Der Bergpfarrer 5 – Staffel

Der Bergpfarrer –5–

Staffel

Toni Waidacher

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Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-714-2

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Der Bergpfarrer 5 – Staffel

Wirbel um die Trachtenkönigin

Roman von Toni Waidacher

Die Sonne war gerade aufgegangen, als Sebastian Trenker das Pfarrhaus verließ. Es war einer jener herrlichen Sommertage, an denen sich der gute Hirte von St. Johann gerne früh auf den Weg machte, um eine seiner geliebten Bergtouren zu unternehmen.

Wie immer hatte Sophie Tappert den Rucksack des Geistlichen gut bestückt, denn die Perle des Pfarrhaushalts hatte jedesmal eine fürchterliche Angst, daß sich Hochwürden auf einer seiner Wanderungen verirren und dabei verhungern könne. Dabei war diese Furcht völlig unbegründet, schließlich nannte man Sebstian nicht umsonst den »Bergpfarrer«. Wie kein zweiter kannte er sich dort oben aus, und bisher war er immer noch heil von seinen Touren zurückgekehrt.

Der Seelsorger schritt kräftig aus. In dem Dorf schliefen die meisten Menschen wohl noch, nur auf den Höfen ringsum wurde schon fleißig gearbeitet.

Auch auf den Almen waren die Senner und Sennerinnen schon damit beschäftigt, die Kühe und Ziegen aus den Ställen und Pferchen zu lassen, damit sie sich an den würzigen Gräsern und Wildkräutern sattfressen konnten. Dieses gesunde und natürliche Futter wirkte sich auf den Geschmack der Milch aus, aus der die Almenbewohner einen unvergleichlich guten Bergkäse machten.

Pfarrer Trenker war eine gute Stunde unterwegs, als er den Bauernhof der Familie Kronsberger vor sich liegen sah. Schon lange hatte er dort keinen Besuch mehr gemacht. Als er sich dem Anwesen näherte, bemerkte er eine Gestalt in der offenen Stalltür, die ihm bekannt vorkam. Beim näheren Hinsehen entpuppte sie sich als Dr. Elena Wiesinger, die junge Tierärztin von St. Johann.

»Servus, Elena, was machen S’ denn schon hier, in aller Herrgottsfrüh’?« rief er ihr zu.

»Ach, Hochwürden, fragen S’ besser net«, lachte die attraktive Frau. »Ich wär’ liebend gern noch ein bissel im Bett geblieben. Aber leider – wenn’s Vieh krank wird, dann muß unsereiner genauso früh heraus, wie Sie, wenn S’ Ihre Bergtouren machen.«

Erst jetzt sah Sebastian, daß noch eine weitere Person im Stall war. Valerie Thalbacher, die junge Praktikantin der Tierärztin packte eben die schwarze Tasche zusammen.

»Grüß dich, Valerie. Du auch schon auf den Beinen? Ich hab’ gedacht, du bereitest dich auf den Wettbewerb vor.«

»Das tu’ ich auch, Hochwürden«, antwortete das Madel. »Aber bis zum Wochenend sind’s ja noch ein paar Tage.«

St. Johann rüstete sich zum zweiten Mal für das Fest der Trachtenkönigin. Als Markus Bruckner, der Bürgermeister, im letzten Jahr die Idee dazu hatte, wurde die Veranstaltung so ein großer Erfolg, daß es gar keine Frage war, sie zu wiederholen. Die hübsche Tochter des Thalbacherbauern rechnete sich gute Chancen aus, in diesem Jahr zur Trachtenkönigin gewählt zu werden. Zur Zeit machte sie ein Praktikum in Elenas Praxis. Schon von Kindesbeinen an war es Valeries größter Wunsch, Tierärztin zu werden.

Auch Pfarrer Trenker glaubte, daß das Madel St. Johann als Trachtenkönigin gut repräsentieren würde und zählte es zum Kreis der Favoritinnen. Der Geistliche gehörte, wie weitere Honorationen des Alpendorfes, zum Festausschuß und der Jury an, die die Wahl entschieden.

»Was gibt’s denn hier für Probleme?« erkundigte sich Sebastian.

Die Frau des Dorfarztes, Toni Wiesinger, winkte ab.

»Halb so wild, Hochwürden«, erwiderte sie. »Eine von den Kronsberger Kühen soll bald kalben. Allerdings scheint sie was gefressen zu haben, das ihr net bekommen ist. Seit gestern abend liegt sie im Stroh, und in der Nacht sind Krämpfe hinzugekommen. So schlimm, daß der Bauer mich gleich heut’ in der Früh aus dem Bett geklingelt hat.

Die Valerie hat heut’ nacht bei uns geschlafen, nachdem es gestern wieder mal zu spät geworden ist, als daß sie noch hätt’ nach Haus’ fahren können.

Na ja, jetzt ist die Kuh versorgt, und wir fahren zurück und frühstücken erst einmal in aller Ruhe, bevor die Praxis geöffnet wird.«

Vinzent Kronsberger, der Bauer, war hinzugekommen und begrüßte den Geistlichen. Die Männer wechselten ein paar Worte miteinander, bevor sich Sebastian wieder auf den Weg machte.

Die Tierärztin und ihre Praktikantin winkten ihm nach. Während der Seelsorger weiter aufstieg, packten sie ihre Sachen in den Wagen und fuhren zum Dorf zurück.

*

Im Haus des Arztes herrschte noch vollkommene Ruhe, als Elena und Valerie dort eintrafen. Dr. Wiesinger schlief ebenso noch, wie der zweite Gast des Hauses, der junge Martin Hofbauer. Aus dem Zimmer im obersten Stock war jedenfalls kein Geräusch zu vernehmen.

Martin, ein junger Arzt, hatte sich nach seinem abgeschlossenen Medizinstudium um eine Praktikantenstelle in Dr. Wiesingers Praxis beworben. Hier wollte er weitere Erfahrungen sammeln, bevor er daran denken konnte, eine Doktorarbeit zu schreiben. Sein Wunschtraum war es, eines Tages so eine Landarztpraxis zu übernehmen, wie Toni Wiesinger sie führte.

