Mami 1870 – Wir streiten nie mehr!

Mami –1870–

Wir streiten nie mehr!

Jenny und Micky sollen Geschwister werden

Edna Meare

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-730-2

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Jennys Zahnlücke war nicht zu übersehen. Stolz die Schultüte im Arm, den nagelneuen Ranzen auf dem Rücken, der beinahe größer war als sie selbst und die neuen Schuhe an den Füßen, stand sie vorn in der ersten Reihe und grinste wie ein kleines Honigkuchenpferdchen in die Kamera.

Ihre neuen Klassenkameraden standen ihr allerdings in nichts nach. Zahnlückig grinsten sie in die Linse, den meisten fehlten die Schneidezähne, stolz darauf, nun endlich zu den Großen zu gehören, die in die Schule gehen durften.

Wie lange diese Freude anhielt? Nach Nina Webers eigenen Erfahrungen höchstens ein halbes Jahr. Jedenfalls war das bei ihr so gewesen. Mit jedem neuen Tag hatte ihre Begeisterung nachgelassen und war schließlich in puren Haß umgeschlagen. Daß sie trotzdem das Gymnasium geschafft und ein passables Abitur gebaut hatte, erschien ihr heute noch wie ein Wunder.

Der Fotograf schoß ein weiteres Bild. Jenny schubste den Jungen neben sich unsanft zur Seite und machte sich so richtig breit, damit man sie auf dem Foto später nicht übersehen konnte. Der Junge drängelte sich daraufhin wieder in den Vordergrund, wofür er von Jenny mit einem ordentlichen Tritt auf den Fuß belohnt wurde. Im Nu war eine kräftige Rangelei im Gange, die von der Lehrerin beendet wurde, die wie eine aufgeregte Henne um die Erstkläßler herumflatterte.

»Aber, aber«, versuchte sie, die beiden Kampfhähne zu beruhigen. »Ihr werdet euch doch nicht an eurem ersten Schultag streiten.«

»Ja, dachte Nina spöttisch, dazu habt ihr doch noch während des ganzen Schuljahres Zeit.

Die beiden Kinder blickten sich an wie zwei kleine Hunde, die überlegten, ob sie übereinander herfallen sollten oder ob besser jeder seines Weges ging. Als Jenny die Schultüte hob, um sie ihrem Rivalen auf den Kopf zu hauen, griff Nina ein.

»Aufhören, Jenny!« rief sie dazwischen und trat aus der Reihe stolzer Väter und Mütter, die die Zeremonie verfolgten. »Ich habe dir gesagt, daß man sich nicht prügelt. Wenn dich etwas stört, dann sprich mit demjenigen darüber, aber verhaue ihn nicht.«

»Der ist doof!« behauptete Jenny mit einem bitterbösen Blick auf den Jungen, der ihr zum Dank die Zunge herausstreckte. »Ein richtig doofer Döskopp ist das.«

»Und du bist eine Zimtzicke!«

»Affengesicht!«

»Blödmann!«

»Ruhe!« Nina schnappte sich ihr Töchterchen und schob es ans Ende der Reihe. »Hier bleibst du stehen und benimmst dich«, befahl sie, alle pädagogisch-psychologisch-sinnvollen Ratschläge sogenannter Experten in den Wind schlagend. »Du mußt dich nicht schon am ersten Tag von deiner wirklich schlechtesten Seite zeigen.«

Jenny zeigte die Reaktion, die die Experten in ihren Büchern voraussagten: Sie warf ihre Schultüte auf den Boden und verkündete entschlossen:

»Das ist doof hier, ich will nach Hause!«

Nina schluckte betroffen. Himmel, bei Jenny ging der Schulfrust ja noch früher los als damals bei ihr. Die Kleine hatte noch nicht einmal richtig mit der Schule begonnen, da haßte sie sie schon!

Die anderen Mütter und Väter betrachteten Nina gespannt. Ach, ihre Kinderchen waren brav, die grinsten einfach zahnlückig in die Kamera, freuten sich, daß sie endlich in die Schule durften. Nur dieses ungezogene kleine Gör machte Schwierigkeiten. Da wußte man schon, wer hier demnächst Schwierigkeiten bekam und mit wem das eigene Kind besser nicht spielen sollte.

Nina war sich der Blicke durchaus bewußt. Sie schickte ein kurzes Stoßgebet gen Himmel, dann beugte sie sich zu ihrer Tochter herab.

»Hör zu, ich find’s auch nicht besonders toll hier«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Aber jetzt laß dich eben fotografieren. Glaube mir, nachher wird’s besser.«

Jenny musterte sie kurz, dann tat sie ihrer Mutter den Gefallen, sich zu bücken, die Tüte wieder aufzuheben, und sich in die Reihe ihrer Mitschüler zu stellen.

