Cover

Susanne Fülscher

Wer küsst hier wen?

Edel Elements

Über das Buch:

Ebbi und Helen sind beste Freundinnen, da ist es klar, dass sie gemeinsam in eine WG nach Berlin ziehen und das hippe Großstadtleben genießen. Doch schon nach dem ersten Drink im Café kitchen hat Ebbi anderes im Kopf, denn da lernt sie den charmanten Kellner Antonio kennen … wahnsinnig gut aussehend und mit espressobraunen Augen. Sie muss den süßen Typ irgendwie erobern! Doch was Ebbi nicht ahnt: Während sie von romantischen Dates träumt, hat Antonio schon längst Helens Herz verzaubert!

im paradies
gibt’s keinen sex

Ebbi keuchte. Das Bettgestell war schwer und sperrig wie eine ganze Schiffsladung.

„Steiler!“, japste Helen. „Ein Stück nach links! Verdammt nochmal, nach links, habe ich gesagt!“

„Ja ... Warte ...“

Ebbi hing irgendwo zwischen Parterre und erstem Stock und versuchte, die Anweisungen ihrer Freundin zu befolgen, die ein paar Stufen weiter oben stand. Doch das war wirklich nicht so einfach. Der modrige Klogeruch raubte ihr den Atem, außerdem war ihr durch das Bettgestell komplett die Sicht versperrt. Sie wünschte sich in diesem Moment weit, weit weg. An einen weißen Sandstrand, wo Meerwasser ihre Füße umspülte, braun gebrannte Jungs Limettendrinks reichten und ihr mit Palmenwedeln Luft zufächerten.

Sinnlos. Palmenwedel, Limettendrinks und schöne Jungs waren weiter entfernt als die letzte Galaxie dieses Universums. Stattdessen brach Ebbi mehr und mehr unter der Last des froschgrünen Gestells – wohlgemerkt Helens Gestells – zusammen, und selbst wenn sie beide es in diesem Leben noch schaffen sollten, das Ding in den zweiten Stock zu befördern, war der Spuk namens Umzug längst nicht vorbei.

Das erste Mal von zu Hause weg, Eltern adieu ... So viel versprechend das auch klang, es war wie ein Trip durch die Hölle, der Fahrstuhl zurück zur Erde bis auf weiteres außer Betrieb.

„Pass auf!“, schrie Helen. „Ich –!“

Augenblicklich gab es einen dumpfen Knall, das Bettgestell rutschte haarscharf an Ebbi vorbei nach unten, verhakte sich dann aber wie durch ein Wunder in den Verstrebungen des Geländers.

„Ebbi? Lebst du noch?“

Helen lugte mit angsterfüllten Augen durch den Rahmen, wobei sich ihre langen dunklen Zotteln an einer hervorstehenden Schraube verhedderten.

„Im Moment schon. Kann aber sein, dass ich gleich einen Herzanfall kriege.“ Ebbi gluckste – wenn auch mehr aus Verzweiflung. „Dann hast du die Riesenwohnung ganz für dich allein.“

Aber Helen war nicht nach Lachen zu Mute. Während sie fluchend ihre Haare aus der Schraube zu befreien versuchte, ging im oberen Teil des Treppenhauses eine Wohnungstür auf, klackende Schritte waren auf den Stufen zu hören, dann meckerte eine weibliche Stimme älteren Datums: „Was zum Teufel ist das hier für ein Lärm?“

Helen sah als Erste den lilaweißen Pagenkopf, der zu einer zierlichen Dame gehörte, die in einem fliederfarbenen Hausanzug steckte. Elegant wie eine Ballerina kam sie jetzt Stufe für Stufe hinabgetänzelt.