Elena und Valerie hatten beim Bäckermeister Terzing angehalten. Zwar war das Geschäft noch nicht geöffnet, aber hinten an der Backstube hatte die junge Tierärztin schon öfter in den Morgenstunden geklopft, wenn sie von einem frühen Notfalleinsatz zurückkam. Jetzt verbreiteten frische Semmeln, die noch ganz heiß waren, ihren Duft durch die ganze Wohnung. Dazu gesellte sich das Aroma von frisch gebrühtem Kaffee. Auf dem Tisch im Eßzimmer standen leckerer Aufschnitt, Marmelade und Honig und selbstverständlich fehlte ein großes Stück Bergkäse nicht.

Elena schaute auf die Uhr.

»So langsam könnten s’ jetzt aber aufsteh’n«, sagte sie, als oben schon eine Tür klappte.

»Guten Morgen zusammen«, sagte Martin Hofbauer, als er die Treppe heruntergekommen war. »Seid ihr etwa schon unterwegs gewesen? Dann hab’ ich mich doch net verhört. Erst hab’ ich gedacht, ich hätt’ geträumt.«

»Von wegen«, schmunzelte die Tierärztin. »Als Sie noch selig schlummerten, sind wir beide schon zum Kronsbergerhof hinauf und haben einer Kuh das Leben gerettet.«

»Da sehen S’, Martin, wie selbstlos meine Frau ist«, ließ sich Dr. Wiesinger vernehmen.

Der Arzt war eben aus dem Schlafzimmer gekommen und hatte Elenas letzten Satz mitgehört. Er begrüßte seine Frau mit einem Kuß.

»Na, dann ist die Hausgemeinschaft ja versammelt«, stellte er fest. »Laßt uns schön frühstücken, bevor der Streß anfängt.«

Er wandte sich an Martin Hofbauer.

»Wenn ich mich net täusch’, dann haben wir heut’ einen übervollen Terminkalender.«

Der junge Arzt schmunzelte.

»Dann haben mich die Dörfler, wie’s scheint, wohl doch akzeptiert.«

Als Toni Wiesinger seinerzeit die Praxis des verstorbenen Dorfarztes übernahm, hatte er einige Kämpfe auszustehen, ehe die Leute aus St. Johann und der Umgebung ihm das Vertrauen schenkten, das er heute genoß. Sie waren der Meinung, jemand, der nicht mindestens fünfzig Jahre auf dem Buckel hatte, könne kein richtiger Arzt sein und verstünde nichts von seinem Handwerk. Toni Wiesinger war ihnen offenbar zu jung. Es bedurfte vieler Reden, vor allem auch durch Pfarrer Trenker, bevor der Warteraum in der Praxis wieder voller Patienten war.

Ähnliche Erfahrungen hatte auch Martin Hofbauer machen müssen, der, weil er keinen Doktortitel führte, in den Ruf kam, gar kein richtiger Arzt zu sein. Sein älterer Kollege leistete viel Überzeugungsarbeit, bevor ihm geglaubt wurde, daß zur Ausübung des Arztberufes ein Doktortitel nicht zwingend notwendig sei.

Nach dem ausgiebigen Frühstück, das von fröhlichen Gesprächen begleitet wurde, gingen Elena Wiesinger und Valerie Thalbacher in die Praxis der Tierärztin hinüber. Elena hatte früher in der Forschungsabteilung einer großen Münchener Tierklinik gearbeitet, bevor sie in St. Johann die Nachfolge von Clemens Hardlinger antrat, der nach mehr als vierzig Jahren in den wohlverdienten Ruhestand wollte.

Hier lernte die Tierärztin auch ihr persönliches Glück in Gestalt von Toni Wiesinger kennen. Als die beiden sich vor dem Traualtar das Jawort gaben, war es der schönste Tag in ihrem Leben.

Valerie machte sich gleich an ihre tägliche Arbeit und kümmerte sich um die Tiere, die in der Praxis behandelt worden waren und meistens ein, zwei Tage dablieben, um den Fortschritt der Genesung zu beobachten. Das junge Madel fütterte und tränkte sie, säuberte ihre Unterkünfte und fand dabei für jedes seiner Schützlinge ein liebes Wort.

Die Bauerntochter liebte Tiere über alles, und nichts konnte sie von dem Gedanken abbringen, eines Tages als Tierärztin eine eigene Praxis zu eröffnen. Am liebsten zusammen mit Marius, ihrem Freund, den sie auf dem Gymnasium kennen- und liebengelernt hatte. Dr. Leitner, der Kreistierarzt, war von der Wahl seines Sohnes begeistert. Die junge Valerie Thalbacher wurde ihm die Tochter, die er sich immer gewünscht, aber nie bekommen hatte. Schon bald ging das Madel im Haus der Familie Leitner ein und aus, und wenn die beiden auch nicht offiziell verlobt waren, so galten sie doch als Paar, das eines Tages heiraten würde.

Der Vormittag verlief weniger hektisch als befürchtet. Zwei Hunde wurden wegen Tollwut geimpft, ein kleiner Kater, erst ein paar Wochen alt, machte eine erste Bekanntschaft mit einer Tierärztin, und ein Meerschweinchen wurde behandelt, das seit ein paar Tagen das Fressen verweigerte.

Ihnen allen wurde schnell geholfen, und kurz vor der Mittagspause fanden Elena und Valerie noch Zeit für einen kleinen Plausch.

»Bist wohl schon sehr gespannt auf den Wettstreit um die Krone der Trachtenkönigin, was?« erkundigte sich die Tierärztin.

»Ja, wenn ich dran denk’, dann kann ich kaum noch schlafen«, gab das Madel zu. »Es wär’ schon toll, wenn’s mich treffen tät’.«

»Hm, meinst denn, daß du dann noch Zeit für dein Studium hättest? Schließlich sind mit dem Titel auch einige Verpflichtungen verbunden.«

Die Trachtenkönigin sollte ihre Heimat repräsentieren, dazu waren Reisen und Auftritt in Funk und Fernsehen verbunden, ebenso auf Messen und ähnlichen Veranstaltungen. Besonders in den ersten drei, vier Monaten würde es ein voller Terminkalender sein.

