1

»Es ist aus.« Sam lehnte sich im Sessel zurück und grinste schief.

»Wie bitte?« Elda gluckste. »Du hast übrigens Petersilie zwischen den Zähnen.«

»Es ist aus«, wiederholte Sam. Er grinste immer noch, aber sein Gesicht wirkte dabei wie eingefroren. »Ich hab noch mal über alles nachgedacht.«

Irgendetwas in Eldas Magen machte sich in Sekundenschnelle selbstständig und vollführte aberwitzige Pirouetten. »Wie meinst du das jetzt?«

»So wie ich es sage. Ich will nicht mehr …«

»Das glaube ich nicht.«

»Sorry …«

Während Sam schulterzuckend zwischen seinen Schneidezähnen herumpulte, fuhr Elda von ihrem Bett hoch und riss das Fenster auf. Zusätzlich zu dem Chaos in ihrem Magen hämmerte ihr Herz wie verrückt. Eben war noch alles in bester Ordnung gewesen und nun machte er einfach Schluss? Das konnte doch nicht wahr sein. Wahrscheinlich hielt er sie gerade gewaltig zum Narren und würde im nächsten Moment in Gelächter ausbrechen.

»Damit macht man keine Scherze«, versuchte Elda es erneut.

»Das tue ich auch nicht.« Sam sah wie ein kleiner, unschuldigerjunge aus. »Wirklich nicht.«

»Du hast sie ja wohl nicht mehr alle!« Eldas Stimme klang wackelig, wie kurz vorm Heulen. Sicher, es hatte in der letzten Zeit mehr Zoff und Reibereien gegeben als sonst. Elda fing in Sams Augen an zu klammern und Sam nervte Elda alle zwei Tage damit, dass er mit ihr schlafen wollte, aber war das ein Grund, einfach Schluss zu machen?

Plötzlich spürte Elda Sams Atem in ihrem Nacken, dann legte er seine Hand auf ihren Rücken und streichelte sie ein wenig. Die vage Hoffnung keimte in ihr auf, dass er sie gleich in den Arm nehmen und küssen würde, doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil. Der Druck auf ihrem Rücken wurde schwächer, bis er seine Hand schließlich ganz wegzog.

»Es tut mir so Leid, aber …« Er verstummte.

Blitzartig fuhr Elda herum; Tränen liefen ihr über die Wangen. »Was aber?«

Sam hob verunsichert die Schultern und wich einen Schritt zurück. »Ich kann das nicht. So eine Beziehung auf Distanz.«

»Ach, auf einmal? Wir waren uns doch einig, dass wir das hinkriegen.«

Schon in drei Tagen würde Elda als Austauschschülerin nach Frankreich gehen. Für sieben Monate. Das war eine lange Zeit, aber sie hatten im Vorfeld x-mal darüber gesprochen. Sie würden es schon überstehen und danach einfach dort anknüpfen, wo sie aufgehört hatten. Alles kein Problem. Wenn man sich wirklich liebte, konnte man locker ein paar Monate vom anderen getrennt sein.

»Ja, stimmt.« Sam hüstelte und vergrub seine Hände tief in den Hosentaschen. »Aber ich glaube, wir machen uns da was vor. Sieben Monate … das ist eine halbe Ewigkeit.«

»Prima, dass dir das jetzt schon einfällt!«, schnaubte Elda.

»Du wärst doch sowieso gegangen. Egal was ich dazu gesagt hätte!«

Elda zuckte bloß mit den Achseln und wischte ihre Tränen mit dem Handrücken weg. Die Bewerbung, die Vorgespräche – all das hatte sich so sehr in die Länge gezogen, dass sie bald selbst nicht mehr gewusst hatte, wer bei der Entscheidung eigentlich die treibende Kraft gewesen war. Sie selbst oder vielleicht doch eher ihre ehrgeizigen Eltern, die für ihre Tochter nur das Beste wollten. Schließlich sollte sie mal ein gutes Abi machen und danach wie sie Zahnärztin werden, um die Familienpraxis zu übernehmen. Aber auch Elda versprach sich einiges von dem Auslandsaufenthalt. Mal über den Tellerrand blicken, unverbrauchte Luft schnuppern und dabei ganz nebenbei eine Fremdsprache lernen – das erschien ihr reizvoller als ihre eher halbherzigen Mädchenfreundschaften in der Schule, vielleicht sogar spannender als ein Dauerabo auf Sam. Ein Dauerabo, das jetzt außer der Reihe plötzlich gekündigt worden war.

Elda ließ sich wie ein Stein auf ihr Bett sinken. Sam wollte mit ihr Schluss machen, aber sie fühlte fast nichts. Nur eine Leere, die sich immer mehr in ihr ausbreitete.

»Ist es, weil ich nicht mit dir schlafen wollte?«, fragte Elda ohne jegliche Betonung in der Stimme.

»Unsinn! Wie kommst du darauf?«

»Du hast doch von nichts anderem mehr geredet.« Elda registrierte genau, dass Sam rosarot anlief.

»Na ja, gewünscht hätte ich es mir schon«, gab er schließlich zu. »Nach fast einem halben Jahr …« Er betrachtete seine Sneakers. »Und dann sieben Monate lang nicht zu wissen, ob es überhaupt irgendwann passiert…«

»Verstehe«, sagte Elda. »Da macht man besser gleich Schluss und sucht sich was Neues.«

Es zuckte unmerklich um Sams Mundwinkel, dann grinste er wieder sein eigentümliches Tiefkühl-Grinsen. »Hör auf damit!«

»Stimmt’s oder hab ich Recht?«

»Nein, so ist es ja gar nicht.« Er flüsterte mehr, als dass er sprach.

»Dann erklär mir, wie es ist?«

»Na ja … ehrlich gesagt…« Sam räusperte sich umständlich, den Blick krampfhaft auf seine Schuhe geheftet. »Ich hab da jemanden kennen gelernt.«

»Wie bitte?«

»Ein Mädchen. Ich hab ein Mädchen kennen gelernt.«

Sams Worte trafen Elda wie ein Keulenschlag. Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Obwohl jetzt alles in ihr in Aufruhr war, versuchte sie die Fassung zu bewahren.

