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Österreichische Musikzeitschrift – Herausgegeben von der Europäischen Musikforschungsvereinigung Wien Jahrgang 70/2015 Heft 4 – Aufhören! Vom Ende in der Musik

Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) | Jahrgang 70/04 | 2015

Erscheinungsweise: zweimonatlich

Medieninhaberin: Europäische Musikforschungsvereinigung Wien (EMV)

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Liebe Leserinnen und Leser,

Irgendwann muss Schluss sein. Dies gilt unerbittlich für sämtliche Gattungen und Genres der Musik – jener Kunstform, die in besonderer Weise an die Zeit und ihre Verläufe gebundenen ist. Es trifft für alle Varianten der Präsentation und Wahrnehmung von formstabilen Tonkünsten und flüchtig erklingenden Events zu. Auch wenn musikalische Ereignisse eine kleine Ewigkeit dauern mögen – sie gelangen zwangsläufig zum Schlussakkord, verklingen oder brechen abrupt ab. Sie werden verlassen, abgeschaltet oder vom schläfrig werdenden Kopf ausgeblendet. Selbst wenn Radio oder Fernseher vor den geschlossenen Augen noch unverdrossen weiterdudeln.

Sogar diejenigen musikalischen Arbeiten, die den Werkcharakter »aufbrechen« oder ihn gänzlich negieren – wie performative, installatorische, aktionistische oder elektronisch-audiovisuelle Produktionen – bedürfen mehr oder minder markanter Anfänge und Schlüsse. Früher oder später erreicht der Saphir die letzte Rille, ist die CD oder DVD durchgelaufen, die Performance definitiv erschöpft, geht im Theater der Eiserne Vorhang herunter. Dies gilt im Übrigen auch für Tonkünstler-Karrieren – obwohl gerade bei den Stars wie beim Gros der musikalischen »Leistungsträger« derzeit Durchhaltevermögen und Dauerhaftigkeit höchste Tugenden scheinen wie ansonsten nur bei Kirchenvätern, SchriftstellerInnen und britischen Monarchinnen.

Mancher längst zum Altmeister gewordene junge Mann der Nachkriegszeit, der gerne obsolet gewordene Traditionen »sprengte« (im Extremfall hinsichtlich der feurigen Entsorgung der in seinen Ohren falsch befüllten Musiktheaterpaläste gar kess die Kostenfrage stellte), denkt nicht daran, Jüngeren Platz zu machen. Man mag dies als eine der periodischen Verkalkungserscheinungen des Kulturlebens ansehen. Aber warum ruft niemand nach dem Klempner?

Das Nicht-enden-Wollen oder -Können erweist sich in diesem Heft als »Nebenlinie«. Zuvorderst geht es ihm um die Schlüsse unterschiedlichster Werke aus mehreren Jahrhunderten, um konstante Herausforderungen von Schlussbildungen und jeweils spezifische Konstellationen. Das tendenziell uferlose Thema von Abschiednehmen und Aufhören in und mit Musik bildet den Cantus firmus in den Reflexionen zu Orchester- und Kammermusik (die Opern blieben fürs Erste weitgehend ausgeblendet).

Während der Vorbereitung dieses Heftes wurde eine Textsammlung angekündigt, die wesentliche Aspekte des ins Auge gefassten Themenfeldes behandelt: Peter Gülkes Buch Musik und Abschied. Hartmut Krones kommentiert das druckfrische Werk – und der Siemens-Musikpreisträger des Jahres 2014, angetan von »merkwürdiger Koinzidenz«, schrieb für die ÖMZ einen Essay zu den Schlüssen von Beethovens Pastorale.

Das »Abschaffen« wurde fürs Komponieren im 20. Jahrhundert mitunter ebenso wichtig wie die Idee fortgesetzten Schöpfertums. Starke Erschöpfungserscheinungen haben das »Fortpflanzen« heimgesucht. Das Aufräumen ist intern fürs Komponieren von Belang, aber auch Bestandteil musikalischer »Sozialarbeit«. Es schafft notwendigen Platz für das Neue. ›Das Team der ÖMZ

Inhalt

Aufhören!
Vom Ende in der Musik

Gerhard R. Koch: Aller Anfang ist schwer, erst recht das Ende

Hartmut Krones: Persönliche Todeserfahrung und Tod der Utopie

Peter Gülke: Chiffre des erlösenden Aufatmens Beethovens sechste Symphonie und ihre Schlüsse

Wolfgang Schreiber: Nicht aufhören Enden und Anfangen – mit Hörsplittern aus dem Repertoire