»Ich weiß«, nickte Valerie. »Ich hab’s mir gut überlegt und denk’, es wird schon noch alles passen.«

»Und was sagt dein Marius dazu?«

Das Madel schmunzelte.

»Das weiß er selbst net genau. Auf der einen Seite wär’ er mächtig stolz auf mich. Andererseits ist er sehr eifersüchtig. Un das wird net besser, wenn ich die Wahl gewinn’. Vor allem, weil wir uns dann nur wenig seh’n können. Das weiß er, aber er drückt mir trotzdem die Daumen.«

Valerie strich sich eine blonde Locke aus der Stirn.

Daß der Marius eifersüchtig ist, kann ich sogar versteh’n, dachte Elena Wiesinger. Wenn man so ein hübsches Madel zur Freundin hat, dann paßt man eben schon auf wie ein Schießhund, wenn die and’ren Burschen schau’n.

Allerdings schien diese Eifersucht unbegründet. Elena kannte die Lebenspläne der beiden jungen Leute, die heute schon wußten, daß sie für immer zusammenbleiben und eines Tages die Praxis von Marius’ Vater übernehmen wollten.

*

Sebastian Trenker kehrte von seiner Bergtour heim. Trotz eines vollen Terminkalenders hatte er sich heute die Zeit genommen, einen Besuch auf der Spitzer-Alm zu machen. Im Augenblick war es einfach wie verhext! Eine Sitzung jagte die andere, und während einer Besprechung war man in Gedanken schon bei der nächsten. Da kamen die geliebten Streifzüge des Geistlichen natürlich viel zu kurz. Dabei gab es für ihn nichts Schöneres, als auf einer Almhöhe zu sitzen, die Schönheiten der Natur zu betrachten und mit seinem Herrgott Zwiesprache zu halten. Schon so manches Problem hatte der gute Hirte von St. Johann lösen können, wenn er in der Ruhe und Einsamkeit der Berge darüber nachdachte.

Sophie Tappert, seine Haushälterin, hatte Kaffee gekocht und hielt ihn in einer Thermoskanne bereit. Sie wußte, daß Hochwürden heute nachmittag wenig Zeit haben würde. Darum sollte alles fertig sein, wenn er von seiner Tour nach Hause kam. Sie schnitt gerade den Napfkuchen an, den sie am Morgen gebacken hatte, als sie Schritte im Flur hörte.

»Ach, das ist schön«, freute sich Sebastian, als Sophie Tappert ihm den Kaffee einschenkte. »Nach solch einer Wanderung ist ein starker Kaffee eine wahre Wohltat.«

Trotz der Sitzung des Festausschusses, die gleich beginnen sollte, nahm sich der Geistliche die Zeit, seinen Kaffee in Ruhe auszutrinken. Erfrischt ging er ins Wirtshaus hinüber. Im Jagdzimmer des »Löwen« fand das Treffen statt.

Neben Sebastian, Markus Bruckner und Dr. Wiesinger, gehörten auch der Kaufmann, Ignaz Herrnbacher, Bäckermeister Terzing und der Apotheker, Hubert Mayr dazu. Diese sechs planten den Ablauf der Veranstaltung und würden später darüber entscheiden, welchem Madel die Krone der Trachtenkönigin zustand.

Dafür reichte es nicht alleine aus, daß die Bewerberin hübsch war. Witz und Geist waren ebenso Voraussetzung. Die Teilnehmerinnen wurden einer strengen Prüfung unterzogen, in der sie Fragen über ihre Heimat beantworten mußten. Natürlich sollten sie auch etwas von der Landwirtschaft verstehen, sich mit den Tieren auskennen, die in den Alpen zu Hause waren, und schließlich mußten sie erklären können, wie ein guter Bergkäse gemacht wurde.

Von großer Wichtigkeit war natürlich auch die Tracht, in denen die Madeln auftraten. In vielen Familien waren noch die schönen alten Trachtenkleider vorhanden, die meist schon die Großmütter, oder gar Urgroß-mütter getragen hatten. Oft besaßen sie auch noch den alten Familienschmuck, aus schwerem Silber, der von der Mutter auf die Tochter vererbt wurde.

Das Madel, das hier etwas vorzeigen konnte, hatte schon viele Pluspunkte auf seinem Konto.

Der Bruckner-Markus hatte die anwesenden Mitglieder des Festausschusses begrüßt und eröffnete die Sitzung. Der Bürgermeister von St. Johann zog die Stirn kraus, als er das Wort ergriff.

»Der Meldeschluß für die Teilnahme an dem Wettstreit war heut’ mittag um dreizehn Uhr«, erklärte er. »Die genaue Teilnehmerzahl steht nun fest. Insgesamt drei Madeln bewerben sich um die Krone der Trachtenkönigin.«

Er schaute in die Runde.

»Das erscheint mir ein bissel wenig«, fuhr er dann fort. »Ich beantrage daher, die Meldefrist um zwei Tag’ zu verlängern.«

Sebastian meldete sich zu Wort.

»Diesem Antrag kann ich net zustimmen«, sagte er. »Bis zum Wochenend sind’s ohnehin nur noch drei Tage. Wann willst denn da mit den Prüfungen für die Kandidatinnen beginnen? Etwa am Samstag morgen?«

Markus sah ihn mit finsterer Miene an. Natürlich wieder mal, Hochwürden, der querschießen mußte!

»Aber überlegt doch mal, Leute«, wagte er einzuwenden. »Drei Madeln – da lohnt doch der ganze Aufwand net!«

Ein paar der Anwesenden stimmten ihm zu. Doch Pfarrer Trenker ergriff erneut das Wort.