»Soll das heißen«, hakte sie schließlich mit dünner Stimme nach, »du hast schon eine neue Freundin?«

»Ja, so in etwa«, murmelte Sam und pfiff völlig unmotiviert eine kleine Tonfolge.

»Das trifft sich ja gut. Richtig gut.« Sie kicherte schrill. »Hey, das ist geradezu super!«

»Versteh doch …«, fing Sam erneut an, aber Elda schluckte rasch ein Riesenungetüm von Kloß herunter und schrie: »Du bist ja wirklich das Allerletzte! Hau bloß ab! Und lass dich hier nie wieder blicken!«

Die Frage, ob sich die Neue denn nicht so anstellen und gleich mit ihm ins Bett gehen würde, ersparte sie sich. Aus, Ende, vorbei. Der Typ konnte ihr wirklich gestohlen bleiben!

Nur widerwillig ließ sich Sam zur Tür drängen, und als er dann ohne ein weiteres Wort gegangen war, heulte Elda Rotz und Wasser. Bloß der Gedanke, dass sie sowieso bald weg sein würde, konnte sie jetzt ein wenig trösten.

2

»Du hast wirklich kein Foto von ihr?« Um zu demonstrieren, dass er für heute genug vom Lernen hatte, klappte Serge das Matheheft und die Bücher zu und angelte sich eins der Schokocroissants, die vor ihm auf einem Teller mit Blümchenmuster lagen.

»Nein«, log Etienne.

»Aber sie hat doch auch ein Foto von euch.«

»Na und?«

Serge verzog sein Gesicht zu einer schiefen Grimasse. »He, du verscheißerst mich. Rück schon damit raus. Wahrscheinlich sieht sie oberscharf aus!«

»Ich hab wirklich kein Foto von ihr – ist es jetzt mal gut?« Es ging Serge überhaupt nichts an, wie Etiennes Gastschwester aussah – und basta.

»Und wie wollt ihr sie dann bitte schön am Flughafen erkennen?« Serge ließ einfach nicht locker.

»Wir schaffen das schon. Keine Sorge.«

»Hat sie wenigstens geschrieben, wie sie aussieht?«

»Ja«, grummelte Etienne.

»Und wie?«, nervte Serge weiter und verwuschelte seine Haare.

»Ganz normal.« Etienne schlug die Hefte jetzt auch zu.

»Was soll das heißen? Normal?«

»Meine Güte! Wie Mädchen mit 16 eben aussehen! Mädchenhaft, zickig, und ich verwette mein letztes Hemd darauf, dass sie ihren Hintern zu dick findet.«

Serge grinste seinen Freund an. »Toll, wie du dich auskennst.« Damit verstaute er die Schulsachen in seiner abgeschabten Ledermappe, die noch von seinem Großvater stammte. Das Schloss schnappte mit klickendem Geräusch zu. »Sag mal … Kann ich vielleicht mit zum Flughafen kommen?«

Etienne schüttelte so vehement den Kopf, dass seine überschulterlangen Haare hin- und herflogen. »Ganz bestimmt nicht.«

»Bitte!«, bettelte Serge.

»Nein! Wir passen auch gar nicht alle in den Renault.«

Das war zwar schon wieder eine Lüge, aber egal. Seit Wochen lag sein Freund ihm mit dieser Austauschschülerin in den Ohren. Eine deutsche Gastschwester. Super! Glück gehabt, Kumpel! Bestimmt ist sie blond und hat Möpse, dass dir sie Spucke wegbleibt!

Serge mit seinen vielen Brüdern – sechs, um genau zu sein – würde es vielleicht reizvoll finden, eine Schwester dazuzubekommen, Etienne jedoch nicht. Er war immer Einzelkind gewesen und wollte es auch bleiben. Außerdem ging ihm Serges pubertäres Gefasel einfach nur auf die Nerven. Weder interessierte ihn Haarfarbe noch Busen seiner Gastschwester. Hauptsache, das Mädchen störte ihn nicht in seinem üblichen Tagesablauf und nervte auch sonst nicht. Die Lernerei fürs Bac forderte ihn schon genug, ganz abgesehen davon war er noch in einer Umweltgruppe aktiv und musste ab und zu im Haushalt mithelfen.

Zugegeben – Elda sah nicht übel aus auf dem Foto, das sie ihnen per Mail hatte zukommen lassen. Dummerweise war sie tatsächlich zierlich und blond und ihre Brüste … na ja, die konnte er nicht so genau erkennen. Nur eins war schon jetzt klar: Serge würde auf Elda abfahren; die blonden, naiven Mädchen waren schon immer sein Fall gewesen. Und worauf Etienne am wenigsten Lust hatte, war ein balzender, hormongesteuerter Freund an seiner Seite.

Möglich, dass diese Elda sogar ganz nett war, das wollte Etienne gar nicht abstreiten, nur war es ihm immer noch schleierhaft, warum ausgerechnet seine Eltern die Idee gehabt hatten, eine Austauschschülerin aufzunehmen. Konnten das nicht die anderen tun? Familien, die richtig Schotter hatten, in großen Altbauwohnungen im Zentrum von Paris lebten und nicht in der schäbigen Banlieue? Etienne hatte es all die Jahre nie besonders ernst genommen, wenn seine Mutter Albertine das Thema angesprochen hatte – einmal im Leben eine Tochter haben, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit –, zumal sie von dieser verrückten Idee auch immer wieder abgerückt war. Mal weil keiner sich hatte aufraffen können, das winzige Gästezimmer, das genau neben Etiennes Zimmer lag und eigentlich mehr eine Rumpelkammer war, zu renovieren, mal weil Albertine sich plötzlich schämte, dass sie wohnten, wie sie nun mal wohnten. Die Trabantensiedlung war eine Sache, dass Stéphane in handwerklichen Dingen schlichtweg unbegabt war und daher alles an Albertine hängen blieb, eine andere. Seine Mutter hatte zwar mehr praktisches Geschick, war dabei jedoch so chaotisch, dass sie erst eine Wand in einem hellen, sonnigen Gelb zu streichen begann, um dann plötzlich festzustellen, dass sie ja doch eher ein Erdtyp war und eigentlich die gedeckten Rot-Töne bevorzugte.

