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Mario Schlembach
Dichtersgattin

Mario Schlembach

Dichtersgattin

Roman

 

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1249-8

© 2017 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan
Covergestaltung: Vilma Pflaum (Zeichnung),
Thomas Bakos (Bildbearbeitung), Marc Damm (Design)

D. U.

Typisch Österreich, Hubert! Nichts da, und selbst was da ist, wird verschandelt. Da ist nichts da. Oder siehst du was? Nur der furchtbare schwarze Boden, der schon ganz dreckig ist, und schau, sogar auf der Decke, der hässliche schwarze Boden. Was soll das, Hubert? Bitte, was soll das? Das ist so eine schöne Architektur, so schöne hohe Räume, und dann das. Alle zwei Jahre auf der Biennale in Venedig, aber so verschandelt habe ich den Österreich-Pavillon noch nie vorgefunden. Wo ist denn da die Kunst? Wo? Kein Bild an der Wand, nichts, nur die schwarze Hässlichkeit oben und unten, als würde mir das Dach auf den Kopf fallen. Na, hoffentlich haben die keine Pfuscher engagiert. Zuzutrauen wäre es ihnen ja, statt einer österreichischen Qualitätsfirma ein paar Pfuscher zu nehmen und dann zu sagen: „Nein, nein, das waren eh Künstler!“ – also die, die den Pfusch zu ihrem Beruf gemacht haben. Wieder typisch Österreich, Hubert, nicht? Typisch!

Hör auf, schon wieder das Programmheft zu lesen. Hubert, du weißt, ich lese keine Programmhefte. Selbst wenn sie gratis sind, wie du jetzt wieder sagen wirst, können sie mir gestohlen bleiben. Wie lange kommen wir schon hieher? Hubert, wie lange gehen wir schon ins Burgtheater, und immer musst du dir das Programmheft kaufen. Deine penetrante Landhöflichkeit konnte ich dir einfach nicht austreiben. Alles, was man dir anbietet, musst du sofort annehmen. Ich lese aus Prinzip keine Programmhefte. Das weißt du doch! Wenn sich mir die Kunst nicht sofort erschließt, wenn sich die Kunst erst erklären muss, dann ist es keine Kunst für mich. Wie oft muss ich dir das noch sagen. Wie oft habe ich dir denselben Vortrag schon gehalten, und du verstehst es noch immer nicht. Aber wie soll ich auch wissen, ob du es verstehst, wenn du ständig schweigst. Heute ist es besonders furchtbar. Kaum ein Wort von dir, Hubert, nur dein unerträgliches Schweigen.

Schau dir das bitte einmal an! So wollen wir als Österreich, als die Kulturnation, die wir zweifelsohne sind oder zumindest einmal waren, vertreten werden? Schrecklich! Und dafür zahlen wir Steuern? Überleg dir, was das kostet. Da werden irgendwelche Künstler eingeladen, die ich alle nicht kenne, und, Hubert, du weißt, ich kenne wirklich viele, ich traue mich sogar zu behaupten, ich kenne alle bedeutenden Künstler Österreichs. Selbst Ausländer laden sie hieher, wie beim letzten Mal, und das war natürlich auch furchtbar. Wenigstens ist es diesmal ein Österreicher, aber wieder nur so ein Randösterreicher, ein Vorarlberger. Also weiter weg von Wien geht wirklich nicht. Ein Österreicher und dann solch eine Kunst. Furchtbar, Hubert!

Die österreichische Kunst minimiert sich ins Nichts. Wenn die Leute in den Österreich-Pavillon hineingehen, der eh schon so weit vom Schuss liegt, auf einer eigenen Insel sogar, um den Rest an Kultur nicht mit so einer Stumpfsinnigkeit zu infizieren, erwarten sie schon lange nichts mehr. Ich würde es mir auch zwei Mal überlegen, hier reinzugehen, wenn ich nicht die patriotische Pflicht verspüren würde. Manchmal denke ich mir wirklich, die Leute gehen nur noch zum Österreich-Pavillon, damit sie dahinter ungestört urinieren können oder brunzen, um es mit deinem Lieblingswort zu sagen. Sie gehen alle nur Richtung Österreich-Pavillon, weil sie sich, statt in den künstlichen Plastikklos, lieber in den Brunzbüschen hinter dem Österreich-Pavillon erleichtern wollen. Österreich ist in Venedig nicht als Kulturnation, sondern als Bebrunznation vertreten.