»Ich weiß, was hinter deiner Absicht steckt, Bürgermeister«, sprach er ganz offen. »Du befürchtest, daß deine Bemühungen, unser Trachtenfest in aller Welt bekannt zu machen, scheitern, wenn die Radiosender und Fernsehstationen erfahren, daß es nur ein kleiner Rahmen ist, in dem die Veranstaltung stattfindet. Du weißt, daß ich von dem ganzen Rummel sowieso nix halte. Die Wahl der Trachtenkönigin soll in erster Linie etwas für die Menschen, die hier leben, sein. Wenn ein paar Touristen dabei sind, dann ist das eine schöne Abwechslung für sie, aber zehn- oder gar fünfzehntausend Menschen, wie sie jedes Jahr in die Lüneburger Heide einfallen, wenn dort die Heidekönigin gewählt wird, die sind einfach zuviel für uns. Dafür reicht weder das Angebot an Betten, noch an sonstigem, wie zum Beispiel sanitären Anlagen, nicht aus.

Erinnert euch bloß an das Chaos, das damals der Brandhuber ausgelöst hat. Dann wißt ihr wovon ich sprech’.«

Alois Brandhuber, der selbsternannte Wunderheiler von St. Johann, hatte vor einiger Zeit durch eine angebliche Engelserscheinung, die er geschickt in Szene setzte, eine wahre Invasion von Heilungssuchenden ausgelöst. Ganze Busladungen waren in den kleinen Ort gekommen, um von dem »Wunder« zu profitieren.

Die einzigen, die dabei ihr Geschäft gemacht hatten, waren neben dem Brandhuber-Loisl, natürlich auch der Kaufmann, Bäcker und Metzger. Von den Gastwirten der Hotels und Pensionen ganz zu schweigen. Dennoch erinnerten sich die meisten mit Grausen an diese verrückten Tage.

Jetzt nickten die Mitglieder des Festausschusses Sebastian beifällig zu. Ein solches Chaos wollten sie alle nicht noch mal erleben.

Es wurde schnell abgestimmt, und Markus Bruckner war der einzige, der für seinen Vorschlag die Hand hob.

Schnell wurden ein paar andere Formalitäten besprochen, dann löste sich die Versammlung auf. Zufrieden ging Pfarrer Trenker nach Hause. Natürlich konnte er den Bürgermeister verstehen. Markus’ Bemühungen für das Dorf zielten immer darauf, mehr für den Tourismus zu tun, und St. Johann auch außerhalb Bayerns bekanntzumachen. Doch leider schoß er meistens dabei über das Ziel hinaus. Sebastian sah sich oft gezwungen, den Bruckner-Markus zu bremsen. Heute war es ihm leicht gefallen. Drei Madeln, die sich um die Krone der Trachtenkönigin bewarben, waren Teilnehmerinnen genug. Schließlich sollte der Wettbewerb eine kleine, attraktive Veranstaltung bleiben, die erst noch an Tradition gewinnen mußte. In einigen Jahren hatte man mehr Erfahrung gesammelt, und dann würde man es vielleicht größer aufziehen.

*

»Servus, Spatzl«, begrüßte Marius Leitner das Madel und reichte ihm den zweiten Helm.

Valerie gab ihm einen Kuß und hockte sich auf den Sozius des Motorrades. Sie fuhren auf dem direkten Weg zum Thalbacherhof hinauf. Die Bauerntochter hatte ihr Praktikum in der Tierarztpraxis beendet. Jetzt wollte sie sich auf das kommende Wochenende vorbereiten. Burgl Thalbacher hatte bereits das alte Trachtenkleid aus der Kiste vom Dachboden geholt und zum Lüften nach draußen gehängt. Valerie fiel ihrer Mutter um den Hals.

»Toll, daß du’s aufbewahrt hast«, freute sie sich.

Das Kleid war dunkelgrün, mit roten Borden und Zierstickereien. Dazu gehörte eine weiße Schürze. Die Bäuerin strich über den Stoff und glättete ihn.

»Das hat schon meine Mutter getragen. So etwas gibt man ja net einfach in die Altkleidersammlung.«

Marius betrachtete das Kleid etwas kritischer. Für seinen Geschmack war es viel zu weit ausgeschnitten. Wenn er sich vorstellte, daß seine Valerie es trug, und die Burschen dann große Augen machten…

»Da kommt ja noch ein Tuch um den Hals«, beruhigte das Madel ihn. »Dann sieht man nix mehr. Aber schön ist’s doch, oder?«

Der Sohn des Kreistierarztes nickte, machte aber nicht gerade ein glückliches Gesicht. Das Madel nahm ihn beim Arm. Valerie wußte, was ihn bedrückte – bis zum Trachtenfest würden sie sich kaum noch sehen können. Und danach…?

»Komm, wir geh’n ein paar Schritte«, schlug sie vor.

Sie liefen hinter der großen Scheune einen Feldweg entlang. Der Acker war inzwischen abgeerntet und konnte sich erholen. Die beiden jungen Leute spazierten über den Weg zum Berghang, wo sie sich auf einen großen Felsstein niederließen.

»Mußt wirklich bei diesem Wettstreit mitmachen?« fragte Marius, immer noch bekümmert.

Seine Miene ließ erahnen, was er davon hielt. Valerie legte ihren Arm um seinen Hals.

»Ach, Liebster, du weißt doch, wie wichtig mir das ist. Und, was ist denn schon dabei? Es ist doch nix Unanständiges, wenn sogar Pfarrer Trenker in der Jury sitzt.«

»Das mein’ ich auch net«, gab er zurück. »Aber, du gewinnst bestimmt, und dann werden wir uns noch viel weniger sehen können, als jetzt.«

»Das will ich hoffen, daß ich gewinn«, lachte das Madel. »Aber du hast natürlich recht – wir werden uns zumindest in den ersten Wochen gar net seh’n. Ich hab’ neulich mit Ines gesprochen. Sie hat erzählt, daß sie gleich nach der Wahl nach Frankreich geflogen ist, zu einem Besuch der Partnergemeinde von Sankt Johann.«

Ines Kobler war die erste Trachtenkönigin des kleinen Alpendorfes.

»Das ist’s ja, wovon ich red«, begehrte Marius auf. »Du bist in aller Welt, und ich hock’ hier und wart’ auf dich. Und ich weiß net einmal, was du so treibst.«

Valerie schüttelte den Kopf.