Doch nun war alles fertig. Wohn- und Esszimmer leuchteten in einem Himbeerrot, der Flur war himmelblau gestrichen, das Bad meergrün, Stéphanes Lese- und Musikzimmer sonnengelb, die Küche ebenfalls und das Gästezimmer hatte eine kitschige Blümchentapete bekommen, weil Albertine der Meinung war, dass Mädchen Blümchen lieben würden – und zwar in allen Variationen.

Allein Etiennes Zimmer hatte glücklicherweise so bleiben dürfen, wie es war. Weiß und ziemlich karg. Andernfalls hätte er sich auch mit seinen Eltern angelegt. Niemand durfte sich in die Gestaltung seines kleinen Reiches einmischen. Schließlich hatte er ja auch akzeptieren müssen, dass seine Eltern dieses blonde Geschöpf aus Deutschland aufnehmen wollten. Denn genauso wie er befürchtete, dass Serge auf Elda abfahren würde, hatte er Angst davor, dass sie im Gegenzug auch auf seinen besten Freund fliegen würde. Alle Mädchen waren hinter Serge her; das war eine Art Naturgesetz. Und das, obwohl er mit seiner großen Knollennase nun wirklich keinen Beauty-Contest gewinnen würde.

»Was glotzt du so?« Erst jetzt merkte Etienne, dass Serge ihn schon die ganze Zeit über spöttisch musterte.

»Du wirst deine neue Schwester nicht die ganze Zeit vor mir verstecken können.«

»Was soll das?«, fauchte Etienne.

Mit einer fast zärtlichen Bewegung fegte Serge einen Croissantkrümel von seiner Ledermappe. »Keine Angst, ich schnappe sie dir schon nicht weg.«

»Tu dir keinen Zwang an. Die interessiert mich doch überhaupt nicht.« Damit Serge endlich Ruhe gab, zog Etienne seine Schreibtischschublade auf und wühlte darin herum. Ein paar Greenpeace – Unterlagen landeten auf dem Tisch, ein grobzinkiger Kamm, Kaugummipapier, eine Mundharmonika, wollene Fäustlinge und als Letztes Eldas Foto. Etienne schob es an die äußerste Schreibtischkante. Sollte sich der Hund den Knochen doch selbst holen!

»Hey, du alter Lügner!« Serge sprang auf und beugte sich über das Bild. Ein anerkennender Pfiff ertönte. Und dann noch einer.

Etienne hatte es gewusst. Ein Blick auf so ein läppisches Bild genügte und schon tanzten Serges Hormone Cancan.

3

Ein kräftiger Wind blies Elda um die Ohren, als sie am Flughafen aus dem Auto stieg. 9.15 Uhr und vier Sekunden. Ihr Magen rebellierte schon seit dem frühen Morgen und ihre Hände waren feucht. So fühlte es sich also an, wenn man für ganze sieben Monate die Heimat verließ. Die Vorfreude darüber hatte sich bis auf den letzten Rest verflüchtigt, geblieben waren ein undefinierbares Unbehagen und der Wunsch, sich am liebsten zu entmaterialisieren.

Der Tag, nachdem Sam mit ihr Schluss gemacht hatte, war die reinste Katastrophe gewesen. Tränen und Wut und nochmals Tränen und Wut. Vielleicht nannte man das Liebeskummer, und wenn ja, fühlte er sich schrecklich an. Elda wollte nur noch eins: Sam abhaken, vergessen, ihn zur Nullnummer in ihrem Leben erklären, was ihr in Frankreich – so ihre Hoffnung – vielleicht am ehesten gelingen würde.

Zum Glück hatte sie vor ihrer Abreise noch so viel zu tun gehabt, dass ihr kaum Zeit geblieben war, sich im Selbstmitleid zu suhlen: die Verabschiedung von den Klassenkameraden und Verwandten, Geschenke für ihre Gastfamilie besorgen, ganz zu schweigen von dem Großprojekt namens Kofferpacken. Wie um Himmels willen packte man einen Koffer für sieben Monate?

9.16 Uhr und dreizehn Sekunden. Eldas Beine fühlten sich wie Kuchenteig an, als sie hinter ihren Eltern zum Terminal schlich. Erst nach und nach begriff sie das ganze Ausmaß ihres Vorhabens. Jetzt reiste sie also allein in ein Land, von dem sie nur ein paar läppische Dinge wusste. Dass man zum Frühstück Croissants in den Milchkaffee tunkte, dass man auch nachmittags Unterricht hatte und statt Guten Tag Bonjour sagte. Zudem flog sie zu völlig fremden Menschen, die für die nächsten sieben Monate ihre Familie sein würden und zumindest auf dem ersten Foto nicht besonders sympathisch gewirkt hatten. Ihr Gastbruder Etienne hatte lange, verfilzte Haare und guckte mürrisch in die Kamera, ihr Gastvater Stéphane grinste zwar von einem Ohr zum anderen, war jedoch so klapperdürr, dass man fürchten musste, er würde aus dem Foto fallen oder – noch schlimmer – von seiner riesigen, korpulenten Ehefrau Albertine erdrückt werden.

»Mrs Elda Stenzel. Hallo!?«

Die Frau hinter dem Schalter musste schon eine Ewigkeit vor Eldas Nase herumgewedelt haben, denn gleichzeitig rammte ihr jetzt auch noch ihre Mutter den Ellenbogen in die Seite.

»Fensterplatz?«

»Ja – nein – egal«, brachte Elda mühsam hervor.

»Du willst nicht am Fenster sitzen?«, schaltete sich ihr Vater ein.

»Weiß nicht …« Elda drehte sich zu ihm um, seine Glatze hatte mit einem Mal etwas Verschwommenes, als würde ein Heiligenschein um seinen Kopf schweben.

»Elda, du bist ja ganz blass!«, sagte ihre Mutter dicht an ihrem Ohr, dann verschwamm auch ihr Gesicht und Elda wurde es schwarz vor Augen.

Kurz darauf fand sie sich in der Horizontalen wieder, auf zwei Sitzen quer liegend, und ihre Mutter fächelte ihr mit einer Zeitschrift Luft zu.