Ich weiß, Hubert, du sagst, ich übertreibe, aber schau dir das bitte an. Da wäre es vernünftiger, wirklich nichts zu machen und den Raum einfach frei stehen zu lassen, um die Architektur aus einer besseren Zeit zu genießen. Aber dir hat der Österreich-Pavillon ohnehin nie gefallen. Jedes Mal, wenn wir den Pavillon schon von der Weite sehen, wenn wir über die Brücke gehen und du hinüberblickst, dann sagst du: „Eine Architektur der Selbstüberschätzung und Selbstgefälligkeit. Gefälligkeitsarchitektur, nichts weiter!“ Und holst zur großen, vernichtenden Rede gegen alles aus, was auch nur im Ansatz nach Nationalsozialismus riecht. Ich kenne deine Klagerede gegen den Österreich-Pavillon schon in- und auswendig. Deine erste Anklage hatte zumindest ein solides Fundament, aber heute ist es nur noch das Schlagwort „Selbstgefälligkeitsarchitektur“. Hubert, du glaubst, im Alter in deiner Argumentation dichter zu werden, aber du bleibst wie alle anderen an leeren Begriffen hängen. „Selbstgefälligkeitsfaschismus“, dieses Wort hat sich irgendwann in deinem Kopf festgesetzt, und du denkst, alles damit erklären zu können – zwei Kriege und zwei Republiken – und hast eigentlich keine Ahnung, was du mit dem Wort überhaupt sagen willst. Hubert, je älter du geworden bist, desto größer wurde die Inkontinenz deiner Gedanken.

Manchmal denke ich wirklich, wenn du wieder einmal mit deiner immer gleichen Anti-Nazi-Rede beginnst, dass du solche Sachen nur aus Boshaftigkeit mir gegenüber sagst. Egal, was ich sage, du sagst und denkst prinzipiell das Gegenteil. Als ich dir das erste Mal gesagt habe: „Ich lese keine Programmhefte“, hast du von dem Zeitpunkt an ein jedes Programmheft gekauft. Nachdem ich gesagt habe: „Ich lese keine Ausstellungstexte“, seitdem muss ich warten, bis du den Text von oben bis unten gelesen hast und natürlich in allen abgedruckten Sprachen, die du so oder so nicht verstehst.

So einen Reichtum an Kreativität, den wir heute schon gesehen haben, und dann kommen wir zum österreichischen Pavillon und vorbei ist es mit der Kreativität. Ich sollte einen Brief an den Bundeskanzler schreiben. Ich habe mir das lange genug angetan. Hubert, es reicht! Wenn wir zu Hause sind, wird das ein Brief, der sich gewaschen hat. Natürlich schicke ich den Brief nicht mit der Post, der österreichischen Post ist so ein Inhalt nicht anzuvertrauen. Ich gebe ihn direkt der Tante des Herrn Bundeskanzlers, denn die sitzt gleich zwei Reihen vor uns im Burgtheater. Dem Kulturminister könnte ich ihn auch zukommen lassen, aber dem vertraue ich schon gar nicht. Schau dir die Kulturminister der letzten Zeit an, die ihr Ressort nicht ausfüllen konnten und dadurch die Kultur zerstört haben. Kein Kultur-, schon gar kein Kunstverstand in ihren Köpfen. Die waren alle froh, dass sie gratis zu jeder Premiere gehen konnten, um dem tristen Politiker-alltag zu entfliehen und um hinter der Bühne ein paar Fotos mit den Schauspielern oder Musikern zu ergattern. Hubert, selbst ein Burgschauspieler hat sich einmal für die Politik abgeordnet. Nicht zum Aushalten, nicht zum Anschauen, wenn sich ein Mensch der Kunst für die Politik prostituiert und dann denkt, er könnte noch Künstler sein. Im Politischen geht alles Künstlerische am Menschen verloren. Ich habe dir das ständig gesagt. Ich verliere jegliches Interesse an der Kunst, wenn sie politisch wird und dadurch völlig berechenbar. Mischt sich das Politische mit dem Künstlerischen, dann ist alles vorbei.

Ich kann mir heute keine Nationalratssitzung mehr anschauen, und natürlich läuft sie bei uns zu Hause ständig im Fernsehen, als würdest du erahnen, dass ich ins Zimmer komme, und schon rennt diese ermüdende Veranstaltung völliger Geistlosigkeit im Fernsehen. Und andauernd musst du, gerade wenn ein Politiker spricht, den Fernseher auf volle Lautstärke stellen, damit ich ja höre, wie sie alle nie zu ihrer Sprache gefunden haben und als invalide Sprachgeister ihre Zeit absitzen. Hubert, ich habe ein Burgtheatergehör und muss mir anhören, wie sie bei jedem rausgestotterten Halbsatz den halben Satz verschlucken.

Es ist unerträglich, den Verfall der österreichischen Kultur mitzuerleben. Die Kultur wird bei allen politischen Programmen hinten angestellt, es wird gesagt: „Kultur steht nicht auf unserer Prioritätenliste!“ Weil sie heute noch immer den Schuldenstand ihres eigenen Parteistumpfsinns abbauen müssen.

Ich könnte mich stundenlang aufregen, wenn ich den Österreich-Pavillon betrete und, Hubert, du weißt, das ist nicht gut für meinen Blutdruck. Ein neuer Gustav Klimt, ein neuer Oskar Kokoschka, das sollte an den Wänden hängen, irgendwas Erhabenes und Schönes, was unser Land auch würdig repräsentiert. Aber das, Hubert? Die Verschandlung zur Kunst erheben, das ist schon allerhand. Als würde man den Besuchern am Eingang die Augen verbinden und sagen: „Sehen Sie, das ist Österreich.“ Furchtbar, Hubert! Da haben wir uns so einen Prunkbau bauen lassen, und dann so was. Andere Länder haben nicht einmal einen Abstellraum zur Verfügung, aber natürlich die bessere Kunst. Selbst die Dritte-Welt-Länder haben sich etwas Vernünftiges einfallen lassen, was auch zum Thema passt: „Die Zukünfte der Welt.“ Also welche Zukunft erwartet uns in Österreich? Stumpfsinn und Verblendung, wenn es nach dem Pavillon hier geht. Ein Niedergang, um es auf den Punkt zu bringen.