»Ach, du mit deiner Eifersucht! Du weißt genau, daß du dazu überhaupt keinen Grund hast. Es bedeutet mir eben viel, an der Wahl teilzunehmen und auch zu gewinnen.«

Der junge Bursche drehte sich heftig um.

»Und, was ist mit uns?« rief er erregt. »Was ist mit uns’rem gemeinsamen Studium, der Praxis von meinem Vater in der wir beide später einsteigen können? Ist dir das alles egal geworden?«

»Nein, natürlich net«, antwortete Valerie und strich ihm zärtlich über das Haar. »Das ist mir immer noch wichtig, und wenn das Jahr um ist, fang ich eben dann mit dem Studium an. Schön, da bin ich eben auch erst später fertig. Aber ein Jahr, mein Gott, was ist das schon?«

Sie schaute ihm ins Gesicht.

»Komm, Marius, sei wieder gut«, bat sie. »Ich versprech’ dir auch, daß ich in diesem Jahr ganz brav sein werd’, und and’re schau’ ich sowieso net an.«

Er schien einigermaßen versöhnt, und als er sich später verabschiedete, versprach er sogar, ihr am Samstag die Daumen zu drücken. Dennoch konnte sich Marius Leitner eines unguten Gefühls nicht erwehren, als er vom Thalbacherhof fuhr. Auch wenn er es nicht wollte – ihm drängte sich der Gedanke auf, daß die Veranstaltung eine Gefahr für seine Beziehung zu Valerie bedeuten könne.

Dennoch sah er ein, daß er ihr, wenn er sie liebte, ihren Willen lassen mußte.

*

Niklas Fechner öffnete die Haustür und steckte vorsichtig seinen Kopf nach draußen. Aufmerksam beobachtete er die Straße und atmete erleichtert auf. Die Luft schien rein zu sein. Mit schnellen Schritten eilte er zu seinem Wagen. Er wollte gerade aufschließen, als er von drei Männern umringt wurde. Der Autoschlüssel fiel klirrend zu Boden.

»Servus, Niklas«, sprach einer der Männer ihn an. »Wie geht’s denn immer?«

Der junge Fotograf grinste schief.

»Hallo, Toni. Danke der Nachfrage.«

Toni Angerer sah ihn ebenso finster an wie seine beiden Begleiter. Niklas kannte sie nur flüchtig, wußte aber, daß sie gefürchtete Schlägertypen waren.

»Du weißt, warum wir hier sind?« fragte Toni, der der Anführer der kleinen Gruppe war. »Der Wolfgang wartet net gern’ auf sein Geld, und du schuldest ihm net gerad wenig!«

Niklas hob die Schulter.

»Ich weiß«, antwortete er. »Aber, im Moment – ich bin grad nicht gut bei Kasse.«

Der Angerer-Toni lachte auf, seine beiden Kumpane stimmten dröhnend ein.

»Ach, Niklas, gut bei Kasse warst doch noch nie. Deshalb hast ja Schulden bis über beide Ohren. Nur, Wettschulden, sind Ehrenschulden, und wenn’s um seine Ehre geht, da versteht der Wolfgang überhaupt keinen Spaß net!«

Er packte den Fotografen und drückte ihn gegen dessen Auto. Es war ein schwarzer Sportflitzer, mit vielen PS unter der Haube. Natürlich war der Wagen auch noch nicht bezahlt, aber deswegen hatten die drei Männer Niklas Fechner nicht aufgelauert.

Sie waren im Auftrag von Wolfgang Blessinger gekommen, einer zwielichtigen Gestalt der Münchener Halbwelt. Niklas hatte den reichen Barbesitzer vor gut zwei Jahren kennengelernt, als ein Freund ihn in den Kreis einführte, der nächtelang, bis in die frühen Morgenstunden, verbotenen Glücksspielen frönte. Von da ab stand der Fotograf bei Blessinger in der Kreide. Zuerst gab er ihm bereitwillig Kredit, doch als Niklas sich immer tiefer in die Misere hineingeritten hatte, legte der angebliche Freund ihm die Knebel an.

Es war nicht das erste Mal, daß der Barbesitzer ihm die Geldeintreiber ins Haus schickte – deshalb hatte der Fotograf auch zuerst so vorsichtig aus der Tür geschaut –, aber bisher war es ihm immer wieder gelungen, sie mit Ausreden hinzuhalten und abzuwimmeln.

Doch diesmal schienen sie ernst zu machen.

Toni Angerer hob die Faust und schlug sie Niklas ins Gesicht. Für einen Moment schloß er die Augen, unfähig, sie vor Schmerzen und Tränen zu öffnen. Als der andere ihn losließ, rutschte der Fotograf an seinem Auto herunter und sackte zu Boden. Es folgte ein Tritt, dann rissen ihn starke Fäuste brutal wieder hoch.

»Bitte, hört auf. Ich zahle ja…«

Der Anführer der Schlägerbande grinste.

»Das hört sich gut an, Niklas. Du schuldest dem Wolfgang genau achttausendvierhundert Euro. Hast es bei dir?«

»Nein, natürlich nicht«, stöhnte er und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Aber ich hab’ einen Auftrag, der bringt eine Menge ein. Spätestens Dienstag zahl’ ich eine große Rate. Ich versprech’s!«

Der Anführer der Geldeintreiber überlegte. Der Chef hatte gesagt, sie sollten dem Fotografen ein bissel Dampf machen, damit er endlich zahlte. Wenn das mit dem Auftrag stimmte, dann durften sie ihm nicht zu sehr zusetzen. Womöglich würde er dann im Krankenhaus landen und nicht arbeiten können. Damit wäre der Chef bestimmt nicht einverstanden.

»Also gut«, sagte er. »Eine letzte Galgenfrist geb’ ich dir. Wenn das Geld net bis Mittwoch, Punkt zwölf, beim Wolfgang ist, dann kommen wir wieder. Und dann wird’s schlimm für dich…«

Dabei sah er ihm drohend ins Gesicht, daß Niklas Fechner ­unwillkürlich zusammenzuckte, weil er glaubte, der andere wollte noch einmal zuschlagen. Doch Toni Angerer winkte seinen Kumpanen zu, und sie zogen von dannen.