»Kleines, was machst du bloß für Sachen!«

Ächzend richtete sich Elda auf. Erst hatte sie monatelang gebibbert und gezittert, ob man sie für das Austauschprogramm überhaupt für geeignet hielt, und nun, wo es tatsächlich ernst wurde, klappte sie einfach zusammen. An Sam lag das nicht, ganz bestimmt nicht. Eher an der Angst vor der eigenen Courage.

»Soll ich den Flug besser stornieren? Oder umbuchen?« Ihr Vater hatte Schweißperlen auf der Stirn.

»Nein, Papi. Ich fliege. Macht euch keine Sorgen. Ich schaff das schon.«

So hundertprozentig war sie zwar selbst nicht davon überzeugt, aber wenn sie nicht innerhalb der nächsten 15 Minuten durch die Kontrollschleuse und dann zu ihrem Gate ging, würde sie die Sache wohl ganz abblasen. Also stellte sie sich vor, dass sie bloß eine Rolle in einem Film spielte, und nahm ihrer Mutter selbstbewusst das Ticket aus der Hand, um diesmal ohne weiteren Zwischenfall einzuchecken. Fensterplatz Reihe 7, Gate 11, Boarding 11.15 Uhr.

Sie tauschte noch ein paar Floskeln mit ihren Eltern aus – ruf an, schreib mal, halt die Ohren steif – und dann war er da, der Moment des Abschieds. Elda hatte sich vorher x-mal ausgemalt, wie er wohl sein würde, aber jetzt war sie nicht mal besonders traurig. Besonders fröhlich allerdings auch nicht. Sie fühlte irgendwie gar nichts, als wäre sie tatsächlich nur eine Schauspielerin in einem Film. Ihre Mutter verdrückte eine Träne, ihr Vater konnte sich gerade noch zusammenreißen, sah aber auch so aus, als würde er später im Auto ein ganzes Paket Taschentücher verbrauchen. Mindestens.

Also machte sich Elda mit einem Ruck los, winkte ein letztes Mal und hastete dann, ihren kleinen orangefarbenen Rucksack über der Schulter, zum Sicherheitscheck. Ohne sich noch einmal umzudrehen. Erst als sie die Schleuse passiert hatte und zu ihrem Gate ging, fühlte sie diesen dicken Kloß im Hals. Bloß nicht heulen, impfte sie sich ein, doch je mehr sie dagegen ankämpfte, desto schwieriger war es, die Tränen zurückzuhalten. Vor lauter Scham tauchte sie im nächstbesten Klo unter. Erst die große weite Welt entdecken wollen und dann wie ein Baby losflennen! Eine Weile hockte sie auf dem Klodeckel und lauschte den Geräuschen in den Nachbarkabinen, zwischendurch schnäuzte sie sich immer wieder mit Klopapier.

Mit dem beruhigenden Gedanken, dass sie am Pariser Flughafen notfalls gleich wieder umkehren könne – im Zweifelsfall würde sie sich eben so lange auf einer der Toiletten herumdrücken, bis ihre Gasteltern gegangen waren –, verließ sie schließlich das WC. Eine Weile trödelte sie noch im Duty-free-Shop herum, studierte Parfummarken, schnupperte hier, schnupperte dort, dann marschierte sie erhobenen Kopfes zu ihrem Gate. Stolz und unberührbar zugleich, zumindest nahm sie sich vor, so zu wirken. Und nach und nach stellte sich auch etwas Vorfreude ein. Denn Elda liebte das Fliegen. Es gab nichts Schöneres, nichts, das mehr im Bauch kribbelte.

Der Flug Hamburg–Paris wurde pünktlich abgefertigt. Gleich beim ersten Aufruf huschte Elda in die Schlange und fühlte sich auf einmal ziemlich erwachsen. Das erste Mal ganz allem fliegen, und dann noch in ihr Lieblingsland. Etliche Franzosen waren unter den Reisenden, immer wieder drangen Wortfetzen in ihrer Sprache zu ihr herüber, doch sosehr Elda sich auch anstrengte, sie konnte kaum etwas verstehen. Mit Panik dachte sie daran, was sie erst in Frankreich erwarten würde. Sich trotz Einsen in der Schule nicht verständigen zu können, eine Ausländerin zu sein, auf deren sprachliche Fähigkeiten man vielleicht keine Rücksicht nahm, das stellte sie sich schrecklich vor.

Obwohl sich die Reisenden zügig durch die Schleuse bewegten, dauerte es noch eine ganze Weile, bis Elda endlich im Flugzeug war. Schnell, als würde das Flugzeug dadurch eher losfliegen, nahm sie ihren Fensterplatz ein. Nicht eine Sekunde wollte sie vom Start verpassen, von den kostbaren Minuten, in denen das Flugzeug abhob und in Schieflage in den Himmel katapultiert wurde.

»Vous parlez français?«

Ausgerechnet als die Turbinen aufheulten und das Flugzeug Gas gab, sprach sie der Mann neben ihr an. Schon die ganze Zeit hatte es Elda genervt, dass er wie selbstverständlich seinen Ellenbogen auf ihrer Armlehne platzierte und immer wieder zu ihr rüberschielte. Rotes Alkoholikergesicht und dazu noch Mundgeruch.

Elda murmelte nur etwas vor sich hin und blickte stur nach draußen. Aber der Mann redete einfach weiter auf sie ein und gab lauter schwierige, verschachtelte Sätze von sich, wobei immer wieder das Wort vomir fiel. Vomir hieß kotzen. Fand er etwa den Flug zum Kotzen? Oder die Fluglinie, die so enge Sitze baute, dass man sich ganz automatisch mit den Ellenbogen ins Gehege kam? Oder wollte der Mann sie netterweise schon mal darauf vorbereiten, dass er gleich nach einer der Spucktüten greifen würde?

Elda vermied es, zu ihrem Sitznachbarn hinüberzusehen. Dazu war der Blick auf die Stadt, der sich ihr gerade bot, viel zu atemberaubend, genauso wie das Gefühl von Freude und Euphorie, das sich mit jedem Kilometer, den das Flugzeug zurücklegte und sie damit auch von Sam wegbrachte, verstärkte. Wie damals, als sie per Post erfahren hatte, dass sich eine Gastfamilie in Paris bereit erklärt hatte sie aufzunehmen. Paris! Ein Sechser im Lotto war nichts dagegen! Nahezu alle Austauschschüler, mit denen sie auf dem Vorbereitungsseminar in Hamburg zusammengekommen war, hatte es aufs Dorf verschlagen, aufs langweilige platte Land, wo man schon froh sein konnte, wenn es überhaupt eine Patisserie gab. Paris – das klang in Eldas Ohren nach großer, bunter Zuckertüte, aus der man sich nach Belieben bedienen und die süßesten, cremigsten und buntesten Törtchen nur herauszufischen brauchte.