„Tragen Sie mal so ein Ding nach oben!“, empörte sich Ebbi, doch die alte Frau ignorierte einfach ihre Worte: „Sagen Sie bloß, Sie ziehen hier ein?!“

Helen lächelte ein schwiegermuttertaugliches Lächeln, vielleicht ein, zwei Sekunden lang, dann erwiderte sie kühl: „Nein, wir tragen das Bettgestell nur zum Spaß hoch. Fitness. Verstehen Sie?“

Die Frau wandte sich kopfschüttelnd um, kraxelte wieder ein paar Stufen nach oben und jammerte dabei: „Oje, oje. Bitte nicht wieder so ein Gestöhne. Nicht noch einmal Gestöhne!“

„Das können wir Ihnen leider nicht versprechen!“ Helen war vor Ärger inzwischen violettrot im Gesicht. Abgesehen davon, dass die Alte echt peinlich aussah, nervte sie auch gewaltig mit dem, was sie von sich gab. Ein Bettgestell in den zweiten Stock zu schleppen war ein Kraftakt sondergleichen, anstrengender als jeder Tausendmeterlauf. Da sollte ein bisschen Stöhnen ja wohl erlaubt sein.

„Ich sag Ihnen jetzt mal was, Frollein!“ Die Frau war stehen geblieben und drehte sich erneut zu Ebbi und Helen um. Als würde sie dadurch auch nur ansatzweise bedrohlicher wirken, straffte sie ihre ein Meter fünfzig. „Wir waren zu DDR-Zeiten ja weiß Gott nicht prüde. Und an Bekannten hat es mir auch nie gemangelt. Aber beim Schäferstündchen ...“ Sie kräuselte ihre ohnehin schon faltige Stirn. „... haben wir auf lautstarke Untermalung verzichtet. Und die Fenster immer hübsch geschlossen gehalten.“

Damit wandte sie sich ab und trippelte die restlichen Stufen zu ihrer Wohnung wieselflink nach oben.

„Hab ich das eben richtig verstanden?“ Helen wusste nicht so recht, ob sie jetzt einen Lach- oder einen Heulanfall kriegen sollte. „Meint die allen Ernstes, dass wir beim Sex die Fenster offen lassen und vollkommen ungehemmt losstöhnen?“

Ebbi gluckste vor Lachen. „Alte Weiber und ihre versauten Fantasien, man glaubt es kaum!“

„Fragt sich nur, von wessen Sex sie redet“, unterbrach Helen das Gekicher ihrer Freundin. „Von meinem ja wohl kaum.“

Sie war zwar längst 17, aber immer noch so jungfräulich wie ein fabrikneues T-Shirt. Was nicht nur ziemlich peinlich war, sondern im Übrigen auch nicht gerade dafürsprach, dass sie es in absehbarer Zeit wild und hemmungslos bei sperrangelweit geöffnetem Fenster treiben würde.

Ganz abgesehen davon, dass ihre Eltern seit einer knappen Woche schräg gegenüber im Dachgeschoss des Vorderhauses residierten. Luftlinie zwölf Meter Entfernung. Sie brauchten also bloß mehr oder weniger unauffällig am Fenster Stellung zu beziehen, und schon konnten sie ihre Tochter auf Schritt und Tritt überwachen. Ein Schönheitsfehler, der Helen den Spaß auszuziehen ein wenig verhagelte. Doch es war nun mal die Bedingung ihrer Eltern gewesen: eine eigene Wohnung nur dann, wenn das noch nicht volljährige Töchterchen (Modell Hilflos) auch in greifbarer Nähe blieb.

Ihr bisheriges Leben hatte Helen in einer großen Altbauwohnung in Berlin-Tiergarten nahe der Spree verbracht. Parterre, verwunschener Garten, die Praxen der Eltern befanden sich gleich im Nebenhaus. Aber Helens Mutter, die als Therapeutin Leute mit Depressionen behandelte, war irgendwann selbst schwermütig geworden. Zu dunkel die Wohnung, zu feucht; etwas Schöneres, Lichteres musste her. Da kam das luxuriös ausgebaute Dachgeschoss in Prenzlauer Berg gerade recht. Fahrstuhl, Dachterrasse mit Blick bis zum Alexanderplatz und zum Dom, der Weg zu den Praxen gerade noch zumutbar.