Arne Stollberg: Pflaumenweiche Enden? Leise Schlüsse in Symphonien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts

Frieder Reininghaus: E la nave va – Ein Kalenderblatt zum 5. Juli 1965

Daniel Brandenburg: Über das Ende hinaus. Komponistenwitwen zwischen Gattenverehrung und kulturellem Gedächtnis

Andreas Dorschel: Der Welt abhanden kommen Über musikalischen Eskapismus

Johannes Prominczel: »You can kill people with sound« Zum 80. Geburtstag von Arvo Pärt

Extra
Song-Kontext

Melanie Wald-Fuhrmann: Der beste Song oder der kleinste gemeinsame Nenner? Das kollektive Werten beim ESC

Ivan Raykoff: Ein Lied kann eine Brücke sein. Verbindungen von Ton und Bild beim diesjährigen Eurovision Song Contest

Johannes Prominczel: Österreich beim Song Contest

Neue Musik im Diskurs

Stefan Drees: »… absolute freedom, complete autonomy for my art …«: Olga Neuwirth

Berichte
Oper in Europa

Alban Bergs Lulu in Amsterdam, Oscar Strasnoys Fälle in Zürich, Julian Andersons Thebans in Bonn, Salvatore Sciarrinos Luci mie traditrici und Bela Bartóks Blaubart in Wien (Frieder Reininghaus)

Premieren in Wien (Walter Weidringer)

Così fan tutte an der Wiener Volksoper (Johannes Prominczel)

War alles nur Wahn? Berliner Premieren (Magdalena Pichler)

Hèctor Parras Wilde in Schwetzingen, Lucia Ronchettis Esame di mezzanotte in Mannheim (Frieder Reininghaus)

Lior Navoks An unserem Fluss in Frankfurt (Jörn Florian Fuchs)

Beat Furrers La bianca notte in Hamburg (Verena Fischer-Zernin)

George Benjamins Written on Skin in St. Gallen (Anna Mika)

René Clemencics Gilgamesch in Wien (Robert Lillinger)

Festivals & Konzerte

Musikprogramm der Wiener Festwochen (Juri Giannini & Fritz Trümpi)

Musikbiennale Zagreb, Unsafe & Sounds Festival (Philip Röggla)

»Urbo kune« (Juri Giannini)

»… im Banne der Anderen« (Heinz Rögl)

Revolution, Flucht und Exil (Sabine Seuss)

Zum Achtziger von Kurt Schwertsik (Christian Heindl)

Porträt Tamara Friebel (Sabine Seuss)

Neues mit Traditionsbezug (Lena Dražić)

Symposien

Im weißen Rößl (Jan-Felix Wall)

Fünfzig Jahre Neue Schubert-Ausgabe (Anna Mika)

Wiener Symposien-Juni (Johannes Prominczel)

Rezensionen

Bücher

CDs und DVDs

Das andere Lexikon

Spätwerk (Wolfgang Fuhrmann)

News

System und Kritik

Zu guter Letzt

Autoren dieser Ausgabe, Vorschau

THEMA

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Aller Anfang ist schwer, erst recht das Ende

Die Geschichte der Kunst ist auch die der großen Torsi: Der Fragment-Virus schleicht sich ins Werk ein

Gerhard R. Koch

Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß, Und daß du nie beginnst, das ist dein Los.

Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe.

Goethes Gedicht aus dem West-östlichen Divan ist auch ein Hymnus auf das endlos in sich verschlungene Arabesken-Wesen islamischer Kunst. Den Dresdner »Pegida«-Schreihälsen dürfte dies schwerlich bekannt sein, wollen sie doch ein ›Abendland‹ verteidigen, von dem sie keinerlei Ahnung haben. Goethes Verse liefen allerdings noch auf etwas anderes hinaus: auf einen grundlegenden Zweifel am linear-teleologischen Verlauf jeglicher Art, an der Vorstellung, dass alles (s)einen Anfang habe, und von diesem bis zum Schluß fortschreite, ja sich zu diesem hin steigere. Denn was man gemeinhin Abendland nennt, basiert auf der jüdisch-christlichen Idee von Schöpfung, Sündenfall, geschichtlichem Prozess – bis hin zum Erscheinen des Messias, dem Jüngstem Tag, der Erlösung, dem wiedergewonnenem Paradies: Alles wird gut, möglicherweise. Oder auch gerade nicht.