4

Etwa zur selben Zeit posierte Albertine vorm Flurspiegel, der von Hunderten Stoff-Rosenblüten umrankt war, und malte sich die Lippen in einem grellen Pinkton an. Trotz ihrer stattlichen Größe von 1,80 Meter und ihrer üppigen Figur trug sie einen knielangen Blumenrock, dazu eine eng geschnittene Clubjacke, auf der hier und da Strasssteinchen glitzerten. Ihr schmaler Ehemann Stéphane, akkurat in Zweireiher mit Fliege, hämmerte derweil an eine der vom Flur abgehenden Türen, indem er auf Französisch drohte: »Komm da jetzt raus! Wenn du nicht sofort rauskommst …«

Was dann passieren würde, erwähnte er allerdings nicht mehr. Auch dann nicht, als Albertines Lippen mit einem Gloss den letzten Schliff bekommen hatten und sie abmarschbereit nach dem Autoschlüssel fischte.

»Wir sprechen uns noch!« Ein letztes Mal klopfte Stephane energisch gegen die Tür, dann ließ er sich von seiner Frau, die bloß matt abwinkte, aus der Wohnung ziehen.

Eine Straßenecke weiter stand Serge in einer Boulangerie, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, und orderte drei Schokocroissants. Er liebte Schokocroissants. Nur Mädchen dazu zu bringen, ihn zu küssen, war noch verlockender.

Nachdem er bezahlt hatte, verließ er den Laden und drückte die Wahlwiederholung seines Handys. Erneut sprang bloß Etiennes Mailbox an. Serge grunzte genervt, dann schaltete er das Handy wieder aus, verstaute es in der Hosentasche seiner ausgebeulten Cordhose und bog zielstrebig in die Rue de Precope ein.

Er würde mit zum Flughafen fahren, um das Mädchen aus Deutschland abzuholen, koste es, was es wolle. Und er hatte Glück. Gerade als er das Hochhaus Nummer 4 ansteuerte, traten Albertine und Stéphane aus der gläsernen Schwingtür.

»Etienne ist oben«, rief Albertine, während sie den Renault aufschloss. »Geh nur rauf.«

Serge angelte verlegen nach einem Croissant. »Kann ich vielleicht … Also, ich würde viel lieber mit zum Flughafen fahren.«

»Du?«, erkundigte sich Stéphane begriffsstutzig.

Albertine hingegen kapierte sofort. Sie knuffte Serge in die Seite und neckte ihn: »Du hältst es wohl vor Neugier nicht mehr aus.«

Serge verneinte zwar, konnte jedoch nicht verhindern, dass seine Ohren verräterisch glühten.

»Etienne hätte auch ruhig mal seinen Hintern hochkriegen können«, ließ Stéphane sichtlich verstimmt verlauten, aber Albertine machte schon eine einladende Geste und sagte: »Dann mal los, Serge. Wenn Etienne eben nicht will…«

5

Das Flugzeug landete pünktlich auf dem Flughafen Charles de Gaulle.

Trotzdem war Elda schon mit den Nerven fertig, denn genau in dem Moment, in dem das Flugzeug zur Landung angesetzt hatte und bereits durch die Wolken hindurchholperte, war es doch noch passiert. Mit einer hastigen Bewegung hatte der Mann neben ihr die Tüte aus der Lasche des Vordersitzes gezogen, das Gesicht nicht mehr rot, sondern kalkweiß, und unter widerwärtigem Würgen hineingespuckt. Was für ein Auftakt!

Als das Flugzeug endlich ruckartig bremste, wollte Elda bloß noch raus. Egal wie. Egal was sie da draußen erwartete.

Erst als sie am Förderband auf ihren Koffer wartete, fiel ihr wieder ein, weshalb sie eigentlich hier war. Nur wenige Meter von hier entfernt wartete jetzt ihre Familie – statt ihrer Mutter das Walross, statt ihres Vaters der Dürre, dazu noch dieser langhaarige Junge – und sie ärgerte sich plötzlich, dass sie den Nouvels nicht mehr als zwei Briefe geschrieben hatte. Angerufen hatte sie auch nicht. Aus Angst, sich nicht ausdrücken zu können. Jetzt wurde aus der Angst nach und nach Panik.

Vor lauter Nervosität begann sie rückwärts auf Französisch zu zählen: cent, quatre-vingt-dix-neuf, quatre-vingt-dix-huit, quatre-vingt-dix-sept … Da kam er endlich angefahren, ihr funkelnagelneuer Koffer mit dem orangefarbenen Streifen auf der Breitseite. Zu schick für ein 16-jähriges Mädchen, aber bestimmt nicht zu schick für Paris, die Stadt der Mode und der bestgekleideten Frauen der Welt.

Eldas Herz stolperte, als sie nach dem Gepäckstück griff und es unter einigen Mühen auf den Boden wuchtete. Es wurde ernst. Verdammt ernst. Paris war kein Traum mehr, das kam ihr in dem Moment, als sie wie ferngesteuert Richtung Sortie ging, wie ein Paukenschlag zu Bewusstsein. Das Drängeln und Schubsen der Leute war ebenso Realität wie der stickige Dunst, der in dem ganzen Gebäude zu wabern schien.

Menschen, wohin Elda auch sah, eine undefinierbare Masse, in der sie die drei Personen von dem Foto niemals würde ausfindig machen können. Automatisch verlangsamte sich ihr Schritt. Dabei bemerkte sie jedoch nicht, dass es hinter ihr jemand besonders eilig hatte und ihr rücksichtslos seinen Gepäckwagen in die Ferse rammte. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Fuß.

»Au! Verdammt!«

Quasi im selben Moment landete eine Hand auf ihrer Schulter, Elda fuhr herum und sah in das grell geschminkte Gesicht einer wuchtigen Frau, die in einer abenteuerlichen Kombination aus Blumenrock und Blazer steckte.