Das ist ein Ort der Kunst, sollte ein Ort der höchsten Kultur sein, und wir, die Kulturelite, machen einen Ort der Reflexion und Ruhe daraus, wie du es vorher im Programmheft gelesen hast. Ein Ort der Reflexion soll das sein, geh bitte, Hubert, da kann ich zu Hause sitzen und reflektiere entspannter und müsste mich nicht so furchtbar aufregen. Dieser Ort ist lebensgefährlich für uns, Hubert, vor allem in unserem Alter, wo alles schon lebensgefährlich ist. Ein Ort der Reflexion und Ruhe, aber du nimmst das viel zu wörtlich. Hubert, jetzt sag einmal was! Spätestens, wenn ich mit den größten Klischees beginne, erhebst du deine Stimme, zumindest zu einem Wort der Gegenstimme. Wie soll ich dich denn noch provozieren, damit du endlich etwas sagst? Ich komme mir schon blöd vor. Hubert, jetzt sag was. Ich halte dein Schweigen nicht aus. Wenn du einmal in den Rausch deiner Gedanken fällst, dann hast du auch etwas zu sagen, aber natürlich sagst du es dann nicht, sondern schreibst es immer nur auf. Mir kommt es so vor, als würden wir nur durch das Schreiben miteinander kommunizieren. Ich rede und du schreibst. Wir monologisieren beide, Hubert.

Wenn ich nicht eines Tages zufällig dein offenliegendes Notizbuch gelesen hätte, Hubert, wenn ich nicht jeden Tag ohne dein Wissen deine Notizen lesen würde, dann wüsste ich gar nichts von dir. Warum kannst du nicht so sein, wie du schreibst, Hubert? Warum kannst du im Leben nicht so sein, wie du es in Worte packst? Wir hätten ein hochgeistiges Leben führen können, aber du sitzt nur da und schweigst.

Da steht groß „Austria“ auf dem Pavillon und da geht man natürlich mit allerhöchster Erwartungshaltung hinein, weil Österreich stets ein Etikett für besondere Geistesgröße war. Und jetzt schau in ihre Gesichter, Hubert. Sie lachen verlegen und suchen, wo die Kunst sein könnte. Der Ausstellungstext ist auch so versteckt, dass man ihn gar nicht entdeckt. „Tsss“, ist das einzige Geräusch, das man aus ihren Mündern als Kommentar zu dieser Kunst hört und der ist in allen Sprachen gleich. Sie gehen einmal im Kreis. Riechen an den Gartenpflanzen und marschieren wieder raus. Und was bleibt dann hängen von Österreich in den Köpfen der Besucher? Ah, das war doch der leere Pavillon.

Es wäre alles da, um wirklich einen tollen Kunstpavillon, eine grandiose Ausstellung zu gestalten, aber das einzig Kunstvolle wurde verschandelt, und so kann man gerade noch den Bäumen und Büschen im Garten beim Gedeihen zuschauen und selbst die hat man ohne jeglichen Kunstverstand wild wachsen lassen. Gartenarchitektur, Hubert! Was haben wir für schöne Gartenanlagen in Österreich! Wir sind berühmt für unsere einzigartige Landschaftsarchitektur. Alleine in Wien: Schönbrunn! Belvedere! Das Belvedere, Hubert! Überall das Wort „Schön“ im Namen, und hier stellen wir die Hässlichkeit unserer eigenen Niedertracht zur Schau. Selbst die italienischen Büsche von draußen lässt man in den österreichischen Garten wachsen und vermischt dadurch Kulturen, die gar nicht zusammenpassen.

Hätte man da wenigstens einen Jagdpavillon daraus gemacht. Ein paar Jäger hergesetzt, die die Vögel von den Bäumen schießen. Das ist nicht zu ertragen, die ständige Zwitscherei, und da soll man reflektieren? Eine Jagdgesellschaft her, die sich in den Österreich-Pavillon einkaufen kann. Das wäre einmal ein richtiger Kunstakt und hätte auch hundertprozentig mit Österreich zu tun. Das Jagdwesen ist ja im Wesen des Österreichers tief verankert. Am Hochstand sitzen und so lange schweigen, bis man die Tiere geködert hat und von hinten erschießt. Hubert, ein Jagdpavillon, das wäre was, das hätte Wellen geschlagen und einen handfesten Skandal ausgelöst. Der Österreich-Pavillon bräuchte einen wilden Aufruhr, um da wieder Lebensgeister hineinzubringen. Das ist eine tote Veranstaltung hier und ich bin gespannt, wen sie als nächsten einladen. Noch weniger als jetzt kann es nicht sein, aber die Österreicher, wie ich sie kenne, schaffen selbst das und schicken irgend so einen mickrigen Wurm hieher. Wenn wir Glück haben, erleben wir es gar nicht mehr, Hubert. Wir sind in einem Alter angekommen, wo jede Biennale unsere letzte sein könnte.

