwechselnd warmes Wasser nach Süden und kaltes Wasser von der Antarktis nach Norden transportiert.

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Ballonaufstieg am 30. März 1912 während der Drift der »Deutschland« im Weddellmeer, Quelle: Filchner 1922, S. 303

Durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs scheiterte Filchners geplante Teilnahme an einer Arktisexpedition unter Amundsens Leitung. Filchner hatte bereits den Expeditionsvertrag unterschrieben und auf dem Flugplatz Johannistal bei Berlin einen Pilotenschein gemacht. Daneben erhielt er bei der Firma Pathé Frères und der Ufa eine Ausbildung zum Kameramann. Diese Ausbildung sollte sich für seine künftige Unternehmung als sehr nützlich erweisen. Ob die geplante gemeinsame Expedition glücklich verlaufen wäre, ist fraglich, denn wie es sich herausstellte, duldete Amundsen auf seinen mehrjährigen Expeditionen keine zweite Führungsfigur neben sich.

Während des Kriegs wurde Filchner erst bei Verdun und später mit besonderem Auftrag in Norwegen und Holland eingesetzt. Nach Kriegende gab er die bayerische Staatsbürgerschaft auf, übersiedelte ganz nach Berlin und wurde preußischer Staatsangehöriger. Nun widmete er sich meist unter Mitarbeit erfahrener Autoren recht erfolgreich der Schriftstellerei. Daneben setzte er seine Ausbildung in erdmagnetischen Vermessungen fort. Die guten Verkaufszahlen seiner Bücher aus den Jahren 1924 und 1925 erbrachten genügend Einnahmen, sodass er konkrete Pläne für eine neue Expedition nach Tibet machen konnte, bei der die erdmagnetische Vermessung Zentralasiens im Vordergrund stand. Zunächst aber ging er auf Vortragsreise nach Leningrad (heute: St. Petersburg), Moskau, durch das Baltikum, Finnland und Schweden. Bevor er jedoch erneut in die Ferne aufbrach, bereitete er noch den politischen Roman »Wetterleuchten im Osten. Erlebnisse eines diplomatischen Geheimagenten« vor, der erst 1927 unter Mithilfe des Schriftstellers Willy Rath erschien. Auch hier verwendete Filchner wieder Erlebnisse aus seiner ersten Tibetexpedition.

Schon Ende 1925 hatte sich Filchner ohne Begleitung über Moskau zu seinem Ausgangspunkt nach Taschkent begeben, wo seine Arbeiten beginnen sollten. Diesmal wollte er sich nur auf seine eigenen Spezialgebiete erdmagnetische Landesaufnahme und Routenkartographie beschränken. Sein Ziel war, ein riesiges erdmagnetisch noch völlig unbearbeitetes Gebiet Zentralasiens zu erschließen. Dafür wollte er alle 20 bis 50 km astronomisch-erdmagnetische Messungen durchführen, um in einer rund 6500 km langen Schleife über Kudscha – Lantschou das europäisch-westasiatische Messnetz mit dem chinesischen und anschließend über Koko-nor – Nga-tschu-ka – Leh mit dem indischen Messnetz in Kaschmir zu verbinden. Dazu kam selbstverständlich wieder die Kartierung seiner Reiseroute sowie die Höhenbestimmung markanter Punkte und seiner Lagerplätze.

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Filchners Reiserouten zwischen Taschkent und Leh (1926–1928) sowie Lan-Tschou und Leh (1934–1938), Quelle: Filchner 1950a, S. 181

Gleich zu Beginn wurde er jedoch in Urumqi sechs Wochen lang wegen angeblicher Spionage für die Sowjetunion festgehalten. Einen weiteren längeren Zwangsaufenthalt hatte Filchner in Lussar, wo er den Winter 1926/27 unter ärmlichsten Bedingungen hungernd, frierend und von schweren Gallenkoliken geplagt ohne finanzielle Hilfe der deutschen Botschaft in Peking verbringen musste. Dennoch konnte er sich aufraffen, um das nahe gelegene Kloster Kumbum zu besuchen. In diesem weltabgeschiedenen und streng abgeschlossenen heiligen Ort lebten damals rund 7000 Mönche, die im Dezember zusammenkamen, um die Butterfestwoche zu feiern. Dort bekam Filchner die seltene Gelegenheit, die rituellen Tänze der Mönche zu filmen. Daraus entstand 1956 der 2500 m lange Kinofilm »Mönche, Tänzer und Soldaten«, für den Filchner während seiner Expedition mit der Handkurbel insgesamt rund 17 000 m Film gedreht hatte. Die einzigartige Aufnahme der »Teufelstänze« lässt heutzutage ideelles lamaistisches Kulturgut aus längst vergangenen Zeiten wieder auferstehen.