»Elda … c’est toi?!«, rief sie, indem sie die zweite Silbe des Namens betonte.

»Oui, Madame«, antwortete Elda hölzern.

Alles an der Frau war übertrieben. Ihre Größe, ihr breites Grinsen, vom Make-up ganz zu schweigen. Statt das Rouge dezent zu verwischen hatte sie sich zwei rosarote Apfelbäckchen gemalt, ihr Lippenstift schillerte pink und war zudem mit Gloss übermalt.

Jetzt lachte sie laut auf. »Das Madame lässt du bitte gleich weg!« Zum Glück verstand Elda bisher fast jedes Wort. »Ich heiße Albertine. Und …« Sie zeigte auf den zierlichen Mann an ihrer Seite, der einen piekfeinen Anzug mit Fliege trug: »Das ist Stéphane.«

Elda reichte ihrem neuen Vater die Hand, erst dann fiel ihr Blick auf den Jungen, der nur zwei Schritte von ihnen entfernt stand. Etienne? Auf dem Foto hatte er vollkommen anders ausgesehen – weniger hübsch, weniger freundlich, dafür mit kleinerer Nase –, aber vielleicht war seit der Aufnahme ja einige Zeit vergangen und ihr Bruder hatte sich einfach verändert.

»Darf ich vorstellen?«, schaltete sich jetzt Monsieur Nouvel ein. Seine Stimme war tief und männlich und wollte so gar nicht zu seiner Erscheinung passen. »Das ist Serge.«

Elda sah zwischen Serge und ihren Gasteltern hin und her. In den Briefen hatten die beiden von einem Etienne gesprochen. Oder doch nicht? Langsam begann sie an ihrem Verstand zu zweifeln.

»Hi« Serge streckte ihr die Hand entgegen. »Ich gehöre nicht direkt zur Familie. Eher indirekt.« Er lächelte smart. »Ich bin ein Freund von Etienne.«

Monsieur Nouvel griff inzwischen nach dem Koffer, und während er Elda aus dem Flughafengebäude bugsierte, erklärte Albertine, Etienne habe eine leichte Magenverstimmung und Serge sei daher netterweise eingesprungen. Zur Bestätigung zwinkerte ihr der Junge von der Seite her zu. Er machte einen sympathischen Eindruck; nicht mal der Zinken in seinem Gesicht konnte seinem Charme etwas anhaben.

Unter Madame Nouvels fortwährendem Gebrabbel wurde Elda zwischen parkenden Taxen, Autos und Reisenden hindurch zum Parkhaus geschleust, allerdings verstand sie jetzt nur noch einen Bruchteil dessen, was geredet wurde. Irgendwie ging es um die Sicherheit von Verkehrsmitteln, um das Wetter in Deutschland, dann war Madame Nouvel aus unerfindlichen Gründen plötzlich beim Thema Kurzsichtigkeit. Als sich auch noch Monsieur Nouvel einschaltete, um über die Kunstschätze von Paris zu referieren, schaltete Elda auf Durchzug. Sie fühlte sich auf einmal so erschöpft, als hätte sie drei Tage und Nächte am Stück durchgetanzt.

Endlich waren sie beim Auto, einem heruntergekommenen Renault in Himmelblau. Elda versuchte ihre Überraschung zu verbergen. Ihre Eltern kauften sich in der Regel alle drei bis vier Jahre einen neuen Wagen. Um so eine Schrottkiste, in der es nach Benzin, faulen Äpfeln und verschwitzten Sportklamotten roch, hätten sie sicher einen großen Bogen gemacht.

Madame Nouvel setzte sich ans Steuer, Elda wurde trotz lautstarken Protests auf den Beifahrersitz verfrachtet. So blieb den Männern nichts anderes übrig als sich nach hinten zu quetschen, wo sie erst mal jede Menge Eierkartons, Schokoladenpapier und Werkzeuge beiseite schaufeln mussten, um überhaupt Platz zu finden.

»Ist es weit bis zur Wohnung?«, fragte Elda in fließendem Französisch. Allerdings hatte sie sich für diesen kurzen, einfachen Satz erst minutenlang die Vokabeln zurechtlegen müssen. Das konnte ja heiter werden …

»Eine knappe Stunde. Je nach Verkehrslage.«

Mit der Nase an der Windschutzscheibe fuhr Madame Nouvel aus dem Parkhaus heraus, dann chauffierte sie den Renault rasant durch den Feierabendverkehr. Immer wieder ertappte sich Elda dabei, wie sie auf der Beifahrerseite in die nicht vorhandenen Bremsen ging. Zumal halb Paris mit dem Auto unterwegs zu sein schien. Alle paar Sekunden wurde irgendwo gehupt, unrechtmäßig eingeschert oder zu dicht aufgefahren. Zum Glück war Madame inzwischen verstummt; die Verkehrslage erforderte ihre ganze Konzentration. Was hinten auf der Männerbank geredet wurde, war wegen der laut brummenden Motoren sowieso nicht zu verstehen. Ein-, zweimal drehte sich Elda um und blickte in Serges grinsendes Gesicht. Immerhin einer, der sich über ihre Ankunft zu freuen schien.

Der Renault bahnte sich nur mühsam seinen Weg durch die stinkende, mit Autos verstopfte City. Es dauerte eine gute Stunde, bis sich die Verkehrslage ein wenig beruhigte, doch statt schmucker Altbauten aus der Gründerzeit tauchten jetzt Hochhaussiedlungen auf. Graue Betonklötze, so weit das Auge reichte, ein paar dazwischen gesetzte Sträucher gaben nur eine halbherzige Dekoration ab.

»Wie hässlich …«, sagte Elda mit Blick nach draußen. »Das ist also auch Paris.«

»Ganz genau.« Madame Nouvel schmunzelte in sich hinein. »Und wo wir wohnen, ist es auch nicht viel hübscher. Leider.«

Im Bruchteil einer Sekunde lief Elda knallrot an. Sie war ganz automatisch davon ausgegangen, dass die Nouvels in einer verschnörkelten Stadtvilla irgendwo am Stadtrand wohnten, vielleicht auch in einer großzügigen Altbauwohnung, nicht jedoch in einer Hochhaussiedlung.