Analog verweisen die gängigen Vorstellungen von Kunst, zumindest in eurozentrischem Sinn, auf Schöpfung en miniature: auf das Werk. Ebendieses wird, ob als Text, Theater, Musik oder Film, als Verlaufs-Form nach dem obligaten Schrift-Modell gedacht, die im »Westen« von links nach rechts führt. Dieser Blickrichtung folgen auch Aufzüge, Paraden, Totentänze und noch die Bildfolgen Achim Freyers oder Robert Wilsons. Der Weg führt von A bis Z, zum Ziel: finis coronat opus. Die »Final«-Symphonie geleitet per aspera ad astra. Und selbst in der Malerei spricht man von »écriture«. Das vollkommen gelungene Werk ist demnach nicht nur Artefakt, sondern Abbild eines sinnvollen Weltganzen. Aber wenn Adorno Hegel vom Kopf auf die Füße stellte (»Das Ganze ist das Unwahre«), dann war dies nicht nur Ideologiekritik am Heile-Welt-Getue, sondern auch Einspruch wider den allzu obligaten Kult ums ›Meisterwerk‹, Zweifel am beschworenen Schein des »Wahren, Schönen, Guten«. Solches Misstrauen gegenüber dem integral autonomen ästhetischen Produkt findet sich schon in der frühen Romantik (F. Schlegel, Novalis): das Fragment als auch utopisches Wundmal misslingender Totalität. Ebendiese fußte nicht zuletzt auf der Dur-Moll-Tonalität, die die europäische Kunstmusik vom frühen siebzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert bestimmte – einschließlich der Regel, dass selbst ein mehrsätziges Werk in der exponierten Grundtonart schließen solle. Noch in nicht wenigen großen Opern folgt darin das Finale der Ouvertüre. Erst der Symphoniker Mahler widersetzt sich diesem Schema. Aber schon Schubert, Chopin und Brahms haben mit Moll-Schlüssen für Dur-Stücke der Regel opponiert. Gleichwohl gab es eine Grundformel klassischer Harmonik: den Nukleus der Kadenz, der noch in der gigantischsten Ausformung Modell eines zielstrebigen Verlaufs ist. Die musikästhetischen Irritationen seit dem 19. Jahrhundert haben mit der nachlassenden Kraft dieser Norm zu tun: Das gelingende Ganze ist nicht mehr selbstverständlich, das Fragmentarische greift um sich.

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Goethe, West-östlicher Divan, Erstausgabe, Titelblatt und Frontispiz mit dem arabischen Schriftzug: »Der östliche Divan des westlichen Verfassers«. Bilder: wikimedia.org/H.-P. Haack.

Nicht in wenigen Fällen ist das »Unvollendete« der Werke keineswegs dem Tod des Verfassers geschuldet, sondern subjektive Sperre und generelle Situation greifen ineinander. So oder so ist das Abbrechen nicht zufällig, mag man über die Gründe noch so sehr spekulieren können. Natürlich konnte Mozart Fugen komponieren. Dass es trotzdem diverse Fragmente gibt, lässt darauf schließen, dass er sie als Beweis-Vehikel in Angriff nahm, dann die Lust am Archaischen verlor. Sogar im Fall des Torsos der c-Moll-Messe, immerhin acht Jahre vor seinem Tod entstanden, lässt sich zumindest mutmaßen, dass die geringe Aussicht auf eine Wiener Aufführung und sein größeres Interesse an neuartigen Opern, Klavierkonzerten, Symphonien und Kammermusik-Kombinationen ihn davon abhielten, sich der starren Form der lateinischen Liturgie, einschließlich des »gelahrten Styls«, weiter zu widmen. Man sollte jedenfalls das Abbrechen nicht mythologisieren: Ein »Spätwerk« jedenfalls war die Messe nicht. Nicht Mozart, die Gattung war erschöpft.

Auch Schuberts »unvollendete« Werke (das Oratorium Lazarus, die h-Moll-Symphonie, der c-Moll-Quartett-Satz, eine C-Dur-Klaviersonate) stammen nicht aus den letzten Lebensjahren, ganz zu schweigen von den frühen Sonaten-Fragmenten. Die Abbrüche lassen sich vielmehr als Krise diagnostizieren: Den eigenen Ansatz authentisch fortzuführen, sah er sich außerstande – und der Konvention wollte er nicht folgen. Da ist auch Alfred Brendel zu widersprechen, der einmal meinte: Die frühe fis-Moll-Sonate (1817) sei noch zu ungestaltet, verglichen mit den späteren. Man kann es nämlich genau umgekehrt sehen: Im Kopfsatz hat er sogar radikaler als später primär auf Klang und Bewegung gesetzt. Die »reifen« Werke sind bei aller Expansivität bündiger in der Anlage.