Mit französischer und britischer Hilfe konnte Filchner schließlich durch das Gebiet des Koko-nor weiterreisen und seine erdmagnetischen Landesaufnahme fortsetzen. Die Messungen im Winter 1927/28 waren bei –40 °C noch beschwerlicher als je zuvor, denn das Schmieröl des Theodoliten fror ein und musste erst von der Sonnenwärme wieder aufgetaut werden, bevor Filchner mit den Untersuchungen beginnen konnte. Zudem hatte er sich eiternde Frostbeulen und starke Ischiasschmerzen zugezogen. Obwohl die Reise nicht nur abenteuerlich, sondern auch äußerst anstrengend und teilweise sehr entbehrungsreich verlief, konnte er insgesamt 160 Beobachtungsstationen anlegen und durch ergänzende Stationen in den Städten Sining-fu und Lussar die Lücke zu den Messungen der amerikanischen Carnegie Institution und zu seinen früheren Untersuchungen schließen.

Filchners Enttäuschung war groß, als er – daheim bereits tot geglaubt – am 24. Juni 1928 zukehrte. Trotz der überstandenen Strapazen und der erfolgreichen Tilgung des bis dahin bestehenden weißen Fleckens im zentralasiatischen Erdmagnetfeld durch die Verbindung dreier unabhängige Messnetze miteinander, wurde er in Berlin nicht mit großem Pomp empfangen. Die zeitgleiche Ankunft des afghanischen Königs hatte ihm buchstäblich die Schau gestohlen.

Nachdem er sich wieder in Berlin eingerichtet hatte, überließ er auch diesmal die Auswertung der Messdaten den Fachleuten. Er selbst begann mit der Abfassung seines Reiseberichts »Om mani padme hum« (deutsch: »O Kleinod im Lotus«), der mit Hilfe der bewährten Unterstützung durch die Schriftsteller Rath und Zeidler 1929 erschienen und sich schnell zu einem Bestseller entwickelte. Bis 1943 kamen 23 Auflagen heraus, und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zwischen 1950 und 1956 in gekürzter Form erneut fünf Mal aufgelegt. Filchners wichtigstes Werk sollte jedoch die Monographie »Kumbum Dschamba Ling, das Kloster der Hunderttausend Bilder Maitreyas« werden, in dem er aufgrund seiner Erlebnisse und Beobachtungen im Winter 1926/27 anhand von 208 Fotos und 412 Skizzen Leben und Lehre des Lamaismus ausführlich beschrieb. Der Fachmann für Lamaismus Wilhelm Alexander Unkrig hatte dafür über 1700 ausführliche Anmerkungen beigesteuert, sodass eine einzigartige Religionsbeschreibung Tibets entstand, die noch heute von Interesse ist.

Filchners dritte Tibetexpedition (1934–1938) wurde diesmal staatlicherseits unterstützt. Ziel war, die Fortsetzung der bisherigen Messungen zwischen Huang-ho und Indus, um die Bestimmung des Erdmagnetfeldes entlang der großen Schleife während der vorhergehenden Expedition durch weitere Stationen entlang einer die Schleife teilenden Route zwischen Lantschou – Tsaidam – Tschertschen – Chotan – Leh zu vervollständigen. Damit hätte er das innerasiatische Erdmagnetfeld flächenmäßig erfasst und in Chotan an die Messungen der russischen Tibetexpedition unter Mikhail Pevtsov in den Jahren 1889-1890 angeschlossen.