Seit jeher heben wir uns den Österreich-Pavillon für den Schluss auf, und dann so was. Der Schlagobers zum Schluss, sage ich immer, immer der Schlagobers zum Schluss und, Hubert, du weißt, wie sehr ich den Schlagobers liebe. Den Schlagobers nie oben drauf auf den Kaffee, sondern stets auf einen Extrateller und mit dem letzten Schluck genießen. Genau das wollte ich jetzt auch machen. Hubert, wir haben uns den Österreich-Pavillon extra als krönenden Abschluss aufgehoben und jetzt bleibt uns nichts als dieser bittere Nachgeschmack.

Da haben es die Ungarn schon geschickter gemacht. Ihr Pavillon liegt genau in der Mitte der Giardini und ist ein viel schöneres Gebäude als unseres. Der ungarische Pavillon ist wunderbar, nur die Ausstellung darin ist natürlich auch furchtbar. Fast noch schrecklicher als hier, obwohl man das Nichts hier mit nichts vergleichen kann. Wenigstens wurde im Pavillon von Ungarn nicht die Architektur so verstellt. Sie haben einen Pavillon im Jugendstil und du weißt, Hubert, wie sehr ich den Jugendstil liebe. In unserer Biedermeierwohnung halte ich es nicht mehr lange aus, das habe ich dir schon vor über zwanzig Jahren gesagt. Ich halte es nicht aus, Hubert. Jugendstil! Jugendstil habe ich zu dir gesagt, und ich komme nach Hause und wir leben in einer Biedermeierhölle. Wie dir das nur gefallen kann. Ich verstehe es nicht. Jahrelang bist du jede Woche ins Dorotheum und bist mit einem anderen Biedermeiermonster dahergekommen. Furchtbar, Hubert. Statt Blumen hast du mir die nächste Biedermeierhässlichkeit mitgebracht.

Sogar die Briten, Hubert, haben es geschafft, in ihrem Pavillon einen Österreichbezug herzustellen. Du hast selbst für Minuten auf den riesigen gelben Phallus am Eingang gestarrt, der bis zur Decke reicht. Das hat wenigstens im Ansatz einen Österreichbezug. Hubert, schau mich jetzt nicht so dumm an. Steht das nicht in einem deiner geliebten Programmhefte? So eine junge Führerin hat das gesagt: „Die Künstlerin hat die Skulptur in Erinnerung an den österreichischen Bildhauer Franz West gemacht, den sie verehrt hat.“ Wenigstens eine Arbeit, die mit Österreich was zu tun hat, ein Beidl, der bis zur Decke reicht. Hubert, du liebst doch solche billigen Pointen, nicht? Und heute nichts, nicht einmal eine Erregung, nicht einmal ein Zucken im Mundwinkel oder zumindest dein von mir verabscheutes Augenwegdrehen.

Zum Glück ist die Schweiz heuer auch nicht besser dran. Die haben gleich den ganzen Pavillon geflutet und melden wahrscheinlich noch Wasserschaden an, damit sie von der Versicherung abkassieren können. Die Schweiz ist das einzige Land, das selbst aus ihrer Kunst Geld herauspressen will.

Und in jedem zweiten Raum schon eine Filminstallation, als wäre das so furchtbar neu, überall Filme, in jeglicher erdenkbaren Projektion und auf jeder verfügbaren Projektionsfläche. Wie viele Beamer sie für die Biennale brauchen, ist unvorstellbar. China macht einen Beitrag mit dem Titel „The deep nothing“, „Das tiefe Nichts“, Hubert, und braucht dazu in jedem Raum mindestens zehn Beamer. China ist das Paradebeispiel für die Zerstörung jeglicher Tradition. Welch reiches Land war das? Und dann machten sie eine Kulturrevolution und jetzt ist nichts mehr da, und selbst das müssen sie mit Hunderten von Beamern nach Europa projizieren. Wir haben zumindest heute noch etwas, was man zustellen und verschandeln kann, Hubert, aber wenn wir so weitermachen, werden auch wir bald für das Nichts bezahlen müssen.

Gleich links von Österreich ist der jugoslawische Pavillon. Na, wenigstens ist das Land in dem Pavillon noch vereint. Groß über dem Torbogen steht „Jugoslawien“ einbetoniert, weil man glaubte, das sei ein ewiges Reich. Da waren die Österreicher schon gescheiter und haben das, im vollen Bewusstsein ihrer identitätsstiftenden Entscheidungslosigkeit, nicht in Stein gemeißelt, sondern ein austauschbares Schild an die Wand gehängt, wo jetzt „Austria“ draufsteht, aber auch jeder andere Name hängen könnte.