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Das Fragmentarische greift um sich: Auguste Rodin, La pensée, um 1895. Bild: wikimedia.org

Nun wäre es sicher übertrieben, entdeckte man im neunzehnten Jahrhundert in erster Linie Symptome des Scheiterns großer Entwürfe. Gleichwohl: Lieto fine, Apotheose und Verklärung sind problematisch geworden, die Schlüsse heikel. Der Höhenflug ist dem Abgrund gewichen, selbst wenn er bei Schumann noch als seliges Versinken erscheint: Die Frühlingsnacht schwingt sich gerade nicht in jauchzende Höhe. Und wenn Alban Berg seine Sonate op. 1 in eine Reminiszenz an den vorletzten Davidsbündler-Tanz münden lässt, hat dies eher lugubren Charakter (ist wohl also ein Verweis auf Tristesse). Vollends gibt es zwei Extremfälle des Umschlags von Gloriole in Depression: Der Kopfsatz von Bruckners Achter wie Liszts h-Moll-Sonate führen in der Erstfassung in die pompöse Aufwallung, in der zweiten ins karge Stocken. Aller Triumphalismus ist dahin. Und sosehr Wagner über Aureolen gebot, so evident ist der Widerspruch zur Gier nach dem Apokalypse-Ende – ob bei Holländer, Tristan, Wotan oder Amfortas. Demgegenüber klingt Erdas »Alles was ist, endet« geradezu tröstlich.

Beunruhigender als die realen Torsi sind fast die latenten Ratlosigkeiten, wie sinnvoll zu schließen sei. Ausgerechnet der Triumphator Liszt verunsichert immer wieder mit oft erheblich divergierenden ossia-Varianten, als wisse er nicht, wie er die finalen Weichenstellungen zu bewerkstelligen habe. Nicht zufällig gibt es gerade bei seinen Liedern sehr unterschiedliche Versionen, die zu interpretatorisch heiklen Entscheidungen nötigen. Vollends vor Rätsel stellen einige späte Klavierstücke (Bagatelle ohne Tonart, Sospiri, Nuages gris, Unstern, Schlaflos, Frage und Antwort), die entweder einfach »aufhören«, einstimmig versickern oder auf verminderten Septakkorden, wenn nicht Dissonanzen quasi steckenbleiben oder in der Luft verharren: Der Fragment-Charakter ist schon integriert.

Nun gibt es nicht zufällig »bürgerliche« Künstler, bei denen sich keine Fragmente finden: Brahms, Strauss, Strawinsky, Thomas Mann tendierten offenkundig weder zur Bohème noch zum utopischen Surplus, haben dementsprechend ihr Lebenswerk, gewiss imponierend, als abgeschlossenes hinterlassen. Ihre Anfechtungen, Zweifel, Depressionen konnten sie zumindest verbergen. Dagegen Mussorgski: Bei keiner seiner Opern kann man sich auf eine eindeutig »authentische« Fassung verlassen. Und die unaufgelösten, »unerlösten« Enden seiner Ohne-Sonne-Lieder bleiben verstörend offen. Während in der deutschen Musikauffassung der Glaube ans »integrale« Werk im Sinne einer geschlossenen Tradition vorherrscht, die in die historische Tiefe, bis zu Urvater Bach, vertikal gestaffelt ist, spielen Folklore, Volksmusik, Exotismus, Jazz, außereuropäische Kulturen da kaum eine Rolle. Im Gegensatz zur slawischen, französischen, erst recht amerikanischen Musik. Allerdings hat das Fragmentarische noch eine andere Seite: Zum Abbrechen gehört gleichermaßen das Nicht-Aufhören-Können im Doppel-Sinn von Nietzsches »Denn alle Lust will Ewigkeit« wie »Ewige Wiederkehr des Gleichen«: die Unersättlichkeit des Eros oder die Dauer-Qual des Sisyphus.

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Bei keiner seiner Opern kann man sich auf eine »authentische« Fassung verlassen: Modest Mussorgski (1870). Bild: wikimedia.org