Die Wohnung gehörte zu einem u-förmigen Gebäudekomplex, der vor einigen Jahren noch grau und marode gewesen war (kein Ort, an dem man freiwillig leben wollte), aber nach und nach hatten die Besitzer das Vorderhaus und die beiden Seitenflügel renoviert und hellgelb getüncht. Nur das Gartenhaus schräg gegenüber der Dachgeschosswohnung moderte noch vor sich hin.

Ein bunt gemischter Haufen bevölkerte den Hof: Studentinnen und Studenten, ältere Damen und Familien, Ehepaare mit viel Schotter, Ehepaare mit wenig Schotter, allein erziehende Mütter mit meistens gar keinem Schotter – daneben gab es ein paar wenige skurrile Lokale und Läden, die Anwohner und Touristen gleichermaßen anlockten.

Gleich im Vorderhaus, zur Straße gelegen, befand sich der Vietnamese Saigon, bloß ein paar Schritte davon entfernt das Café kitchen, bestückt mit Küchenmobiliar aus den 50er Jahren.

Im Innenhof, im linken Seitenflügel, hatte eine Boutique namens chic-y-micki aufgemacht, in direkter Luftlinie stieß man auf die Kondomerie rosarot, ein quietschbuntes und ein wenig schlüpfriges Geschäft, an dessen Schaufensterscheibe sich oft ganze Schulklassen kichernd die Nase platt drückten.

Gleich bei der ersten Besichtigung des elterlichen Domizils war Helen auf die leer stehende Wohnung im noch unrenovierten Gartenhaus (ein vierstöckiger, schmuckloser grauer Kasten) aufmerksam geworden. Scheußlich, aber billig – geradezu ein Glücksfall. Hier musste sie einfach einziehen – am allerliebsten mit ihrer besten Freundin, die sowieso gerade auf der Suche nach einer Wohnung war. Helens Mutter hatte beim Anblick des Kohleofens zwar beinahe einen hysterischen Anfall mit folgenschwerer Persönlichkeitsstörung bekommen, doch da sie davon ausging, dass ihr verwöhntes Töchterchen spätestens im Winter wieder angekrochen käme, hatte sie zähneknirschend ihr Okay gegeben. Dabei sollte es für Helens Eltern eigentlich überhaupt keinen Grund zur Sorge geben, schließlich war Ebbi – ein in ihren Augen zielstrebiges und vernünftiges Mädchen – sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte ihre paar Sachen in Umzugskartons verstaut.

Vor ein paar Tagen war es dann so weit gewesen. Mit großem Tamtam, etlichen Möbelpackern, Regalaufstellern, Lampenanbringern und Kuchen von Butter Lindner hatten Helens Eltern ihren eigenen Umzug ruck, zuck über die Bühne gebracht. Helens Bett sowie Schreibtisch, Regale, Stoffschrank und zehn Kartons mit Büchern, CDs und Kleidung wurden in den Kellerräumen des Gebäudekomplexes zwischengelagert.

Doch jetzt, wo der Vermieter sich endlich bequemt hatte, den Schlüssel zur Gartenhauswohnung rauszurücken und Helens Umzug anstand, sah alles anders aus. Keine Möbelpacker, keine Lampenanbringer, keine Regalaufsteller. Nicht mal Kuchen von Butter Lindner gab es. Stattdessen bloß den netten Hinweis der Eltern, Helen wolle doch auf Teufel komm raus selbstständig werden, also solle sie auch in den sauren Apfel beißen und ihren Krempel selbst in die Wohnung schleppen. Jeglicher Prinzessinnenstatus gehörte ab sofort der Vergangenheit an. Nicht zuletzt wegen Ebbi, deren Eltern – beide zurzeit arbeitslos – nicht in der glücklichen Lage waren, ihre Tochter von vorne bis hinten zu verwöhnen.

Unter akrobatischen Verrenkungen schlängelte sich Ebbi nun durch das Bettgestell hindurch die Treppe runter. An ihrer Cargohose hafteten Staubflusen.