Der Fotograf war so klug, die restlichen Fotos im Schnellverfahren zu schießen. Erleichtert packte er seine Arbeitsgeräte ein und floh regelrecht vom Schulhof, während die Klasse geschlossen mit ihrer Lehrerin ging, die den Kleinen nun den Schulraum zeigte.

Die Eltern folgten in gebührendem Abstand. Manche Mutti oder Oma hatte Tränen in den Augen. Erinnerungen an die eigene Schulzeit mochten wohl bei der oder dem einen oder anderen aufsteigen. Glorifiziert, die schlechten Erfahrungen lieber vergessend. Und der oder die eine oder andere mochte vielleicht auch denken, daß ihr Sprößling ruhig noch ein Jahr mit dem Ernst des Lebens hätte warten sollen. Aber sie alle waren gerührt, denn es war ein ganz besonderer Tag.

»Und ich muß da jetzt wirklich jeden Tag hin?« fragte Jenny, als sie eine Stunde später neben ihrer Mutter das Schulgebäude verließ. Die Kleine mühte sich mächtig mit der Tüte, dem Ranzen und der Brezel ab, die der Rektor zum Abschluß an alle Erstkläßler verteilt hatte.

Nina unterdrückte den Seufzer, der ihr auf der Seele lag. Jennys Frage ließ nichts Positives hoffen.

»Ja, mein Schatz«, erwiderte Nina ehrlich. »Wir haben doch schon so oft darüber gesprochen. Ab heute gehst du jeden Tag in die Schule. Außer in den Ferien.«

»Und wann sind Ferien?«

»Im Herbst.«

Sie hatten den Wagen erreicht. Nina nahm ihrer Tochter den Ranzen ab. Die Tüte und Brezel weigerte Jenny sich herauszugeben.

»Genauer gesagt im Oktober. Bis dahin sind es noch acht Wochen.«

»Toll!« Jenny verzog ärgerlich das Gesicht. »Und wie lange muß ich überhaupt in die Schule?«

»Das kommt darauf an.« Nina wartete bis Jenny ihren Gurt geschlossen hatte, dann startete sie den Motor. »Aber, Liebling, jetzt fang doch erst einmal an. Glaube mir, Schule ist ganz nett. Ehrlich, es gibt Schlimmeres im Leben.«

»Mhmm, Tante Marthes Lapskaus.« Jenny schüttelte sich. »Mama, ist Schule so schlimm wie Lapskaus?«

»Ganz bestimmt nicht.« Nina versuchte, überzeugend zu klingen. »Und auch nicht so schlimm wie Bauchschmerzen.«

Sie lenkte den Wagen vom Parkplatz und reihte sich in die Blechschlange ein, die sich vor der Ausfahrt gebildet hatte. Alle Eltern wollten jetzt so schnell wie möglich nach Hause, um mit ihren Abc-Schützen den Schulanfang zu feiern.

»Guck mal, da ist der Blödmann.« Nina deutete aus dem Beifahrerfenster. »Den kann ich nich’ leiden.«

Nina sah kurz nach draußen. Tatsächlich, da lief der kleine Junge neben einem hochgewachsenen, schlanken Mann, der ihn fest an der Hand hielt. Die gelbe I-Tüpfelchen-Mütze auf dem Kopf des Kindes leuchtete im hellen Sonnenschein.

Die Mädchen hatten Kopftücher erhalten. Jenny hatte ihres empört in den Schulranzen gestopft und verkündet, daß sie so was komisches nicht anziehen würde.

»Es ist zu deiner eigenen Sicherheit«, hatte die Lehrerin daraufhin erklärt. »Mit diesem leuchtenden Tuch können dich die Autofahrer schon von weitem erkennen und halten an.«

Jenny hatte nichts darauf geantwortet, aber der Blick, mit dem sie die Lehrerin bedachte, sprach Bände.

Jetzt konnte Nina sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. Die Fronten waren eigentlich durch diese kleine Kopfbedeckung geklärt: Brave, angepaßte Kinder trugen Mützen oder Kopftücher, die aufmüpfigen, schwierigen warfen die Dinger in die Ecke. Nun ja, Nina hatte gewußt, daß Jenny es ihrer Umwelt nicht leicht machen würde sie zu mögen.

Verdammt, ich wollte keines von diesen artigen Kindern, dachte Nina in einem Anflug von Trotz. Ich wollte ein aufgewecktes, fröhliches, intelligentes Kind, ohne Komplexe und Hemmungen und genau das habe ich!