Gleich zu Beginn der Reise wurde Filchner wegen seiner Verdienste bei der Erschließung großer Gebiete im Nordwesten Chinas in die Academia Sinica (Chinesische Akademie der Wissenschaften) aufgenommen. Während dieser Expedition besuchte er das Kloster Kumbum ein weiteres Mal. Er stellte fest, dass die Anzahl der Mönche in der Zwischenzeit rapide abgenommen hatte und auf die Hälfte gesunken war. Wieder gab es einen längeren unfreiwilligen Aufenthalt, als Filchner in Chotan Ende Dezember 1936 für sieben Monate festgesetzt wurde, da er keinen gültigen Pass für die Weiterreise nach Leh vorweisen konnte. Schließlich gab es auch für dieses Problem eine Lösung, sodass er 1937 nach Abschluss einer Messkette von 3500 km an seinem Geburtstag sein Ziel in Kaschmir erreichte.

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Kamelkarawane auf dem Marsch ins Tschungghu-Tal (1937), Quelle: Filchner 1938, S. 64 rechts

Filchners Rückkehr aus Tibet im Januar 1938 gestaltete sich diesmal zu einem Triumphzug, denn schon im Oktober 1937 wurde er auf dem Weg nach Srinagar von der Nachricht überrascht, dass ihm zusammen mit dem Chirurgen Ferdinand Sauerbruch der Deutsche Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft verliehen worden sei. Reichskanzler Adolf Hitler hatte diesen Preis eigens in diesem Jahr gestiftet, weil er die künftige Annahme des Nobelpreises verboten hatte. Mit dieser Ehrung wurde Filchner auch die Hälfte des Preisgeldes von 100 000 Mark zugesprochen, mit dem er umgehend an die Planung der nächsten Expedition ging. Zudem wurde er im selben Jahr in die renommierte Deutsche Akademie der Naturforscher (Leopoldina, seit 2008: Nationale Akademie der Wissenschaften) in Halle aufgenommen. Aber bevor er an die Vorbereitungen für seine nächste Expedition ging, veröffentlichte er noch seinen Reisebericht unter dem Titel »Bismillah!« (deutsch: »In Allahs Namen!«), bei dem ihn der Schriftsteller Dr. Erhard Rühle unterstützte.

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Schwieriger Übergang über den Bain-ghol. Die Kamele mussten mit Seilen ans Ufer gezogen werden (1937), Quelle: Filchner 1938, S. 104 rechts

Die Zeiten hatten sich inzwischen sehr geändert. Filchner, der die politischen und sozialistischen Entwicklungen in Dritten Reich persönlich nicht miterlebt hatte, ließ sich wegen der nun endlich erfahrenen großen Wertschätzung seiner Arbeit leichtfertig einvernehmen, obwohl er gemeinhin als antinazistisch bezeichnet wurde. Im Vergleich mit der »Deutschen Tibet-Expedition Ernst Schäfer«, die der Zoologe und SS-Sturmbandführer Ernst Schäfer 1938–1939 leitete, gehörte Filchners nächste Expedition schon einer längst vergangenen Zeit an. Schäfer war eines der führenden Mitglieder der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe, der in den bis dahin noch weitgehend unerforschten Osten Tibets auf die Suche nach einer arischen Urreligion und dem Ursprung der arischen Rasse ging.

Filchner hingegen wollte 1939 seine 1904 begonnenen erdmagnetischen Untersuchungen in Nepal abschließen, wo er das Angebot der dortigen Maharadschas angenommen hatte, die erste systematische Bodenvermessung des kleinen Königreichs am Fuße des Himalajas zu leiten. Aber anstatt seine geplanten Messungen fortsetzen zu können, wurde von ihm erwartet, Gold- und Erdölvorkommen zu finden. Zuvor schon an Malaria erkrankt musste Filchner schließlich 1940 wegen einer akuten Nierenerkrankung zur Operation in das britische Indien abreisen. Inzwischen hatte das Deutsche Reich einen Krieg mit Polen begonnen, das mit Großbritannien verbündet war. Obwohl Filchner die Ausreise nach Deutschland noch möglich war, blieb er lieber in Indien und begab sich in die britische Internierung, wohl auch deshalb, weil seine verheiratete Tochter Erika in einem benachbarten Camp ebenfalls interniert war. Bald schon durften sie in dem Camp von Satara zusammenziehen. Als das Camp 1946 aufgelöst wurde und seine Tochter nach Deutschland zurückkehrte, blieb Filchner auf eigenen Wunsch hin in Poona, wo er 1949 das Manuskript seiner Autobiographie beendete. Erst 1951 kehrte er aus gesundheitlichen Gründen nach Europa zurück, wo er sich mithilfe seiner Freunde in Zürich ansiedelte und dort bis zu seinem Tod am 7. Mai 1957 zurückgezogen lebte. Im selben Jahr erschien noch das Gemeinschaftswerk »Route-Mapping and Position Locating in Unexplored Regions«, das er 1906 aufgrund seiner Erfahrungen in Zentralasien begonnen hatte.