„Mist, verdammter!“ Sie klopfte sich die Hose ab. „Was machen wir denn jetzt?“

„Keine Ahnung.“ Helen, die sich inzwischen ebenfalls durch und über das Bettgestell nach unten gekämpft hatte, musterte den schlammbraunen Bodenbelag, als stünde dort irgendwo die Antwort. „Jemanden auf der Straße anhauen?“

Doch für diese Idee erntete sie von ihrer Freundin nur einen verständnislosen Blick: „Was ist eigentlich mit deinem Vater? Der hat doch Urlaub.“

„Und einen netten Ischias.“ Gekrümmt, als hätte sie selbst Ischias, ließ sie sich auf den Treppenabsatz sinken.

Im gleichen Moment wurde die Haustür aufgeschlossen, und zwei junge Männer, sich lautstark in einer fremden Sprache unterhaltend, betraten das Haus.

„Die schickt uns ja wohl der Himmel.“ Ebbi zupfte sich ihren hellblonden Schrägpony zurecht und legte ihr ganz spezielles Lächeln auf, das bei den meisten Jungs sofort die Hormone quer schießen ließ.

„Hallo! Hi!“ Sie deutete auf das froschgrüne Bettgestell. „Wäre nett, wenn ihr uns mal eben helfen könntet. Das Ding muss bloß in den zweiten Stock.“

Der Größere, ein bisschen schlaksig und krumm, lächelte charmant zurück, hob aber bedauernd die Schultern, der Kleinere schloss sich ihm an. Dann kletterten die beiden durch das Gestell hindurch und liefen die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben.

„Was sind das denn für Idioten!“ Ebbi reckte sich auf die Zehenspitzen und grölte ins Treppenhaus: „Vielen Dank auch für eure nette Hilfe!“ Mutlos lehnte sie sich gegen das Geländer. „Allein schaffen wir das nie! Und dann noch die ganzen Umzugkartons! Und die Regalbretter und ...“

„Pause. Gehen wir erst mal was trinken.“ Helen schüttelte ihre Haare nach hinten und band sie mit einem Gummi im Nacken zusammen. Mittlerweile war ihr schon alles schnurzegal. Und wenn das Bettgestell bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag das Treppenhaus versperren würde ... Kurz entschlossen packte sie ihre Freundin am Arm und zog sie nach draußen auf den Hinterhof.

Es war ein warmer Frühsommertag, Vögel zwitscherten in den Büschen, die den Durchgang zur Straße säumten, und es roch nach Blüten, Sonnenmilch und guter Laune. Ein paar Kleinkinder spielten im Sandkasten, beobachtet von ihren Müttern, die mit Coffee-to-go-Bechern am Rand saßen, zwei blonde Mädchen sausten juchzend die Rutsche hinunter.

„Hey Ebbi, ist es nicht wie im Paradies hier?“

Helen reckte und streckte sich genüsslich. Als wären die Anstrengungen des Umzugs längst vorüber, sämtliche Möbel aufgebaut, Schränke und Regale eingeräumt, kurz: als beginne nun der spaßige Teil des Lebens. Dabei war das, was immer noch vor ihnen lag, ganz gewiss kein Spaziergang. Eher die Besteigung des Mount Everest. Und zwar ohne Sauerstoffflaschen im Gepäck.

Aufgekratzt steuerte Helen den Modeladen chic-y-micki an und drückte sich die Nase an der Scheibe platt. In der Vitrine schwebten T-Shirts, bloß mit einer Wäscheklammer an einem Draht befestigt, dazwischen baumelten apfelgroße Diskokugeln und brachen das einfallende Licht.

Ebbi kam nur Sekunden später nach, denn sie hatte noch einen Schlenker über die quietschig-bunte Kondomerie gemacht.

„Meinst du, im Paradies gibt es Kondome?“, fragte sie, legte ihr Kinn auf Helens Schulter ab, und warf ebenfalls einen Blick auf die neuesten schwebenden T-Shirts im chic-y-micki.