Im Rückspiegel sah sie den Mann und den kleinen Jungen, wie sie Hand in Hand zu einer Mittelklasselimousine gingen. Papi schien nicht ganz arm zu sein, wenn er sich solch einen Wagen leisten konnte. Und wo war die Mami zu dem braven mützetragenden Filius?

»Du kannst fahren.« Jenny trommelte nervös gegen Ninas Rückenlehne. »Hör auf zu träumen, Mama. Augen auf im Verkehr!«

»Ja, Frau Wachtmeisterin«, lachte Nina und gab Gas.

*

Zu Hause wartete ein gedeckter Kaffeetisch auf die beiden. Nina hatte alles vorbereitet, ehe sie zur Schule aufgebrochen waren. Jetzt stürzte Jenny sich mit Begeisterung auf ihre Schultüte und die Torte, die Nina am Abend zuvor noch rasch für sie gebacken hatte.

Ein Anflug von Traurigkeit wollte Nina übermannen, als sie ihre kleine Tochter zusah, die mit leuchtenden Augen neugierig die Süßigkeiten und Spielzeuge auspackte, die in der Schultüte steckten. Oma und Opa hatten den Ranzen bezahlt und auch einen Teil der Naschereien. Von Tante Marthe stammte die Uhr und von Maren, Ninas Freundin, die Malstifte, das Mäppchen und die anderen Utensilien, die Jenny für die Schule brauchte.

Meine Güte, wo war die Zeit geblieben? Eben war Jenny doch noch auf dem Boden herumgekrabbelt und hatte versucht, ihre Bauklötze aufeinanderzustapeln. Jetzt ging sie schon in die Schule! Hatte sie, Nina, irgend etwas versäumt?

Nein, gab Nina sich die Antwort auf ihre stumme Frage. Sie hatte wirklich jeden Tag mit der Kleinen bewußt erlebt und genossen. Und sie bereute es nicht, sich damals für das Kind und gegen den Vater entschieden zu haben.

Der Vater… hier verzog Nina unwillkürlich die Lippen. Robert hatte nie wieder etwas von sich hören lassen, seit sie ihm damals ihre Entscheidung mitgeteilt hatte.

Er war entsetzt gewesen, als er von Ninas Schwangerschaft erfuhr.

»Laß es wegmachen!« hatte er gefordert. »Wir sind noch zu jung für ein Kind. Außerdem, was wird aus unseren Plänen? Mit einem Kind können wir unsere tollen Zukunftsideen begraben.«

Auch Ninas Freunde und ihre Eltern hatten zur Abtreibung geraten.

»Wovon willst du denn leben?« hatten sie gefragt. »Du bist noch nicht einmal mit dem Studium fertig. Da ist so ein Baby doch nur eine Belastung.

Ja, alle hatten damals wunderbare, vernünftige Gründe, sich gegen das Kind zu entscheiden. Nur Maren hatte als einzige danach gefragt, wie Nina sich bei dem Gedanken fühlte, das Kind abtreiben zu lassen.

Sie hatte sich elend gefühlt. Dennoch hatte sie sich schließlich zu der Unterbrechung entschlossen. Robert war natürlich nicht mitgekommen, obwohl sie ihn darum gebeten hatte. Er müsse sich auf eine wichtige Klausur vorbereiten, war seine Ausrede gewesen. So schlimm würde das Ganze schon nicht werden. Nina sei doch eine emanzipierte Frau, die nicht das Händchen ihres Lovers brauchte, um so einen kleinen Eingriff durchzustehen.

Nina war alleine ins Krankenhaus gefahren. Aber als sie dann im Vorbereitungsraum lag, sich vorstellte, wie das kleine Wesen in ihr friedlich heranwuchs, nichts ahnend von dem, was gleich geschehen würde, hatte sie plötzlich Panik ergriffen.

Sie war von der Liege gesprungen, hatte ihre Sachen geschnappt und war regelrecht aus dem Krankenhaus geflohen. Als sie Robert am Abend ihren Entschluß mitteilte, hatte er einen Wutanfall bekommen und war davongelaufen.

Danach waren sie sich zwar noch ab und zu auf dem Campus begegnet, aber Robert war allen Gesprächsversuchen einfach ausgewichen. Zwei Monate später erfuhr Nina dann von einem Kommilitonen, daß Robert nach Frankreich gegangen war, um dort sein Studium fortzusetzen.

Er hatte die Vaterschaft abgestritten und zahlte bis heute keinen Pfennig für seine Tochter. Da er immer noch im Ausland lebte, waren die Aussichten, ihn jemals zur Rechenschaft ziehen zu können, aussichtslos.