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Vermessungsskizze der 3000 Jahre alten Besiedlung in der Dulan-Ebene (1937), Quelle: Filchner 1938, S. 103

In ihrer Fernsehdokumentation »Leidenschaft Tibet. Auf den Spuren des Forschers Wilhelm Filchners« aus dem Jahr 2002 beschreibt Jutta Neupert, wie das Kloster Kumbum nach seiner Schließung während der Kulturrevolution der Volksrepublik China verfiel und 90% der Gebäude zerstört wurden. Jahrzehnte später durfte sich dort wieder eine kleine Mönchsgemeinschaft ansiedeln, die im Jahr 2002 auf rund 450 Mitglieder angewachsen war. Als Neupert zu Beginn der Dreharbeiten in Kumbum den Mönchen eine Kopie von Filchners Dokumentation schenkte, kehrte ein historisch äußerst wertvolles Kulturgut wieder an seinen Ausgangspunkt zurück, das eine historische Lücke schloss, die einst durch die Kulturrevolution geschlagen worden war. Heute gehört das Kloster zu den herausragenden Kulturdenkmälern, die mit staatlichen Geldern aufwendig restauriert sind, um als neuer Tourismusmagnet möglichst viele zahlende Gäste anzulocken. Allerdings wurden Gebäude umgebaut und Straßen verbreitert, sodass der Charme des historischen Klosterensembles längst nicht mehr existiert. In diesem Zusammenhang haben Filchners Filmaufnahmen einen besonderen dokumentarischen Wert.

Für seine Verdienste in Tibet wurde Filchner 1911 die Ehrendoktorwürde der Königsberger Universität verliehen und 1937 der Titel Dr.-Ing. h. c. der Technischen Hochschule München. In der Antarktis tragen neben dem schon erwähnten Filchner Schelfeis das Filchner Kap nahe dem von Drygalski entdeckten Kaiser-Wilhelm-II-Land, die Filchner Berge in Neuschwabenland (Dronning Maud Land) und die Filchner Felsen östlich von Südgeorgien seinen Namen. Im Kurpark Bad Homburg erinnert ein Denkmal und in Gera die Wilhelm-Filchner-Straße an den Forschungsreisenden. Zum hundertjährigen Jubiläum seiner Antarktisexpedition entstand ein Open-Air-Theaterstück, das die Spannungen zwischen den Expeditionsmitgliedern analysierte und am 14. Juni 2012 an der Columbuskaje in Bremerhaven uraufgeführt wurde.

Filchners Nachlass befindet sich in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, wo seine Tagebücher, umfassende Korrespondenzen, Fotos, Filme, Bücher und Erinnerungsstücke aus seinen Expeditionen sowie auch Neuperts Fernsehdokumentation aufbewahrt werden. Die wissenschaftlichen Aufzeichnungen sind in Potsdam deponiert.

Cornelia Lüdecke

VORWORT ZUR 12. AUFLAGE

Möge diese meine Expedition nach Zentralasien den Beweis verstärken, dass im deutschen Volk trotz Unglück und Not noch der alte Idealismus lebt und der Glaube an die eigene Kraft.

Zu den erfreulichsten Erfahrungen auf meiner Forschungsfahrt gehört es, dass mir von den Angehörigen der verschiedensten Nationen allenthalben hilfreiche Hand geboten wurde, sodass sich die Überzeugung in mir festigte, dass auch heute noch Achtung und Liebe für Wissenschaft und tätiges Forscherstreben lebendig geblieben sind. Und das beweist wiederum, dass bei gemeinsamer Verfolgung ideeller Ziele trennende Gegensätze am besten überbrückt werden.