Helen grinste. Die paar Male, die sie hier in der Gegend gewesen war, hatte sie schon heimlich und ein wenig verlegen das Schaufenster mit den pinkfarbenen Papierblüten und den ausgefallenen Kondomen begutachtet. „Keine Ahnung, ob man so was im Paradies überhaupt braucht. Vielleicht hat man dort gar keinen Sex.“

„Wozu heißt es denn sonst Paradies?“, fragte Ebbi und ahnte schon, dass Helen gleich wieder einen ihrer neunmalklugen Vorträge halten würde. Auch wenn sie von Sex nicht die geringste Ahnung hatte, liebte sie es, jeden Aspekt des Themas genauestens unter die Lupe zu nehmen und mit tausend Fremdwörtern gespickt zu kommentieren.

„Quatsch“, ereiferte sich Helen prompt. „So was Außergewöhnliches ist Sex nun auch wieder nicht. Bloß eine chemische Kettenreaktion, bei der vermehrt Oxytocin ausgeschüttet wird. Kalorienverbrauch 100 bis 200, das entspricht einem zirka 20-minütigen Spaziergang. Viel zu banal fürs Paradies.“

Ebbi grinste bloß und deutete auf ein T-Shirt mit der Aufschrift: Ich bin schön. Ich schaffe alles. „Cool, oder? Das sollten wir uns zulegen. Für unser neues Image.“

„Auf jeden Fall“, sagte Helen und fügte seufzend hinzu: „Zumindest wenn es auch bei Bettgestellen hilft, die quer in Treppenhäusern hängen und ums Verrecken nicht von allein hoch wollen ...“

„Keine Angst. Wir sind schön. Wir schaffen das!“

Ebbi hakte ihre Freundin unter und zog sie zum Café kitchen, das sich gleich, wenn man aus dem Torbogen trat, zur linken Hand erstreckte. Chefin Anka, eine Polin, die ebenfalls im Hinterhof wohnte, hatte den großzügigen Restaurantbereich mit lauter Küchenzeilen, Küchentischen und -stühlen aus den 50er- und 60er-Jahren bestückt, was dem Café den Charme eines skurrilen Museums verlieh. Jetzt im Frühsommer standen einige der pastellfarbenen Möbel auf dem Bürgersteig; statt Blumen dekorierten Sträuße aus Eisschirmchen die Tische.

Gerade als sich die Mädchen setzen wollten, kam ein Köter angehoppelt und kläffte sie wie Eindringlinge an.

„Hau ab, du Töle!“, schrie Ebbi und machte eine drohende Geste, aber das brachte den Hund nur noch mehr in Rage. „Wem gehört dieses Vieh?“ Vermutlich gellte ihre Stimme bis nach Westberlin.

„Antonio!“, rief einer der Gäste, ohne von seinem Laptop hochzusehen. „Hier sind zwei junge Damen, die sich gerne setzen möchten. Aber Amore lässt sie nicht.“

Ebbi verdrehte die Augen. Amore! Wie konnte man seinen struppigen und zudem noch hinkenden Köter bloß Amore nennen?

„Amore, vieni qua!“, ertönte eine Stimme, dann trat er aus dem Café.

Er musste Antonio sein und war eine Mischung aus Hollywoodstar, Telenovela-Darsteller und TV-Moderator. Nur um Klassen besser. Weil er mit dem Pickel auf der Stirn, den vielen Wirbeln, die seine dunklen Haare kreuz und quer stehen ließen, und dem fliehenden Kinn eben nicht ganz und gar perfekt aussah.

Ohne Umschweife packte er das Vieh am Schlafittchen und zog es wie einen störrischen Esel fort. Ebbi und Helen nutzten die Gelegenheit, sich schnell hinzusetzen. „Dimmi, Amore! Che cosa fai?“ Und in dem lang gezogenen Tonfall eines Norddeutschen von der Waterkant fuhr er fort: „Wie oft hab ich dir gesagt, du sollst die Gäste in Ruhe lassen!“

Er gab dem Tier einen kräftigen Klaps, was Ebbi trotz ihrer Panik vor Hunden und diversen Vier-, Sechs- und Achtbeinern fast schon wieder Leid tat, dann richtete er sich auf, und eine meterhohe Welle, geradewegs dem französischen Atlantik entsprungen, rollte einmal quer durch ihren Bauch. Es war dumm und trivial, ganz wie im Kitschfilm: Held in der Totalen lächelt süßlich, die Kamera zieht auf, das Mädel – strohblond und mit Kussmund – reckt das Kinn in die Höhe und lächelt ebenfalls süßlich, Mädel in der Totalen lächelt jetzt dümmlich, Held (nun in der Halbtotalen) beugt sich vor und küsst das Mädel, Geigen fiedeln auf, Kamera entfernt sich, Abblende.