Zielen, zumal deutsche, »Final«-Symphonie und Oper teleologisch auf den alles entscheidenden Höhepunkt (mag er auch bei Bruckners Neunter, Mahlers Zehnter, Schönbergs Moses und Aron und Jakobsleiter – übrigens auch keine »letzten« Werke –, Bergs Lulu unerreicht geblieben sein), so gibt es Gegen-Musiken, in die kategorial andere Einflüsse eindringen, in denen Unaufhörliches und Verschwindendes ineinander umschlagen – so wie das Perpetuum mobile zur Statik tendiert. Der Grundzug vieler ethnischer Musiktraditionen heißt Heterophonie: Permanent wird Gleiches wiederholt. Und wo es kaum Entwicklung gibt, bleibt der Schluss offen. Ein erstes Beispiel in der europäischen Kunstmusik ist Chopins C-Dur-Mazurka op. 7 Nr. 5, zu spielen »senza fine«, potentiell ein Endlos-»Drehwurm«. Und wenn einige Klavierstücke Debussys mit »laissez vibrer« schließen, so ist damit gerade keine Fermate gemeint, sondern ein Verschweben im Raum. Das »Werk« entmaterialisiert sich. Dass Orient und Ostasien da hineinspielen, ist evident. Und dem Wagner’schen »Gesamtkunstwerk« wird opponiert – am eklatantesten in Saties Sports et Divertissements (1914), einem medialen Tripel aus Klavierstück, Vers und Zeichnung, parallel, doch unabhängig voneinander. Wenn Satie verlangt, seine Vexations 840-mal hintereinander zu spielen, dann ist derlei Monotonie-Ästhetik nicht minder ein Anschlag aufs erhabene Ganze. Cages stummes 4'33'' markiert die letzte Konsequenz der Verweigerung des traditionellen Verlangens nach »Sinn«, Struktur, eindeutigem Anfang und Ende. Man hat dies »nihilistisch« gescholten, dabei ist es primär Absage an falsche Totalitäts-Gläubigkeit. Cages Devise »Jeder sollte das Recht haben, so wenig wie möglich beeinflusst zu sein«, steht als Memento wider steril-lähmenden Traditionskult.

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Die Notenschrift als abstrakte Zeichnung: Sylvano Bussotti, Videogiornali cinque sequenze.

Dass in die Ästhetik der »offenen Form« fernöstliche »Unbestimmtheits«-Ideale eingegangen sind, steht außer Frage. Der koreanische Komponist Isang Yun hat dies plastisch formuliert: »Von Anfang bis Ende ist dies nur ein Stück, nicht ein vollendetes Stück, sondern es geht immer weiter. Auch der Anfang ist nicht im europäischen Sinn der Anfang eines Stückes, und auch das Ende ist kein wirkliches Ende. Es geht immer weiter, im Raum.« Wobei offener Raum und Kalligraphie zusammengehören. Nicht zufällig ist parallel zur Aleatorik die graphische Notation entstanden: die Notenschrift als abstrakte Zeichnung bei Cage, Earle Brown, Sylvano Bussotti und Haubenstock-Ramati. Bei Letzterem freilich hat noch das Spielerische einen ernsten Hintergrund: In seiner Oper Amerika nach Kafkas Roman-Fragment ist die Szenenfolge variabel. Begründet hat er dies so: Sein Leben, Überleben habe an so vielen Zufällen gehangen, dass ihm selbst auf der Bühne eine lineare Logik absurd vorgekommen sei. Kafkas Narrativ führt schließlich ins »Naturtheater von Oklahoma« als gigantischem Landschafts-Gesellschafts-Spektakel. Gäbe es ein Pendant, dann wäre dies am ehesten die Universe Symphony von Charles Ives, ein utopisches Projekt, in dem Materie und Geist, Musik und Landschaft, Soziales, Elementares und Ästhetisches, Kunst, Religion und Irdisches vereint werden soll. Wobei Ives’ Vision einer Dreistufigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Entstehung der Erde, Evolution von Natur und Menschheit, schließlich Aufstieg ins Spirituelle nicht zufällig an Dantes Göttliche Komödie erinnern mag, unabhängig davon, ob Ives diese gekannt hat oder nicht. So übersteigert das klingen mag: Als Traum von der realen Unio mystica aus Kunst und Leben – analog zur fast noch stärker entgrenzenden Phantasmagorie von Alexander Skrjabins »acte préalable« zu seinem indischen Mysterien-Projekt – hat dies bewegende Kraft. Aus Ives’ Skizzen sind Aufführungs-Versionen erstellt worden, als Welt-Vision sind sie unaufführbar. Doch am Unmöglichen als potentiell Realem ist festzuhalten. Einen bunten Abglanz dieser Euphorie immerhin bot der Beatles-Animations-Film Yellow Submarine, eine Phantasy-Ikone der Achtundsechziger.

