Vorwort des Herausgebers

Gustave Le Bons Buch Psychologie der Massen ist mehr als eine brillante Analyse von Massenphänomenen – es ist eine Warnung davor. Für Le Bon ist die Masse, im Gegensatz zum Individuum, kein »Kulturerzeuger«, sondern sie wirkt dunkel und negativ, ist im höchsten Maße manipulierbar, und neigt zu Intoleranz und Verfolgung Andersartiger. In der Masse zeigt sich das Instinktive, das Triebartige und Unbewusste. Die Individualität der Einzelnen tritt zurück, er verliert seine Kritikfähigkeit und verhält sich affektiv, zum Teil primitiv-barbarisch. Eine einheitliche, kaum kontrollierbare und oft gefährliche »Kollektivseele«, bildet sich (»loi de l'unité mentale des foules«).

Revolutionär neu war an Le Bons Buch, dass er sich aus psychologischer Sicht mit Themenfeldern auseinandersetzt, die zwar seit Urzeiten in menschlichen Gesellschaften, insbesondere in Konfliktsituationen, eine Rolle spielen, die aber in dieser Form noch nie ausformuliert wurden. Es geht um Konformität, Entfremdung und Führung – und um die zentrale Rolle des Unbewussten.

Le Bon macht auch auf die entscheidende Rolle eines »Führers« in einer Massensituation aufmerksam, listet die Kriterien eines »geeigneten« Führers auf und beschreibt verschiedene Führertypen. In diesem Zusammenhang formuliert er etwa: »Ohne Führer ist die Masse wie eine Herde ohne Hirten. Große Führer können einen Glauben erwecken und damit ganze Völker steuern. Sie wirken oft durch eine große Rednergabe. – Führer sind keine Denker, sondern Männer der Tat, gelegentlich findet man unter ihnen Nervöse, Reizbare und Halbverrückte.«

Obwohl dies wie auf Hitler gemünzt klingt, ist es nicht so. Der Text wurde 1895 veröffentlicht – und Le Bons Schreckensbild waren die sozialistischen Ideen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa auf dem Vormarsch waren. Sozialismus bedeutete für Le Bon die Gleichmacherei der Menschheit, und in einer möglichen sozialistischen Revolution sah er den Untergang der westlichen Zivilisation. – Er ahnte nicht, dass alles viel schlimmer kommen würde, allerdings aus einer ganz anderen Richtung: durch die Nazis. Man nimmt heute an, dass Hitler Le Bons Werk kannte, oder mindestens aus einer Zweitquelle zum Teil rezipierte. Man kann davon ausgehen, dass er bewusst die Lehren und Kenntnisse des französischen Soziologen übernahm und für seine manipulativen Zwecke ausnutzte.

Auf diese Ideen zu stoßen, war nicht schwer, denn »Die Psychologie der Massen« fand bereits zu Lebzeiten des Autors große internationale Anerkennung. Das Werk erreichte eine hohe Auflage und wurde in zehn Sprachen übersetzt. Es galt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als Standardwerk der Massenpsychologie und beeinflusste Sigmund Freud ebenso wie Max Weber und viele andere Denker. Gustave Le Bon kann somit als Begründer der modernen Massenpsychologie gelten.

© Redaktion eClassica

 

Über den Autor: Gustave Le Bon (* 7. Mai 1841 in Nogent-le-Rotrou; † 15. Dezember 1931 in Paris) erlebte die Krisenzeiten der Februarrevolution von 1848 und der Pariser Kommune von 1871; beide Ereignisse prägten ihn stark. Nach einem Medizinstudium war er 1870 Militärarzt in einem Lazarett und beobachtete den fanatischen Eifer, den die französischen Soldaten im deutsch-französischen Krieg an den Tag legten. Hier begann er sich erste Gedanken über die »Manipulation der Volksseele« zu machen. Ab 1881 betrieb er auf verschiedenen Reisen, unter anderem nach Nordafrika und Indien, völkerkundliche Studien, und veröffentlichte 1881 bis 1891 mehrere Werke zu den Themengebieten Anthropologie, Archäologie und Ethnologie. 1895 schließlich veröffentlichte er sein Hauptwerk Psychologie der Massen, das ihn zum einflussreichsten Soziologen seiner Zeit machte.