„Angst vor Hunden?“, riss sie der Schöne aus ihren Fantasien.

„Nein, wieso?“ Ebbi gab sich betont lässig, worauf sie prompt einen Knuff von Helen kassierte.

„Darf ich mich vielleicht mit einem Drink bei euch entschuldigen?“ Und bevor die Mädchen etwas erwidern konnten, fuhr er fort: „Ich mixe euch zwei bella Karibikdrinks. D’accordo?“

„Für mich nur eine Cola“, beeilte sich Helen zu sagen.

Ebbi schloss sich ihr an und erklärte, dass ihnen noch ein nervenaufreibender Umzug bevorstünde. Da sei Alkohol tabu.

Bello Antonio schenkte ihnen ein mitleidiges Lächeln, dann verschwand er im Innern des Cafés. Der struppige Köter folgte ihm hinkend wie sein Schatten.

„Du hast den Typen ja angestarrt, als wolltest du ihn auf der Stelle vernaschen.“ Helen grinste so breit, dass ohne Schwierigkeiten eine Salatgurke quer in ihren Mund gepasst hätte.

„Unsinn. Er sieht bloß gut aus.“

Ebbi suchte nervös nach ihrem Lipgloss. Dass ihr Herz dabei außer Rand und Band auf und ab hüpfte, versuchte sie weitestgehend auszublenden.

„Alles klar, er sieht bloß gut aus! Und sonst nichts weiter ...“

„Falls du’s noch nicht weißt“, sagte Ebbi und betupfte sich ihre Lippen mit Lipgloss. „Mit schönen Männern handelt man sich sowieso nur Ärger ein.“

„Ach so! Deswegen stehst du vorsichtshalber auf hässliche Kerle, richtig?“

„Und was ist mit dir?“, fragte Ebbi und drehte das kleine Döschen wieder zu. „Du hast ihn doch auch reichlich penetrant angeguckt!“ Als ob sie im Moment nichts Wichtigeres zu tun hatten, als sich über eins dieser hormongesteuerten Wesen vom anderen Planeten auszulassen!

„Ich habe ja auch nichts gegen gut aussehende Männer. Nur muss es nicht gerade so ein peinlicher Latinlover sein.“ Helen gluckste. „Der findet sich bestimmt so schön, dass er sich sogar beim Sex selbst im Spiegel beguckt.“

Ebbi verkniff es sich, ihre Freundin daran zu erinnern, dass sie beide mal auf denselben Typen gestanden hatten, einen Latinlover wie aus dem Bilderbuch, und dass an diesem Menschennamens Jonas beinahe ihre Freundschaft zerbrochen wäre.

„Zwei Karibik ohne Alkohol. Das ist doch netter als eine Cola.“ Bello Antonio stand wie hergezaubert an ihrem Tisch. „Wohin zieht ihr? Ich hoffe ja wohl stark, in diese Gegend!“

Helen deutete mit dem Daumen hinter sich. „Gartenhaus, zweiter Stock.“

„Che piacere! Anche io vorrei abitare lì!“

„Wie bitte?“, fragte Helen und ließ ihren Mund für die Dauer eines Blitzschlages offen stehen. Auch Ebbi konnte sich bloß wundern. Mal sprach der Schönling wie ein Seemann, der in jedem Hafen eine andere Braut hatte, dann wieder hagelte es italienische Worte, als habe er in seinem Leben noch keinen deutschen Boden betreten.