Niklas holte tief Luft. Das war gerade noch einmal gutgegangen. Er betrachtete sein Gesicht im Außenspiegel. Unter dem rechten Auge war eine leichte Schwellung, aber das würde noch gar nichts sein gegen das, was sie ihm antun würden, wenn er bis Mittwoch das Geld nicht gezahlt hatte.

Und er hatte keinen blassen Schimmer, woher er es nehmen sollte, denn natürlich war das mit dem Auftrag gelogen.

Noch vor ein paar Jahren hatte seine Karriere einen glänzenden Start gehabt. Die Fotos von Niklas Fechner gingen um die Welt, kaum eine Zeitung und Illustrierte, die seine Bilder nicht abdruckte. Doch dann stieg ihm der Ruhm zu Kopf. Geld, Champagner, Frauen – das war die Welt, in der er lebte. Hinzu gesellte sich seine Spielsucht und Wettleidenschaft, die ihn immer tiefer in den Sumpf ritt.

Niklas hatte sich in seinen Wagen gesetzt. Neben ihm lag seine Fotoausrüstung, das einzige Wertvolle, das ihm aus seinen Glanztagen noch geblieben war. Inzwischen mußte er um jeden Auftrag kämpfen und hielt sich mit mehr oder weniger billigen Fotos, von leicht bekleideten Frauen, über Wasser.

Er überlegte krampfhaft, wie er aus dieser Geschichte wieder heil herauskam. Es half nichts – ein Auftrag mußte her! Jetzt konnte eigentlich nur noch Angela helfen.

Er probierte, ob sein Handy noch funktionierte. Das tat es zum Glück, obwohl er die letzte Rechnung noch nicht überwiesen hatte. Schnell wählte er die Nummer der Redaktion der Zeitschrift, für die Angela Sommer arbeitete.

»Hallo, ich bin’s«, meldete sich Niklas. »Hast du was für mich?«

Die Chefredakteurin schob ihm hin und wieder einen Auftrag zu, er kannte sie aus besseren Tagen, und irgendwie hatte sie einen Narren an ihm gefressen.

»Du hast Glück, Niklas«, vernahm er erleichtert die Antwort. »Eigentlich wollt’ ich’s selbst machen, aber ich muß heut’ noch nach New York.«

»Okay, was ist’s denn?«

Staunend vernahm er, daß er sofort nach St. Johann fahren solle, um dort Fotos von der Wahl einer Trachtenkönigin zu machen. Auch das noch, ging es ihm durch den Kopf. Aber immerhin, besser, als gar nichts. Und das Honorar ging in Ordnung. Besonders, als Angela sagte, er könne sich einen Vorschuß abholen. Den hatte er auch bitter nötig, denn weiter als bis zum Verlagsgebäude würde das Benzin im Tank kaum noch reichen.

Am späten Vormittag verließ der Fotograf München in Richtung Berge. Voller Wehmut dachte er daran, daß er früher mehr als einmal im Jahr nach New York geflogen war, und jetzt war er auf dem Weg in ein Alpendorf, um irgend so eine einfältige Almschönheit abzulichten!

Ärgerlich trat er auf das Gaspedal und raste los.

*

Max Trenker hob schnuppernd die Nase. Ein köstlicher Duft nach gegrilltem Geflügel erfüllte die Küche des Pfarrhauses. Sophie Tappert stand am Herd und schöpfte von dem abgetropften Fett immer wieder etwas über die beiden Hähnchen, die in der breiten Kasserolle lagen und vor sich hin schmurgelten.

»Das riecht ja einfach lecker«, stellte der Polizist fest. »Hoffentlich reicht’s auch für alle.«

Die Haushälterin seines Bruders sah ihn mit schiefem Blick an.

»Haben S’ schon mal zu wenig auf dem Teller gehabt?« fragte sie spitz.

»Nein, natürlich net«, beeilte sich Max zu versichern. »Aber, wo doch die Claudia heut’ auch da ist…«

Die Pfarrköchin schob die Kasserolle in den Backofen zurück und klappte die Tür zu.

»Die beiden Hendl wiegen zusammen vier Pfund«, erklärte sie. »Das reicht für mindestens sechs Personen.«

»Ja«, lachte Max. »Aber net bei meinem Appetit.«

Sophie Tappert blickte ihn jetzt sehr ernst an.

»An den hab’ ich schon gedacht und die Beilagen entsprechend vorbereitet. Sie werden bestimmt satt sein.«

Max schielte über ihre Schulter zum Tisch, auf dem vier Dessertschalen bereit standen.

»Und was gibt’s zum Nachttisch?« wollte er wissen.

Die Haushälterin lächelte. Dieses Fragespiel war nichts Neues. Hochwürdens Bruder und sie neckten sich ab und zu, wenn es um die Belange des Essens ging. Aber bisher war es nicht vorgekommen, daß Max Trenker enttäuscht gewesen wäre. Im Gegenteil, er war den Kochkünsten der Haushälterin vollkommen verfallen, daß er sich schon oft die bange Frage stellte, wie es wohl sein würde, wenn er eines Tages einen eigenen Hausstand gegründet hatte, und seine Frau dann in der Küche das Zepter schwang.

Vielleicht hatte er es deswegen so lange hinausgeschoben, sich fest zu binden. Bis er Claudia Bachinger kennenlernte, stand der fesche Max nämlich in dem Ruf, der größte Herzensbrecher des ganzen Wachnertales zu sein. Inzwischen hatte er sich um hundertachtzig Grad gedreht, außer Claudia schaute er kein Madel mehr an.

»Eine Mandelcreme mit Himbeermark«, beantwortete Sophie seine Frage.

Der junge Polizeibeamte schloß entzückt die Augen.

»Frau Tappert, ich könnt’ Sie vom Fleck weg heiraten!«

»Na, nun übertreiben S’ mal net«, lachte die Haushälterin. »Aber, das mit dem Heiraten ist keine schlechte Idee. Hochwürden wäre bestimmt erleichtert, wenn er Sie unter der Haube wüßte. Allerdings sind S’ mit der Claudia besser bedient, als mit mir.«

Sie schaute auf die Uhr.