Madame Nouvel lächelte amüsiert, woraufhin Elda in ihrem Sitz ein paar Etagen tiefer rutschte und beschämt den Kopf einzog. Serge pfiff auf der Rückbank irgendeine Melodie, ansonsten war nur das Brummen des Motors zu hören. So fuhren sie eine Weile, dann bog Madame Nouvel von der Hauptstraße ab und durchquerte eine trostlose Trabantensiedlung. Danach ging es noch ein paar Mal im Zickzack, bevor sie quietschend in die Bremsen stieg und einen Kantstein hochpolterte.

Eldas Schultern waren inzwischen bis zu den Ohren gewandert, sie wagte kaum nach draußen zu gucken. Zu groß war ihre Angst, dass alles noch hässlicher als in ihrer Vorstellung sein könnte.

»Et voilà!« Monsieur Nouvel klatschte in die Hände, als wolle er seine Mitfahrer antreiben, ein bisschen schneller auszusteigen.

Mit puddingweichen Beinen quälte sich Elda aus dem Renault.

»Tut mir Leid, dass wir dir kein Haus mit Pool bieten können«, bemerkte Madame Nouvel augenzwinkernd, während Serge und ihr Mann den Koffer ausluden.

»Macht nichts«, nuschelte Elda, »und … bitte entschuldigen Sie wegen vorhin.«

Eine Schweißwolke umwehte sie, als Madame Nouvel ihr den Arm um die Schulter legte. »Zum allerletzten Mal: Albertine und du – d’accord?!«

Elda nickte. Monsieur Nouvel umarmte sie ebenfalls. »Siebter Stock.« Er deutete auf den schmutzig-grauen Kasten, der vor ihnen in den Himmel ragte, und fügte beinahe entschuldigend hinzu: »Die Aussicht ist allerdings fantastisch.«

Serge wollte mit ins Haus kommen, doch die wuchtige Frau, die Elda in Gedanken schon mal zur Übung Albertine nannte, sagte hart, aber herzlich: »Wiedersehen, Serge. Bis bald!«

Serge stutzte, blieb jedoch wie auf Kommando stehen und hob die Hand zum Gruß. »Au revoir. Au revoir, Elda.«

Damit drehte er ab und ging tänzelnden Schrittes davon. Albertine marschierte vorneweg zum Hochhaus. Feuchte Kälte schlug ihnen entgegen, als sie das Treppenhaus betraten. Wie selbstverständlich steuerte Albertine den Fahrstuhl an und hupte ungeduldig auf einem der Knöpfe herum.

Elda hasste Fahrstühle, schlimmer, sie flößten ihr Angst ein, doch da sie sich nach dem Fauxpas im Auto nicht gleich wieder zickig anstellen wollte und überdies keine Lust hatte, die sieben Stockwerke nach oben zu stiefeln, folgte sie den Nouvels in den metallenen Käfig. Es roch so heftig nach Schimmel, dass Elda einen Moment der Atem stockte. Die Tür ging surrend zu, und während Stéphane den Koffer auf den Boden sinken ließ – der Fahrstuhl reagierte sofort mit einem bedrohlichen Rucken -, studierte sie die mit Graffiti besprühten Wände. Fiche-moi la paix und Fous le camp, stand dort geschrieben, derbe Slangausdrücke, die sie nicht mal genau hätte übersetzen können. Wo zum Teufel war sie hier gelandet?

Der Fahrstuhl fuhr ruckelnd nach oben, zum Glück öffnete sich die Tür am Ziel sofort wie von Geisterhand, einmal den Gang bis zum Ende entlang, dann standen sie vor einer mit Stoffsonnenblumen dekorierten Tür. Eldas Herz hämmerte laut, als Albertine aufschloss. Wenn die Wohnung nun genauso grässlich wie der Fahrstuhl, der Flur, ja der gesamte Wohnblock war?

»Etienne, wir sind da!«, rief Madame und zu Elda gewandt sagte sie: »Herzlich willkommen!«

Elda betrat nur zögerlich die Wohnung. Ein frischer Blumenstrauß stand auf der Kommode, die Wände leuchteten himmelblau, ansonsten war der Flur so schmal, dass man sich kaum einmal um die eigene Achse drehen konnte. Gentlemanlike nahm Monsieur Nouvel ihr die Jacke ab und hängte sie an die Garderobe, dann schleppte er ihren Koffer gleich in das erste Zimmer links. Seine Frau schubste Elda mit sanftem Druck hinterher.

»Dein Reich, Elda.« Sie drehte sich um die eigene Achse. »Hier kannst du tun und lassen, was du willst.«

»Oui, merci.« Elda sah sich verstohlen um. Das Zimmer hatte nicht mehr als sieben Quadratmeter, wahrscheinlich eher weniger. An der linken Wand stand ein Eisengestellbett mit einer blümchenübersäten Tagesdecke, vor dem Doppelfenster ein roter Plastiktisch, schräg gegenüber ein Holzschrank. Eine Apfelsinenkiste mit Deckchen diente als Tisch, davor befand sich ein grüner Samtsessel, auf dem ihr ein Plüschhase entgegenglotzte.

Albertine zupfte das Deckchen auf der Apfelsinenkiste zurecht.

»Gefällt es dir?«

Krampfhaft bemüht, ihrer Gastmutter nicht in die Augen sehen zu müssen, würgte Elda ein oui hervor. Bestimmt hätte sie ihr die Lüge angesehen und nach der peinlichen Szene im Auto wollte sie die Nouvels auf keinen Fall ein weiteres Mal verletzen. Weil sie nicht wusste, wo sie hinschauen sollte, zählte sie die Blümchen auf der Tapete. Elda hasste Blümchen, zumindest auf Stoffen und an Wänden, jetzt hatte sie Unmengen davon.

»Es gefällt ihr nicht«, zischte Stéphane seiner Frau zu.

»Doch«, log Elda. »Zu Hause habe ich einen … ähnlichen Sessel.« Etwas Plausibleres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen. Dass sie in Deutschland ein richtiges Luxuszimmer von 20 Quadratmetern mit sonnengelben Möbeln, einem iMac, einem eigenen Fernseher plus DVD und einer CD-Anlage hatte, verschwieg sie lieber.