Jugoslawien hat heuer eine wirklich großartige Ausstellung und ich sage selten etwas Positives über die Jugos, wie du weißt. Aber schon ihr Pavillon alleine symbolisiert den Niedergang von ideologischen Ideen, und genau das wird in der Ausstellung diskutiert. Sie haben Schilder aufgehängt, in die die „Vereinigten toten Nationen“ wie Grabinschriften eingraviert wurden – Gründungszeit und Endzeit – und darunter liegen ihre ausgewaschenen Fahnen, die der Künstler auf den Boden geschmettert hat. Und natürlich liegt da auch unsere Monarchie am Boden, Hubert. So eine großartige Idee, Jugoslawien. Das Medium gleich zur Botschaft machen. Grandios! Und dann geht man ein paar Schritte weiter, betritt Österreich und starrt der Leere ins Auge. Aber vielleicht ist genau das die einzige Botschaft, die unser Land heute noch vermitteln kann, Hubert, nicht?

Wenigstens muss die Aufpasserin im Österreich-Pavillon nicht, wie in all den anderen Ausstellungsräumen, zu den Leuten hinlaufen und ständig sagen: „Don’t touch it.“ Im Österreich-Pavillon gibt es nichts, was man berühren könnte oder gar was einen selbst berührt, einen zur Berührung zwingt. Im Österreich-Pavillon wären sie froh, wenn einmal irgendwer Hand anlegen würde. Das ist ein typisch österreichischer Wurschtigkeitspavillon, Hubert. Der wird dagestanden sein, der Künstler, und sich gedacht haben: „Schau ma mal.“ Und dann war die Biennale da und er ist noch immer dagestanden und hat gesagt: „Na, schau ma mal, was sie sagen.“

Das Minimalistische, worauf sie im Österreich-Pavillon hinauswollen, ich bin ja noch nicht ganz verblödet, Hubert, ist prinzipiell ja gut, aber man muss auch eine Idee dahinter erkennen. Ich will nicht, bevor ich in so eine Ausstellung gehe, eine Dissertation über das Nichts in der Kunst lesen müssen, um das dann zu verstehen. Das ist – es tut mir für den Künstler leid, das zu sagen – einfach schlecht umgesetzt. Man muss bedenken, wo wir sind. Wenn die Kunst nicht im Bruchteil einer Sekunde klickt, dann schalte ich ab. Irgendwann ist es genug mit der Kunst. Irgendwann ist es aus. Wenn man nicht sofort die Idee hinter der Kunst erkennt, Hubert, dann kann sie nichts sein. Auf die Idee kommt es an. Wie lange kommen wir schon hieher, Hubert? Wie lange? Und was sage ich immer? Was habe ich all die Jahre gesagt? Hubert, du weißt es. Hubert, sag es. Hubert, sag’s! Die Idee. Auf die Idee kommt es an. Aber vermutlich ist es auch besser für Österreich, keine Idee zu haben. Wir sehen ja, in welche Bedeutungslosigkeit uns die letzte große Idee geführt hat und müssen heute noch mit den Konsequenzen leben.

Du denkst dir sicherlich wieder, ich gehe zu weit, Hubert, und natürlich gehe ich zu weit. Lieber zu weit gehen, als auf halber Strecke an Atemnot und Geistlosigkeit zu verrecken und nur noch dahinzuvegetieren, wie meine Altersgenossen, das habe ich dir immer gesagt.

Hubert, du siehst ganz fertig aus, aber das ist kein Wunder. Es ist einfach zu viel für einen Tag. Ich habe es dir gesagt und sage es dir bei jedem Mal: Die Biennale ist an einem Tag nicht zu schaffen. Aber du wolltest einfach nicht hören. Hubert, wir haben jedes Mal mindestens zwei Tage hier verbracht, manchmal sogar eine ganze Woche, und heuer wolltest du alles an einem Tag sehen, nur weil du morgen zum Begräbnis in dein geliebtes Bauernkaff fahren musst.

Ich bin schon ganz blöd im Kopf, Hubert. Als ich vorher auf die Toilette gegangen bin, habe ich nicht mehr die Klozeichen erkennen können, so verblendet bin ich bereits von der Kunst. Mein Kopf ist nicht mehr aufnahmefähig und schüttet alles, was reinkommt, gleich wieder aus. Morgen werde ich mich an nichts mehr erinnern können, was wir heute gesehen, was ich gesagt habe. Alles weg. Unser Hirn ist auch nicht mehr das Jüngste, Hubert, das muss man akzeptieren. Auch wenn ich meinen Verstand ein Leben lang trainiert habe, merke ich, wie er langsam nachlässt. Es ist zu viel Kunst für einen Tag. Alleine das Wort „Kunst“, wenn ich das noch einmal höre, dann übergebe ich mich gleich. Ich brauche heute gar nichts mehr trinken, so berauscht bin ich von der Künstlichkeit auf jedem Quadratzentimeter, auf dem wir uns hier bewegen. Ich bin völlig kunsttrunken. Morgen werde ich mit einem endlos schweren Kopf aufwachen. Obwohl – jede Sekunde, die wir länger in dem Österreich-Pavillon verbringen, nüchtere ich nach und nach wieder aus. Vielleicht war es sogar besser, Österreich ganz zum Schluss zu machen. Überleg dir, Hubert, wir hätten mit Österreich begonnen! Von dieser Kunstlähmung hätten wir uns den ganzen Tag nicht mehr erholt. Von der Leichenstarre österreichischer Kunstlangeweile gibt es keine Auferstehung.