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Seine Universe Symphony ist als Welt-Vision unaufführbar: Charles Ives (1913). Bild: wikimedia.org

Goethe überschrieb sein »Daß du nicht enden kannst …« mit Unbegrenzt. Ob Stockhausen das Gedicht kannte, ist zweifelhaft. Doch Unbegrenzt nannte auch er in Aus den sieben Tagen eine verbale »Partitur« zur »intuitiven Musik« vom Mai 1968: »Spiele einen Ton mit der Gewißheit, daß Du beliebig viel Zeit und Raum hast«: Wo alles offen ist, kann alles entstehen. Gerade im Fragment also ist auch das Ganze beschlossen. Und hier berühren sich denn auch romantische Unendlichkeits-Sehnsucht – als indirektes Motiv für den Fragment-Kult – und buddhistische »Nirwana«-Lehre. Zwei Schlüsselmodelle: 1960 notierte La Monte Young nur eine Quinte h–fis, »to be hold for a long time«, also potentiell unaufhörlich. Von Cage stammt das Orgel-Stück As slow as possible (ASLSP), von dem sich eine Aufführungs-Installation in Halberstadt befindet, wo 1361 eine erste »Blockorgel« stand. Ausgerechnet der Anarchie-Apostel Heinz-Klaus Metzger kam auf die seriell-ordohafte Idee der Zeitachsen-Symmetrie: Von 1391 bis 2000 sind es 639 Jahre. So lange also, approximativ ewig, sollte auch die Aufführung dauern; wobei auch die Orgelpfeifen in St. Burchardi erst allmählich zusammengestiftet werden solle – ein work in progress ganz eigener Art.

Was aber heißt schon »ewig«? »Ewig, das ist ewig«, sinniert schon der Wozzeck-Hauptmann. Doch die Entgrenzung von Zeit und Raum verwies auch aufs Gegenteil, den erfüllten Augenblick. Hieß 1968 auch Aufstand gegen Tradition und Establishment, so bedeutete dies musikalisch Absage ans geschlossene Werk, ob in Free Jazz, Aleatorik oder Improvisation: Die Straßen-Erfahrung spontan kollektiver Aktion vom Pariser Mai ‘68 hat so unterschiedliche Musiker wie Stockhausen (nicht gerade ein »Linker«), Nono, Berio und Globokar beeinflusst, zumal Stockhausens »intuitive« Musik für frei spielende Gruppen und die Ensembles New Phonic Art und Musique Vivante um Globokar. Hat man zahlreiche dieser Aufführungen gehört, so stellte sich eine Hüllkurven-Analogie heraus. Die Improvisationen dauerten oft an die vierzig Minuten und folgten einer Art Bogenform fast nach dem Goldenen Schnitt: Eine lange Steigerung führte zum Höhepunkt, sank dann kürzer wieder ab. Nicht zufällig dachte man an den Kopfsatz von Bartóks Musik für Saiteninstrumente. Zumindest völlige »Unbegrenztheit« blieb Utopie, wenn nicht Illusion. Dem Widerspiel von Großform, markanten »Momenten« (Stockhausen) und Endlosigkeit entkam man nicht.

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625 Jahre wird es noch dauern, bis der letzte Ton des Stücks As slow as possible auf ihr erklungen ist: Die Cage-Orgel in Halberstadt.

Noch beim späten Nono ist diese Dialektik virulent, beginnend mit dem Streichquartett (1980), zwar minutiös ausnotiert, doch in der andeutenden Rückbeziehung auf die Fragmente des späten Hölderlin wie im Begriff des »Archipels« zumindest nicht Welten entfernt von einer »unbestimmteren« Ästhetik im Gegensatz zu jeglicher Monolithik. Natürlich hat Nono trotz allem noch am Werk-Begriff festgehalten. Doch bei den späteren Werken kommen zur fixierten »Partitur« vermehrt Momente der Live-Elektronik, der Klang-Bewegung im Raum und der Mikro-Intervallik hinzu; der Anteil der Interpreten, des Raums, des Computer-, Regler- und Lautsprecher-Equipments gewinnt an Gewicht, der Elektronik-Experte (Haller, Richard) erhält kreative, zumindest kreativitätsfördernde Funktion. Die Komposition wird durch die performative Komponente mitbestimmt. Wie weit diese reicht, ist selbst innerhalb der Nono-Gemeinde nicht unumstritten.