Berlin, im Herbst 1931

Wilhelm Filchner

»OM MANI PADME HUM«

»Om mani padme hum«, diese sechs Silben, die ich diesem Buch zum Namen gab, bedeuten eine Bannformel, eine der kürzesten wohl und sicher die meistgesprochene, -geschriebene und -vervielfältigte auf dieser Erde. Mit Inbrunst und erstaunlich seltsamen Mitteln wird die unablässige Wiederholung dieser einen Formel in dem fernen Hochgebirgsland Tibet betrieben.

»Om mani padme hum« heißt zu Deutsch: »O Kleinod im Lotos!« Dieser Ausspruch ist das tägliche, stündliche, immerwährende Gebet eines Volkes und zugleich eines Glaubens. Der deutsche Tibetforscher Professor A. H. Francke hat den ursprünglichen Sinn dieses Gebetes ermittelt. Für die Bekenner des Lamaismus, nämlich die Tibeter und Mongolen, kommt nur die einheimische Erklärung der heiligen sechs Silben infrage, die jeder Silbe eine besondere magische Kraft beilegt. Die Treffsicherheit dieser Silben wird mit folgenden Worten gepriesen:

»Der (Welt-) Berg Ssumeru ließe sich wohl noch in der Waagschale abwägen.« –

»Das große Weltmeer ließe sich wohl tropfenweise erschöpfen.« –

»Die finsteren unermesslichen Wälder und Gebüsche des Schneereiches (Tibet, d. Verf.), in Asche verwandelt, ließen sich wohl stäubchenweise zählen.« –

»Eine Einfassung von hundert Meilen im Umfang, mit den feinsten Samenkörnern gefüllt, von denen täglich nur eines herausgenommen würde, könnte am Ende wohl leer werden.« –

»Ein zwölf Monate lang anhaltender, Tag und Nacht sich unaufhörlich ergießender Regen könnte wohl tropfenweise gezählt werden.« –

»Die Tugenden aber, die ein einmaliges Aussprechen der sechs Silben bewirkt, sind unberechenbar.«

1.

VON MOSKAU BIS CHORGOS

Eine höchst unerwartete Wirkung hatte meine Unternehmung, noch ehe sie wirklich begonnen. In Moskau hielt man mich für einen Sowjetkommissar! Diese Ehre verdankte ich meiner Reisetracht, die ich auf früheren Expeditionen erprobt hatte und im moskowitischen Winter auch bewährt fand: dunkelbrauner Lederanzug, Gamaschen, Pelzmütze. Nichts lag mir, weiß Gott, ferner, als den russischen Machthabern ins Handwerk zu pfuschen. Aber überall – nicht nur auf den Straßen, auch in den amtlichen Departements – wurde ich wieder und wieder als Kommissar der Sowjets angesprochen.

Manche wollten es mir gar nicht glauben, dass ich Deutscher sei; sie schienen diese meine Versicherung eher für irgendeine List zu halten und lächelten vielsagend. Ich sähe gar zu waschecht aus »wie ein Volkskommissar von 1917«.

Im Übrigen hat man mich in Moskau, sobald meine Person und meine Ziele bekannt wurden, viel zu häufig – entschieden über meinen Bedarf hinaus – photographiert, namentlich für Arbeiterzeitungen; auch an Interviewern fehlte es nicht.

Schließlich hatte ich nicht übel Lust, mich selbst einmal zu fragen, wer und was ich eigentlich sei? Wie ich hierher in diese russische Welt kam? Und was ich denn noch weiter, viel weiter draußen im Herzen Asiens suchte?

Meine wissenschaftlichen Aufgaben standen mir freilich klar genug vor Augen. Und im Besonderen lockte und lockt mich zeitlebens die Sphinx, als die das innere Asien noch immer anzusehen ist, trotz allem, was von Forschern verschiedenster Nationalität bereits zur Ergründung dieser Länderstrecken und ihres bunten Völkergemischs geleistet worden ist.

In unseren Tagen kommt wohl für jeden reiferen Deutschen, der aufs Ganze blickt, noch etwas anderes hinzu: der Wunsch, seinem schwer heimgesuchten Land zu nützen, soweit ein Einzelner es irgend vermag. Ein Gedanke, der in dem deutschen Forschungsreisenden den Drang nach Wirken in der Ferne – und hoffentlich auch ein wenig in die Ferne – jedenfalls höchst lebendig erhalten muss.