»Wo bleibt sie überhaupt? Wollt’ sie net schon längst hier sein? Die Hendl sind nämlich bald fertig, und wenn ich sie warmhalten müßt’, wär’s jammerschad’. Dann schmeckt’s nur noch halb so gut.«

»Stimmt«, nickte Max. »Ich werd’ versuchen, sie auf ihrem Handy zu erreichen.«

Er ging in das Arbeitszimmer seines Bruders, um von dort aus zu telefonieren, während Sophie Tappert sich daran machte, den Tisch im Eßzimmer zu decken.

Sebastian kam von der Kirche herüber. Zusammen mit dem

Mesner, Alois Kammerer, hatte er besprochen, wie das Gotteshaus für die Messe am Sonntagmorgen hergerichtet werden mußte. Das Trachtenfest, das am Samstag begann, sollte am Sonntag mit einem feierlichen Gottesdienst beschlossen werden. Dazu wurden mehr Gläubige erwartet als sonst, da sich ja viele Besucher der Veranstaltung noch in St. Johann aufhielten.

»Die Claudia ist in zehn Minuten da«, verkündete Max.

Er setzte sich zu seinem Bruder an den Tisch.

»Na, jetzt geht’s in die heiße Phase, was?« erkundigte er sich. »Gibt’s denn schon eine Favoritin unter den Teilnehmerinnen?«

Der Bergpfarrer hob den Finger.

»Selbst wenn, das ist alles streng geheim, und den Mitgliedern der Jury ist’s untersagt, etwas darüber verlautbaren zu lassen.«

»Auch mir net, als deinem Bruder?«

»Diesmal net, Max«, erwiderte Sebastian. »Du mußt dich schon bis morgen abend gedulden.«

Es klingelte, und Claudia Bachinger erschien. Die Journalistin aus Garmisch Partenkirchen berichtete für ihre Zeitung von der Wahl der Trachtenkönigin. Gemeinsam ließen sie sich schmecken, was die Pfarrköchin gezaubert hatte. Natürlich drehte sich das Gespräch um die kommenden zwei Tage, allerdings ließ sich Sebastian auch nicht von der charmanten Freundin seines Bruders erweichen, etwas darüber zu erzählen, was sich hinter der verschlossenen Tür des Jagdzimmers im »Löwen« tat.

Dort hatte gestern abend die erste Runde begonnen. Neben Valerie Thalbacher bewarben sich zwei weitere Madeln um die Krone der Trachtenkönigin. Agnes Wildemann, eine achtzehnjährige Gymnasiastin, und Petra Schöninger. Sie war erst zwanzig Jahre alt geworden und arbeitete in der Kreisstadt in einem Steuerbüro. Alle drei mußten die Fragen der Jury beantworten, die sich in erster Linie um das Wachnertal und St. Johann drehten. Dabei kam es darauf an, mit klugen und witzigen Antworten zu glänzen. Sorgfältig notierten die Jurymitglieder die Punkte, die sie den einzelnen Madeln gaben, auf ihren Zetteln. Später würden alle Punkte zusammengezählt, aber bis dahin dauerte es noch, und unter den Teilnehmerinnen stieg die Spannung.

Man hatte ihnen Zimmer im Hotel zur Verfügung gestellt, in denen sie sich vorbereiten konnten. Hier wurden sie von ihren Müttern oder Freundinnen betreut, die Trachtenkleider hingen bereit, und natürlich war auch dafür gesorgt, daß eine helfende Hand für die Frisur und das weitere perfekte Aussehen bereit stand.

»Heut’ abend sind’s Fragen

zur Allgemeinbildung«, erzählte Pfarrer Trenker. »Und wie ein guter Bergkäs’ gemacht wird. Aber das werden wohl alle drei beantworten können.«

Das Essen im Pfarrhaus war köstlich wie immer. Zu den Hendl’n hatte es gebackene Kartoffeln und einen frischen Salat gegeben. Die Krönung war natürlich die Nachspeise. Gesättigt und zufrieden verließen sie den Tisch. Während Max und Claudia zur Wohnung des Polizisten hinübergingen, setzte sich Sebastian in sein Arbeitszimmer und schaute sich noch einmal den ausgearbeiteten Fragenkatalog für den Abend an.

Morgen nachmittag stieg dann der Höhepunkt der Veranstaltung. Vor großem Publikum führten die Madeln ihre Kleider vor, und dann wurde die Siegerin bekanntgegeben. Ines Kobler, die noch amtierende Trachtenkönigin, setzte ihrer Nachfolgerin die Krone auf. Am Abend fand schließlich der große Ball im Festzelt statt.

*

Valerie lief in ihrem Hotelzimmer nervös auf und ab. Immer wieder fuhr sie sich durch das Haar.

»Komm, Madel, nun setz’ dich endlich«, sagte ihre Mutter energisch. »Du machst mich ja ganz verrückt mit deiner Rennerei!«

»Wenn’s bloß schon überstanden wär’«, seufzte ihre Tochter und setzte sich aber doch. »Hoffentlich hab’ ich net schon gestern schlecht abgeschnitten. Vor heut’ abend hab’ ich richtig Angst. Bestimmt bring’ ich durcheinander, was es mit dem Lab und der Milch eigentlich auf sich hat.«

»Ach was«, schüttelte die Thalbacherbäuerin den Kopf. »Ich hab’s dir doch ganz genau erklärt: Das Lab ist ein Ferment aus dem Kälbermagen, das dafür sorgt, daß die Milch gerinnt. Dabei darf eine bestimmte Temperatur net übeschritten werden. Anschließend wird er Bruch geschnitten und aus der Molke gehoben. Der Käse wird in Formen getan und gepreßt. Dann kommt er in ein Salzbad, wird in ein Regal gelegt und muß reifen. Das ist alles. Nein, noch net ganz – er muß immer wieder mit Salzwasser abgewaschen und gewendet werden. Außerdem ist’s noch wichtig, daß die frische Alpenmilch mit der abgestandenen Morgenmilch gemischt wird.«

»Puh, wie soll ich mir das alles merken?« fragte Valerie verzweifelt.