Ohnehin ist die von Carl Dahlhaus so nachdrücklich beschworene »Idee der absoluten Musik« im Schwinden. Und selbst dem späten Adorno, gewiss aufs autonom-integrale Kunstwerk fokussiert wie wenige andere, kamen Zweifel. Im Essay Die Kunst und die Künste zog er die Konsequenz aus der Einsicht, dass die ästhetische Material-Autonomie im Sinne immanenten Fortschritts nicht mehr zu halten sei, deshalb an die Stelle der Gattungs-Hermetik die Vernetzung, ja »Verfransung« der medialen Sphären treten solle. Eindrücke bei Festivals neuer Musik, etwa in Donaueschingen, Darmstadt, Witten oder Graz haben schon lange darauf verwiesen, dass das in sich geschlossene Werk des demiurgisch waltenden Tonsetzers allmählich historisch zu werden beginnt. Zumindest dringen die performativen, installatorischen, aktionistischen oder elektronisch-audioivisuellen Tendenzen vor. Man mag diese Art von »Fortschritt« bezweifeln. Gleichwohl durchzieht er als kreatives Stimulans die Musikgeschichte. Auch wenn dies früher schon niemand wahrhaben wollte.

THEMA

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Peter Gülke, Musik und Abschied, Kassel (Bärenreiter) sowie Stuttgart und Weimar (Metzler) 2015, 364 Seiten.

Persönliche Todeserfahrung und Tod der Utopie

Hartmut Krones

»Musik und Abschied« nennt Peter Gülke sein neuestes Buch, doch wer angesichts des Autors eine systematisch-wissenschaftliche Darstellung der unterschiedlichen kompositorischen Zugänge zum Thema Tod erwartet, wird enttäuscht sein – hingegen erfüllt das Buch sämtliche weiteren Ansprüche in großer Fülle. Bietet es uns doch ein Universum von Einsichten in »Todeskompositionen« vom Mittelalter bis in die Gegenwart, und dies in einem Stil, hinter dem man zwar den Musikwissenschaftler Peter Gülke erkennt, der aber vor allem den erfahrenen und über ein stilistisch breites Repertoire verfügenden Dirigenten zu Wort kommen lässt. Und so wird selbst der nach »papierener« Wissenschaft suchende Leser nach der Lektüre des Buches reich belohnt sein, wenn er es vermag, dem Personen- und Werkregister das mit gutem Grund nicht vorhandene Darstellungssystem abzutrotzen.

Wem die dem Buch vorangestellte Widmung »Für D.« noch nichts besagt, wird in dem Vorwort »Am Abend zuvor« in erschütternder Weise mit dem Anlass der Publikation konfrontiert: »Es hatte so gut ausgesehen, dass seine Hoffnungen noch einmal hoch hinausschossen. Die als letzte Rettung empfohlene Dialyse hatte sie wider Erwarten gut überstanden und danach, anders als in den Nächten zuvor, ruhig geschlafen. So berichtete die Nachtschwester, die alle halbe Stunde nach ihr gesehen hatte – und sie gegen Morgen tot fand, still weggegangen, ohne Spuren von Quälerei und Kampf.«

Jetzt ist es klar: Das Buch ist keine Abhandlung, sondern das Buch eines Liebenden, der die persönliche Erfahrung des Todes seiner Frau mit der Todes-Erfahrung ihm lieb gewordener Komponisten bzw. mit der Darstellung des Todes in ihrer Musik vergleicht, vielleicht sie auch dort widergespiegelt sieht und dadurch aufzuarbeiten versucht. Und vor allem: sowohl seine privaten Gedanken und Gefühle als auch alle seine – höchstes wissenschaftliches Niveau besitzenden – historischen, philosophischen, analytischen und hermeneutischen Werkbetrachtungen in eine ungemein packende und zugleich immer poetische Sprache kleidet. Neben sieben ganz privaten, den »Anlass« weiterdenkenden Kapiteln (wer Zahlen-Chiffren versteht, weiß, warum es sieben sein müssen) – »Am Abend zuvor«, »Selbstgespräche« I bis V und »Ad finem« – versuchen insgesamt 54 Kapitel, uns Aspekte des in Kunst gegossenen Todes nahezubringen.

Die meisten dieser Kapitel handeln von Musik, etliche aber auch von Literatur, besser: von Dichtern, die ihre Todeserfahrungen in Verse gegossen haben. Reiner Kunze, Nelly Sachs, Per Olov Enquist, Gryphius, Goethe, Rilke, Mallarmé und Rimbaud erhalten eigene, von tiefem Verständnis für Töne und Zwischentöne getragene Betrachtungen, andere wie Schiller, Hölderlin, Kerner, Eichendorff oder Baudelaire erfahren ihre Würdigung, wenn sie Komponisten Anregungen oder Vorlagen gaben. Darüber hinaus werden »Verschwiegene Melodramen der Dichter« anhand der dort verarbeiteten Todesthematik beleuchtet, und Ferdinand Hodler sowie Hermann Broch und Marcel Proust sind weitere wichtige Zeugen dafür, wie »Erfahrungen des eigenen, absehbaren Sterbens« oder »Protokolle« menschlichen Verfalls zu Kunst gerinnen können. Schließlich erfahren auch einige Interpreten, die sich in prononcierter Form der Interpretation von Musik widme(te)n, die Fragen von Leben und Tod berührt, würdigende Worte: András Schiff, Dietrich Fischer-Dieskau (er erhält sogar eine eigene »Totenrede«), Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter und Daniel Barenboim.