»Etienne, nun komm endlich!«, rief Albertine.

Eine Tür klappte, kurz darauf schlurfte ein langhaariger Junge ins Zimmer, der tatsächlich Ähnlichkeit mit dem Typen auf dem Foto hatte.

»Das ist Elda«, sagte ihre Gastmutter nicht ohne Stolz in der Stimme.

»Tag«, sagte Etienne und reichte Elda schlaff die Hand.

»Hallo, Etienne.«

Im gleichen Moment ließ Etienne seine Hand wieder fallen und drehte den Kopf zur Seite.

»Du könntest ihr vielleicht mal die Wohnung zeigen«, schlug Stéphane vor.

»Keine Zeit.« Schon machte Etienne auf dem Absatz kehrt und schlurfte wieder aus dem Zimmer.

Albertine hob entschuldigend die Schultern. »Das Abitur nächstes Jahr. Weißt du – er hat so viel zu lernen. Und dann die Magenverstimmung …«

Elda nickte zwar verständnisvoll, fand den Auftritt ihres Gastbruders dennoch reichlich daneben. Er hatte nicht mal eine Miene verzogen, geschweige denn gelächelt.

6

Die Tür flog mit einem lauten Knall ins Schloss. Bevor sich Etienne aufs Bett warf, drehte er noch schnell die Anlage auf. Ça plane pour moi!, dröhnte es aus dem Boxen, ça plane pour moi! Immer wenn es ihm dreckig ging, legte er die Vinylplatte, die er mal auf dem Flohmarkt erstanden hatte, auf. Plastic Bertrand, Achtziger-Jahre-Punkrock. Sein Vater, der seinerseits gerne Wagner-Opern auf voller Lautstärke hörte, rastete jedes Mal total aus und hatte den alten Plattenspieler schon etliche Male zum Sperrmüll bringen wollen, aber Etienne -weigerte sich strikt. Genau wie diese Schallplatte war auch der Plattenspieler von historischem Wert, das musste sein Vater, Verfechter der alten und schönen Dinge, doch kapieren. An manchen Tagen veranstalteten die beiden regelrechte Wettbewerbe. Wer dreht am lautesten auf? Wer erträgt den Lärm des anderen am längsten? Meistens musste Albertine den kindischen Querelen ein Ende setzen, indem sie einfach beide Musikanlagen ausstellte.

Elda war da. Der Schreck seiner schlaflosen Nächte. Die reiche Tussi aus Deutschland, die auf dem Foto vor dem hauseigenen Pool posierte. Blond und hübsch. Das war sie auch in natura und allein ihr Koffer machte den Eindruck, als würden ihre Eltern ihr die Kohle nur so in den Hintern schieben. Deshalb hatte er ihr auch nur kurz die Hand hingestreckt und danach sofort den Rückzug angetreten. Nur weil irgendeine Organisation es so bestimmt hatte, dass dieses Mädchen für die nächste Zeit seine Schwester sein sollte, und dafür auch noch Geld kassierte, musste er ja nicht gleich mit ihr einen auf dicke Freundschaft machen. Dass sie nicht sein Fall war, hatte er gleich auf den ersten Blick gemerkt. Etienne’sche Menschenkenntnis. So eine würde sich garantiert nicht zu ihm ins Zimmer setzen und Ça plane pour moi! hören, die stand auf Shoppen gehen und gelackte Popmusik à la Kylie Minogue.

»Etienne, stell sofort die Musik leiser!« Seine Mutter hämmerte schon eine ganze Weile gegen die Tür, und weil Etienne keine Lust auf Streit hatte, gehorchte er, wenn auch murrend.

Kaum hatte er sich in seinen neuen Comic vertieft, klopfte es erneut. Diesmal war es sein Vater, der ohne Etiennes Antwort abzuwarten sofort ins Zimmer platzte und ihm das tragbare Telefon reichte. »Serge.«

Etienne nahm das Telefon, wartete aber, bis sein Vater sich wieder verdünnisiert hatte.

»Was gibt’s, Kumpel?«

»Nichts.« Serge räusperte sich. »Also jedenfalls nichts Besonderes.«

»Falls du wissen willst, ob Elda da ist. Ja, sie ist.«

»Weiß ich doch längst.« Glockenhelles Gekicher drang an Etiennes Ohr. »Ich hab sie mit abgeholt.«

Eine längere Pause entstand. Etienne hielt den Hörer ein paar Zentimeter vom Ohr weg und ließ das eben Gesagte auf sich wirken.

»He, sie ist nett«, sagte Serge. »Und sie sieht richtig gut aus. Sogar hübscher als auf dem Foto.«

»Moment mal… Du warst mit am Flughafen?«

»Ja. Nuschele ich etwa?«

»Bist du noch zu retten?«, ereiferte sich Etienne. »Warum zum Teufel?«

»Das konnte ich mir doch nicht entgehen lassen.« Wieder kicherte Serge auf diese mädchenhafte Art. »Komm! Sei nicht sauer.«

»Ich bin nicht sauer!«, würgte Etienne alles andere als begeistert hervor. Wenn er jetzt Serge gegenübersitzen würde, hätte er ihm wenigstens mit entsprechenden Gesten verklickern können, wie unsagbar bescheuert er diese Aktion fand.

»Ich hab versucht dich anzurufen, aber du bist nicht rangegangen. Pech.« Geknister in der Leitung. »Deine Eltern finden es übrigens auch affig, wie du dich anstellst.«

»Ach ja? Seit wann interessiert dich denn, was meine Alten finden? Mich interessiert nur, was ich finde.«

»Und das wäre?«

Die Tür ging auf und Elda steckte ihren Kopf ins Zimmer. Nur für ein, zwei Sekunden, dann zog sie die Tür sofort wieder hinter sich zu. Im gleichen Moment ging Etienne auf, dass dies ab sofort Realität sein würde. Eine Schwester, die einfach so ins Zimmer platzte. Erst als er später aufgelegt hatte, fiel ihm ein, dass Elda ein flaches Päckchen in rotem Glanzpapier in der Hand gehabt hatte. Vielleicht ein Geschenk für ihn? Grund genug, ein schlechtes Gewissen zu haben, aber Etienne schob den Gedanken einfach beiseite.

7