Weil wir auch immer mit dem Arsenal beginnen müssen. Hubert, was wir für Zeit in den riesigen Hallen des Arsenals liegen lassen, anstatt gleich mit den Giardini, also den Pavillons, also der richtigen Biennale zu beginnen. Im Arsenal wird man erschossen von den Eindrücken, da ist man eingesperrt und entkommt der Kunst nicht. Ich weiß nicht warum, aber jedes Mal bestehst du darauf, dass wir mit dem Arsenal beginnen. Vielleicht weil du sofort die Assoziation zum Arsenal in Wien herstellst, zu dem von dir geliebten Heeresgeschichtlichen Museum, wo du fast jede Woche einmal hinrennst. Der Krieg, der Krieg, ständig der blöde Krieg in deinem Kopf. Nur der Tod interessiert dich mehr als der Krieg. Von den Bildern deiner Kindheit konntest du dich nie befreien, Hubert. Hörst du „Arsenal“, dann ist schon der Krieg in deinem Kopf und natürlich auch der Tod, weil das unweigerlich zusammengehört, und nichts mehr bringt dich davon ab, dorthin zu laufen. Der Krieg ist der zügellose Sohn des Todes, hast du geschrieben. Selbst heute, wo wir nur einen Tag für alles Zeit haben, mussten wir unbedingt mit dem Arsenal beginnen und schau dich jetzt an, Hubert, du bist völlig erschöpft und erstarrt von all der Kunst.

Hörst du mir überhaupt zu, Hubert, oder schläfst du schon? Du bist Weltmeister im Hinsetzen-und-sofort-wegnicken. Du hast diese Fähigkeit über Jahrzehnte hinweg im Burgtheater perfektioniert. Keine Sekunde sitzt du und sofort schläfst du ein. Hubert, jetzt sag einmal was!

Venedig verkommt während der Biennale zu einer einzigen Bühne der Künstlichkeit. Die Häuser stehen schon lange leer und werden alle mit Kunst bespielt. Einen wirklichen Venezianer findest du in der Stadt gar nicht mehr. Was wir heute Venedig nennen, ist alles, aber nur nicht Venedig. Die Künstlichkeit wird in ein unerträgliches Maß potenziert, bis wir von einer zur nächsten Scheinblase durch die Welt reisen. Hubert, Venedig war von Anfang an eine Scheinwelt, aber heute ist da kein Leben, kein Geist mehr zu finden. Wie in einer Glaskugel schütteln wir den Schnee auf uns herab und begeben uns in die verfälschten Landschaften unserer Seele.

Wir haben das „Venedig in Wien“ nicht mehr gesehen, Hubert. Wir sind zu spät geboren. Mein Vater erzählte mir von einem Anblick im Prater, den ich tief in mir trage, als wäre ich selbst dabei gewesen. Wie mein Vater „Venedig in Wien“ beschrieben hat, so habe ich mir das wirkliche Venedig stets vorgestellt, aber nie erlebt. In Wien wurde Venedig in seiner ganzen Bedeutung dicht, heruntergebrochen auf die wesentlichen Dinge. Einmal ein dichtes Venedig. Stell dir das vor, Hubert! Und der Prater, zu was ist er heute geworden? Zu einem Spiegeltrinkkabinett für Sozialschmarotzer und einer Jugend ohne Zukunft, die ihre Ideale in Wachs formt. Es ist furchtbar.

Hubert, wenn die Spielzeit zu Ende ist, dann reisen wir. Wir schwitzen uns in Venedig zu Tode, aber immer noch besser, als die Sommertheater in Österreich ertragen zu müssen. Ich verabscheue die Sommertheater. Wie das Unkraut schießen sie aus allen Löchern und sind auf das sogenannte Wohlfühltheater aus, wie sie in ihren Ankündigungen schreiben, wo auch einmal gelacht werden darf. Eine zweieinhalbstündige Kur-Anwendung zur Reinigung der Seele vom Wahnsinn der Zeit, wie sie schreiben und nichts von Katharsis jemals verstanden haben. Ich habe mich dem Sommertheater verweigert, weil es für mich kein Theater ist. Das Theater vermodert hier, Hubert, ich habe es dir immer gesagt, zu einer reinen Unterhaltungsmaschine, und ich halte davon wirklich nichts. Hubert, die Sommerfrischeveranstaltungen bringen nur die lächerliche Präpotenz der Leute zum Vorschein, die das ganze Jahr, also die ganze Spielzeit theaterblind durch die Städte laufen, aber sobald die Karten das Zehnfache kosten und die Inhalte wie ein Sommerspritzer verwässert werden, doch einmal im Jahr sich dem Theater hingeben und dann auf Kulturmenschen tun. Erst dann, wenn sie wirklich tief in die Tasche greifen müssen und das Drumherum an Bedeutung gewinnt, erst dann wird es interessant, wie es scheint. Hubert, vor allem die Salzburger Festspiele sind mit den Jahren zu einer Scheinveranstaltung degradiert worden und haben nichts mehr mit der eigentlichen Idee, die dahintersteckte, zu tun. Nur ein Gulasch wird besser, wenn man es immer wieder aufwärmt, aber nicht das Theater und schon gar nicht die Salzburger Festspiele. Und Salzburg selbst ist nur noch ein Hollywood für Alpenfaschisten, in dem die asiatischen und amerikanischen Touristen aus irgendeinem medialen Irrglauben heraus die dummen Edelweißösterreicher wie die Affen im Zoo in ihren Lederhosen und Landestrachten abfotografieren wollen. Und wir spielen das Spiel mit.