Das erste »Musik-Kapitel« gilt – wem sonst? – »Schuberts Quintett«, vor allem dem langsamen Satz: »In Schuberts Adagio singen drei Mittelstimmen in einem breit gezogenen Klangband und überwiegend kleinen Intervallschritten, fast wie in alten Motetten als Choral in Langmensur«, der sich dann gegen das »Pandämonium eines Mittelteils mit hetzenden Sechzehnteltriolen« stellt, »die einen oktavierten, verzweifelt heulenden Gesang von erster Violine und erstem Cello vor sich hertreiben.« Schließlich weist Gülke auch auf das »Trauer- und Todessignet des chromatischen Lamento-Abstiegs«, dessen »rhetorischen« Namen »passus duriusculus« er zwar nicht benennt (das scheint in der deutschen Musikwissenschaft ein Tabu zu sein), den er aber wie ein passionierter »Figuren-Jäger« auch in zahllosen anderen Werken dingfest macht. – Gülkes Ausdeutung der Gesamtform von Palestrinas Missa Papae Marcelli als Predigt zeigt aber nachdrücklich, wie sehr er um das damals selbstverständliche »rhetorische Denken« der Komponisten Bescheid weiß: »Unschwer lassen sich rhetorische Kriterien festmachen, in der Sprechweise – ›latinitas‹ = übliche Ausdrucksweise; ›proprietas‹ = Angemessenheit an den Gegenstand; ›claritas‹ = Eindeutigkeit – ebenso wie in der Disposition des Plädoyers«. Das Kyrie ist als exordium »Hinführung zum Gegenstand«, Gloria und Credo sind narratio und argumentatio, Sanctus und Agnus Dei schließen sich als peroratio, pathetisch gehobene Appelle an.

Zwei Kapitel gelten Johann Sebastian Bach, so dessen »still-seliger Hingebung« an die »süße Todesstunde« oder dem »chromatisierenden Lamento«, doch auch dem lebensfrohen Gegenteil: »Wer bei ›Ich hatte viel Bekümmernis‹ überhört, dass die Bekümmernis – ›ich hatte‹! – der Vergangenheit angehört, mag erstaunt sein angesichts Bachs unbekümmerter Komposition der Worte. Wie mit dem Erstaunen rechnend eröffnet er die Fuge, als müsse zum Jubel ausgeholt werden«, belehrt uns Gülke, dem auch keine noch so komplizierten »niederländischen Künste« zu kompliziert sind, um sie uns mit leichter Hand zu erklären. Pierre de la Rue, Ockeghem, Brumel, Dufay, Josquin und Gombert werden ebenso zum Gegenstand kluger Betrachtungen wie Gesualdo oder Froberger, und selbst Josquins Zahlensymbolik, die seinen Nachnamen Desprez gemäß dem »Zahlenalphabet« (a = 1, b = 2 usw.) mit 88 gleichsetzt und dementsprechend einen Cantus firmus von 88 Noten einbringt, erfährt eine genaue Darstellung.

Jedem historisch Interessierten zur Pflichtlektüre vorgeschrieben werden sollten Gülkes Ausführungen über die (politisch motivierte) mehrfache Vertonung des Quis dabit oculis bzw. die damit verbundene Verwendung von »Versatzstücken«, wobei nur die Frage offen bleibt, warum die »Brevis« mit »Ganzer« (Note) und die »Semibreven« mit »Halben« gleichgesetzt werden. Auch die fast vollständige Aussparung jedweder Benennung der alten Modi zugunsten von »Dur«- und »Moll«-Hinweisen, die trotz der Anführungszeichen doch falsche Fährten legen, ist angesichts der ansonsten so akribischen und hochstehenden Analysen nicht ganz einzusehen. Dass die unzähligen Zitate und Werk-Nennungen keine Nachweise ihrer Herkunft bzw. Drucklegung erhalten, versteht man schon eher; das Buch wäre mit ihnen wohl fünfzig Seiten länger.

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»Im Themenkreis von Müdigkeit, Weltekel, Leiden, Sterben und Tod«: Gesualdos Madrigal Moro, lasso, al mio duolo. Tenorstimme aus dem Erstdruck, Giuseppe Pavoni, Genua 1613.