„Der Hinterhof ist così bello!“, fuhr er fort. „So viele simpatica gente, nette Leute ...“

„Ach so? Ja?“, sagte Ebbi und wechselte einen raschen Blick mit Helen. Die Oma eben war ja schon das beste Beispiel für die sympathischen Leute gewesen.

Bello Antonio servierte die Drinks so ungeschickt, dass ein Stückchen Ananas auf Ebbis Hose landete.

„Oh, wie peinlich!“, rief er mit zerknirschtem Gesicht aus, dann kniete er vor ihr nieder, als wolle er um ihre Hand anhalten.

Ebbi wurde von einer derart unwiderstehlichen Mischung aus Aftershave und reifen Pfirsichen umweht, dass sie sich dem fremden Kerl auf der Stelle hingab. Zumindest in ihrer Fantasie. Dann wurde es plötzlich nass an ihrer Hand, gleichzeitig war ein schlabberndes Geräusch zu vernehmen.

AMORE!

Das struppige Hundevieh, das bestimmt voller Flöhe war, presste sich mit seinem Hinterteil an das Tischbein und schleckte voller Hingabe ihre Hand.

„Igitt!“ Von Killerbienen attackiert hätte Ebbi ihre Finger nicht schneller wegziehen können.

„Amore! Vattene!“, brüllte Antonio, dann jaulte er in ähnlicher Tonlage wie sein Hund: „Ich bin untröstlich! Mi dispiace! Wie soll ich das nur wieder gutmachen?“

Ebbi spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

„Ähm ...“, stotterte sie. „Ich glaub, ich wüsste da was.“

„Ach ja? Was denn?“

„Um ehrlich zu sein: Wir haben da ein Problem“, schaltete sich Helen ein. „Ein ziemlich großes ... sozusagen sperriges.“

„Ja, genau“, pflichtete Ebbi bei.

Sie wagte kaum, Antonio anzusehen, während sie ihr Anliegen vortrug, doch dann passierte das Unfassbare. Als hätte der Latin-Schönling bereits sein Leben lang darauf gewartet, endlich einmal ein Bettgestell eine enge Treppe hinauftragen zu dürfen, nickte er voller Begeisterung und bot sich gleich auch noch an, bei den restlichen Möbeln und Kartons zu helfen. Allerdings gäbe es da einen kleinen Haken: Er habe erst in zwei Stunden Feierabend.

„Das macht doch gar nichts!“ Ebbi lächelte wie ein Kind, dem man soeben ein Dauerabo auf Schokolade in Aussicht gestellt hatte. „Ach, und wenn du uns noch einmal die Karte bringen würdest. Etwas Süßes wäre jetzt nett.“

„Subito!“ Antonio verschwand mit geschmeidigen Bewegungen; Amore folgte ihm hinkend und mit dem Hinterteil wackelnd.

Helen musterte ihre Freundin voller Bewunderung: „Wie du das immer schaffst, die Kerle um den kleinen Finger zu wickeln!“

„Ach ... Alles eine Frage der Übung.“

Ebbi grinste, dann sah sie in den tintenblauen Sommerhimmel und freute sich über ihren genialen Plan. Dass das Bettgestell in Kürze oben sein würde, war die eine Sache. Antonio die andere. Denn den hatte sie ziemlich eindeutig an der Angel. Dreieinhalb Stunden später war das Werk endlich vollendet.

Ächzend und stöhnend hatte Antonio das Bettgestell nach oben geschafft, und während Ebbi und Helen vollauf damit beschäftigt waren, sich den struppigen Köter vom Hals zu halten, hievte er auch noch die Matratze, einen Tisch, etliche Regalbretter, einen Futon, ein altes, abgeschabtes Cordsofa und die restlichen Kartons in den zweiten Stock.

Jetzt saß er mit baumelnden Beinen auf dem alten Küchentisch, der zwischen all dem Gerümpel mitten im Flur der WG stand, und lächelte so beglückt, als wäre es ihm gelungen, den Mount Everest zu besteigen. Dank Sauerstoffflasche und dem Applaus zweier junger Frauen.