Wir sind stets aus Österreich geflohen, Hubert, wenn dort die Dummheit und Stumpfsinnigkeit im Sommer zum Überkochen gerät. Ich hasse den Sommer und fiebere – nach zweimonatiger Geistesstarre – wie ein aufgeregtes Schulmädchen meinem ersten Tag im Burgtheater entgegen.

Sag endlich was, Hubert. Gib zumindest irgendwas von dir. Heute bist du besonders still. Es ist immer so schwer, mit dir zu reden. Als hättest du nichts zu sagen und dann schweigst du so furchtbar. Du passt so richtig in den Österreich-Pavillon. Der Schweiger Hubert! Nicht Rodins Denker, sondern der österreichische Schweiger und eigentlich Verschweiger. Du schweigst ja nicht, Hubert, du schreibst das dann alles auf und hier verschweigst du mir deine Gedanken, was natürlich die schrecklichste Form der Lüge ist. Du bist so ein richtiger Österreicher, Hubert. Ein richtig typischer Österreicher, immer schon gewesen. Ich konnte dir das nie austreiben.

Hubert, ich rede mit dir. Ja, noch immer. Weißt du schon, wohin wir essen gehen? Du bist in allem so unschlüssig. Was wärst du für ein Mann geworden, wenn du dich einmal entscheiden hättest können. Was für ein Dichter, Hubert! Damals war das noch charmant, so am Anfang, da dachte ich, was für ein Gentleman, aber mit der Zeit entlarvte sich dein Schweigen als Denk- und Entscheidungsstarre.

Du bist so passiv, Hubert, so furchtbar passiv. Der Österreich-Pavillon kann dich nicht so vereinnahmen, dass du jetzt gar nichts mehr sagst. Nicht einmal ein Zwinkern, als wärst du völlig zur Kunst erstarrt. Hubert, du sitzt da, als wärst du tot. Das würde noch fehlen, ein Toter im Österreich-Pavillon. „Zu Tode gelangweilt im Österreich-Pavillon der Biennale Venedig“ wäre dann morgen die Schlagzeile in irgendeinem Boulevardblatt.

Hubert, jetzt sag was! Es ist nicht mehr witzig, was du da machst. Nur weil du auf das Begräbnis im Dorf nicht verzichten kannst, hängst du da, als wärst du tot. Hubert! Hubert, bist du tot? Das ist aber eine ganz schlechte Pointe, Hubert. Ganz schlecht. Hubert, das kannst du mir nicht antun, was denken die Leute.

Hubert! Hubert!! Hubert!!!

Ich hoffe, du hast wenigstens nicht vergessen, den letzten Versicherungsbeitrag zu zahlen, Hubert, wie bringe ich dich denn sonst zurück in deine abscheuliche Provinz? Geh, Hubert, so kannst du mir nicht wegsterben.

Hubert! Typisch.

 

Hubert, du kannst nicht so einfach im Österreich-Pavillon sterben. Deinen Tod hast du minutiös geplant, einen jeden Schritt, den ganzen Weg, genau, wie du das haben wolltest. Du Wahnsinniger hast schon mit vierzig angefangen, beim Wiener Verein einzuzahlen, damit die Raten billiger sind, wie du gedacht hast. Natürlich ist in den über vierzig Jahren auch dein letzter Weg teurer geworden. Wofür man damals noch eine Luxusbeerdigung veranstalten konnte, selbst mit Fiaker und allem Firlefanz, dafür bekommst du heute vielleicht ein besseres Sozialbegräbnis mit Kremationssarg. So ein schönes Sterbezimmer habe ich dir gleich neben deinem Arbeitsraum, bei all deinen Schriften eingerichtet, und dann stirbst du mir einfach ohne Vorwarnung.