Sie schaute auf die Uhr.

»Bis zur nächsten Prüfung

sind’s noch zwei Stunden. Ich geh’ ein bissel an die Luft«, erklärte sie.

»Mach’ das«, nickte ihre Mutter. »Ich leg’ mich derweil ein bissel schlafen.«

Das junge Madel schlüpfte in einen Pulli und zog Jeans dazu an. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel verließ sie das Zimmer und ging die Treppe hinunter. Die beiden anderen Teilnehmerinnen an dem Wettbewerb schienen die selbe Idee gehabt zu haben. Alledings grüßten sie sich nur, als sie in der Hotelhalle aufeinander trafen, gingen aber getrennte Wege.

Valerie spazierte zum Rathaus hinüber. Auf dem kleinen Platz davor stand eine Bank, auf die sie sich setzte. In ihrem Magen war ein flaues Gefühl, und sie hätte alles dafür gegeben, wenn Marius jetzt bei ihr gewesen wäre. Aber sie hatte ihn extra darum gebeten, erst am Samstag wiederzukommen, weil sie befürchtete, durch seine Anwesenheit noch nervöser zu werden. Schließlich wußte sie, daß er in seinem Innersten immer noch dagegen war, daß sie an der Wahl teilnahm, auch wenn er ihr dazu Glück gewünscht hatte und die Daumen drücken wollte.

In Gedanken versunken, bemerkte sie nicht den jungen Mann, der sie schon eine ganze Weile beobachtete. Er stand vor dem Rathaus und blickte zu ihr herüber. Jetzt sah er sich um, trat auf die Straße und überquerte sie. Vor der Bank blieb er stehen.

»Ich wette, Sie sind die neue Trachtenkönigin«, sprach er Valerie an.

Sie hob erstaunt den Kopf.

»Wie…?«

Niklas Fechner setzte ein charmantes Lächeln auf.

»Sie nehmen doch an der Wahl teil, oder etwa nicht?«

»Doch, schon, aber woher…?«

»Woher ich das weiß?«

Er lachte.

»Da hab’ ich einen Blick dafür. Darf ich mich setzen?«

Bereitwillig rückte sie zur Seite und machte ihm Platz.

»Wissen Sie, ich bin Fotograf, Niklas Fechner der Name, und eigens aus München angereist, um über das tolle Event zu berichten. Und wie ist Ihr werter Name?«

»Valerie Thalbacher.«

»Valerie Thalbacher«, wiederholte er, wobei er jede Silbe betonte. »Ein Name, den man sich merken muß. Madel – du hast eine große Karriere vor dir!«

Sie schaute ihn erstaunt an.

»Woher wollen S’ das wissen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Laß doch das dumme Sie. Ich bin Niklas, und ich versprech’ dir, wenn du die neue Trachtenkönigin bist, dann ist deine Zukunft gesichert.«

Der Fotograf war am Nachmittag in St. Johann eingetroffen und hatte das Zimmer bezogen, das die Redaktion in einer kleinen Pension reserviert hatte. Nach einem ausgiebigen Mittagessen schlenderte Niklas Fechner durch das Dorf und schaute sich um.

Der Auftrag brachte ihm zwar einiges, aber das reichte noch lange nicht, um Wolfgang Blessingers Forderungen zu erfüllen. Mit Wehmut erinnerte er sich an die Bilder, die er vor ein paar Wochen geschossen hatte.

In einer Diskothek hatte er eine junge Frau kennengelernt, die mit aller Macht berühmt werden wollte. Irgendwie hatte er ein Gespür für so etwas. Jedenfalls war es ihm nicht schwergefallen, sie zu ein paar Fotoaufnahmen zu überreden – natürlich hatte er etwas von einer Modellkarriere gesagt, für die die Bilder gemacht werden sollten, was aber überhaupt nicht stimmte –, und nach einigen Gläsern Alkohol war die junge Frau bereit gewesen, die Hüllen fallen zu lassen.

Niklas hatte die Fotos mit viel Gewinn an ein Magazin verkauft, das solche Bilder veröffentlichte, und mit dem Geld hätte er eigentlich einen Großteil seiner Schulden tilgen können – wenn da nicht der Glücksspielteufel gewesen wäre, der ihn dazu verleitete, das Honorar in einer Nacht zu verjubeln.

Aber so eine junge Frau – das wäre genau das, was er noch mal brauchte, um so viel Geld zu verdienen. Dann wäre er mit einem Schlag alle seine Sorgen los.

Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er Valerie Thalbacher alleine auf der Bank sitzen sah. Er zögerte nicht länger, hinüberzugehen und sie anzusprechen. Eine solche Chance bekam er hier nicht noch einmal.

*

Valerie blickte den jungen Mann neugierig an. Er sah ziemlich gut aus, auch wenn er bestimmt zehn Jahre älter war als sie. So, wie er sich gab, machte Niklas Fechner einen weltgewandten Eindruck. Und wie er redete! »Event«, hatte er die Veranstaltung genannt.

»Wie meinst denn das, mit der Karriere?« fragte sie.

Der Fotograf spielte mit der Kamera, die um seinen Hals hing.

»Glaub’ mir, Madel, wenn ich die Sach’ in die Hand nehm’, dann ist dein Bild bald auf allen Titelseiten der großen Magazine«, sagte er mit Überzeugung. »So ein Gesicht, wie das deine, das gibt es nicht noch einmal. So etwas zu finden, ist ein wahrer Glückstreffer.«

Er meinte es wirklich so, wie er es sagte, allerdings anders, als Valerie es verstand…

»Hast denn wirklich Verbindungen zu Modeagenturen?«

Niklas lachte auf. Es war ein sympathisches Lachen, das ihm schon oft Tür und Tor geöffnet hatte.

»Ich hab’ die ›Connections‹«, versicherte er und beeindruckte sie erneut. »Und eins darfst mir glauben – wenn ich dich da untergebracht hab’, dann verdienst du mehr Geld an einem Tag, als so mancher hier im ganzen Monat.«