Du wolltest unbedingt bei offenem Sarg aufgebahrt werden, Hubert. Ich weiß nicht, warum dich das Bild von deinem Großvater, den du als Bub so gesehen hast, derart fasziniert hat. Alle sollten dich noch einmal sehen, in dein totes Gesicht schauen können. Nichts furchtbareres, als wenn sie dich in Erinnerung behalten wollen, wie sie dich gekannt haben, hast du in deinen Aufzeichnungen geschrieben. Nein, das tote, das letzte Gesicht sollen sie sich einprägen, und alle anderen Eindrücke von dir in ihren Köpfen auslöschen. Selbst auf deinem Partezettel wolltest du ein Porträt deiner Totenmaske haben. Du hast es sogar wortwörtlich so in einen deiner vielen Testamentsentwürfe hineingeschrieben: „Das letzte Gesicht von mir soll das tote sein.“ Ich glaube, du hast sogar das Wort Fratze benützt, wenn ich mich genau erinnere. „Auf meinem Partezettel soll meine Totenfratze zu sehen sein.“ Aus deinem politischen Protest heraus natürlich links oben und am besten auch noch als Wasserzeichnung über die ganze Parte im Hintergrund. Statt irgendeinem kitschigen Sonnenuntergang, Waldweg oder Kreuz, wolltest du deinen aufgerissenen zahnlosen Mund und die ins Nichts starrenden Augen auf deiner Parte. Ich habe nur den Kopf geschüttelt, als ich deinen Wahnsinn gelesen habe. Hubert, ich bin wirklich einiges gewohnt, aber solche Absurdität ist mir auch noch nicht untergekommen.

Das ist nicht auszuhalten, Hubert. Dein Leben hast du damit verbracht, Pläne zu deinem Tod zu schmieden, und dann so was. Du hast dich dein Leben lang mit der natürlichsten Sache auseinandergesetzt und dann stirbst du mir im Epizentrum der Künstlichkeit, was deinen Tod zu einem einzigen Witz machen wird. Hubert, sag doch was! Ich glaube dir das einfach nicht. Das kann nur einer deiner schrecklichen Scherze sein.

Du hast einen furchtbaren Sinn für Humor, Hubert. Zu Beginn unserer Beziehung wirkte er noch anziehend auf mich, weil ich das nicht kannte. Niemand konnte über deine makabren Scherze lachen, aber du bist mit einem bestialischen Grinsen herumgelaufen. Hubert, es ist nicht mehr witzig, wach auf. Ich dachte, wir hätten die blöden Spielereien überwunden und wir können endlich ernsthaft miteinander reden. So vieles konnte ich dir an schlechten Gewohnheiten austreiben, aber deine blöden Scherze sind geblieben. Furchtbar!

Vor fünfzig Jahren bin ich in dein Dorf gekommen, Hubert. Vor fünfzig Jahren, Hubert, stell dir das vor! So lange ist das schon wieder her. Ohne mich wäre aus dir nichts geworden. Wie deine Altersgenossen wärst du schon lange tot und hättest den Großteil deiner Zeit im Wirtshaus verbracht und dich furchtbar, im einstimmigen Chor mit allen anderen Spiegeltrinkern, die ihr eigenes Spiegelbild schon lange nicht mehr ertragen können, über die Schlagzeilen irgendeines Schundblattes aufgeregt. Hubert, ich habe dich aus der Provinz und vor einer vorhersehbaren geistigen Verwelkung gerettet, und kein einziges Mal hast du mir dafür gedankt.

Welch Ironie des Schicksals, dass wir uns gerade am Feuerwehrfest deines Dorfes trafen, obwohl ich das Land wie sonst nichts verabscheue. So ein Zufall ist überhaupt nicht denkbar, Hubert, und deshalb habe ich es als Bestimmung akzeptiert. Was für ein unbeschreiblicher Glücksfall war das für dich! Und ich bin noch zur rechten Zeit gekommen. Deine Kameraden standen kurz davor, dich zum neuen Feuerwehrhauptmann zu ernennen, aber ich habe dich davor gerettet, Hubert. Gerettet! Du warst auf dem sichersten Weg, der nächste Bürgermeister zu werden, und du wärst genauso zeitig gestorben wie alle anderen. Du siehst doch, wie früh solche Dorfbürgermeister sterben. Ein Bürgermeister, der überleben will, darf nicht bei jedem Verein das Glas heben, nur überlebt er dann als Bürgermeister nicht.

Ich weiß, du glaubst nicht an Schicksal, Hubert, ich doch auch nicht, aber wie willst du dir das sonst erklären? Ohne Nachfragen habe ich unsere Begegnung als Zeichen akzeptiert. Ich bin hinein in das Zelt und da bist du gestanden. Eine Eruption, Hubert, irgendwas geschah, als sich unsere Augen trafen. Ich habe eine fundamentale Kraft in dir erkannt und sah, wie du anderen zuhörst. Dein Gehör fasziniert mich bis heute, Hubert. Deine Kameraden haben alle auf dich eingeredet, ohne dass du auch nur ein Wort gesagt hättest, aber sie redeten weiter, weiter, immer weiter. Dein Gehör, ich hatte so etwas noch nie gesehen. Ich war so fasziniert, dass ich mich, ohne nachzudenken, in deine Runde drängte, Hubert, und mich vorstellig machte, was ich noch nie getan hatte. Ich habe geredet und du hast zugehört. Du hast wohl auch etwas gesagt, aber in deinem furchtbaren Dialekt, von dem ich natürlich kein Wort verstanden habe. Es war mir egal.