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ULRIKE UND MANFRED JACOBS

Sisis Vermächtnis

Für Jeanne und Max

Copyright © 2017 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Alexander Potyka,
Umschlag unter Verwendung
eines Bildes von gibavision/iStockphoto
ISBN 978-3-7117-2054-2
eISBN 978-3-7117-5351-9

Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Ulrike Jacobs, in Linz/Donau geboren, studierte Psychologie und Kunstgeschichte in Salzburg. Sie arbeitet freischaffend für Film, Fernsehen und Theater und lebt in Wien und Saarbrücken.

Manfred Jacobs ist Jurist, arbeitete als Anwalt und war Direktor am Rechnungshof des Saarlandes. Autor von Fernseh- und Kinderfilmen, lebt in Saarbrücken und Wien. 2007 erschien ihr gemeinsamer Roman »Die Grenzgängerin – Elisabeth von Lothringen«.

ULRIKE UND MANFRED JACOBS

Sisis Vermächtnis

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

Inhalt

1. DR. KAISER WIRD DIREKTOR

2. NEUE BESEN WIRBELN STAUB AUF

3. EIN FAST PERFEKTER PLAN

4. EINE KÖNIGLICHE MELODIE

5. NORMANNISCHE SITTEN

6. DAS GLÜCK IST EIN VOGERL

7. EINE FOLGENREICHE ENTSCHEIDUNG

8. ÖSTERREICHS VORBILDLICHSTER BEAMTER

9. DIE GRÄFIN FINDET EINEN KOMPLIZEN

10. DAS VERMÄCHTNIS DER KAISERIN

11. DIE LIPIZZANER-VERSCHWÖRUNG

12. IST ES SCHWIERIGER, EINE LIEBE ZU RETTEN ALS EINEN STAAT?

13. JOSEPH KAISER FIEBERT

14. ELISABETH BEHÄLT EINEN KÜHLEN KOPF

15. EINE GANZ PERSÖNLICHE BOTSCHAFT

NACHBEMERKUNG

Il est permis de violer l’ histoire, à
condition de lui faire un enfant
.

ALEXANDRE DUMAS

1.
DR. KAISER WIRD DIREKTOR

Wien, im März

Die Touristen, die wie jedes Jahr zu Beginn des Frühlings in ständig zunehmender Zahl zur nahe gelegenen Karlskirche strömten, hatten kein Auge für das Palais in der Kreuzherrengasse. Dabei hätten seine schlanke Fassade, der dreigeschossige Aufbau, die hohe Eingangstür mit den weißen Beschlägen durchaus einen Blick gelohnt. Einem aufmerksamen Touristen wäre sicherlich aufgefallen, dass alles an diesem Haus ein wenig kleiner und dezenter war als bei den großen Patrizierhäusern, die es umgaben. Dazu mochte auch passen, dass es aus der Häuserflucht einige Meter nach hinten zurückgetreten zu sein schien. Und vielleicht hätte der neugierige Tourist dann auch bemerkt, dass sie, die Touristen, ihrerseits aus zwei verschiedenen Etagen des Palais beobachtet wurden.

Es war keineswegs ungewöhnlich, dass Dr. Joseph Kaiser vor dem bis zum Boden reichenden Fenster im Obergeschoss des von ihm und seiner Mutter bewohnten Hauses stand und die vorbeieilenden Touristen betrachtete. Er liebte es, den Leuten beim Gehen zuzusehen und ihre Eigenarten aufzuspüren. Einzelne mit seinen Blicken aus der Menge herauszuheben für die kurze Spanne, bis sie um die nächste Ecke bogen. Und oft gelang es ihm, den beschwingten Gang einer Frau, das Hüpfen eines Kindes in Töne überzuführen, die sich dann am Flügel wie von selbst zu Melodien fügten.

Doch an diesem Tag war alles ein wenig anders.

Dr. Joseph Kaiser, vor wenigen Wochen dreißig Jahre alt geworden, hatte die Hände in den Taschen seines Smokings vergraben, die Schultern leicht vorgezogen, und presste nun seine Stirn ans Fenster. Er sog mit der Zunge die Kälte der Glasscheibe auf, rollte dann sein Gesicht auf der Scheibe ab, um hernach den Gesichtsabdruck einer eingehenden Prüfung zu unterziehen.

Theodora Anna Rosa Kaiser, geborene Gräfin Walburg, wäre bestürzt gewesen, hätte sie ihren Sohn so gesehen. Wie Joseph hatte sie sich für den unmittelbar bevorstehenden Anlass festlich gekleidet. Das weinrote Abendkleid, das ganz schlicht und nur um die Hüften gerafft war, betonte ihre schlanke Figur. Sie war mit dem Ankleiden und der Toilette länger beschäftigt gewesen, denn die bevorstehende Amtsübergabe hatte sie doch mehr aufgeregt, als sie noch am Abend zuvor gedacht hatte. Nun stand sie ein Stockwerk tiefer als ihr Sohn an einem der drei Salonfenster der Beletage und schaute ebenfalls auf die Gasse und den sich am Ende öffnenden Platz. Wie Joseph sah sie die Touristen ihrer vorgezeichneten Wanderroute zur Karlskirche folgen, vorbei an der von Otto Wagner erbauten Stadtbahnstation und dem prächtig renovierten Gebäude des Wiener Musikvereins. Doch ihre Gedanken zog es immer wieder in die obere Etage.

Theodora Kaiser war stolz auf ihren Sohn, auch wenn sie Wehmut darüber empfand, ihr Glück nicht teilen zu können. Noch vierzehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes, Josephs Vater, war sie sich des Verlustes an jedem und an diesem Tage besonders bewusst.

Spätestens jetzt, als sich Mutter und Sohn fast gleichzeitig von den Fenstern entfernten, hätte sich der aufmerksame Tourist irritiert abgewandt und wieder in den Strom der anderen Touristen begeben und damit der Chance beraubt, etwas über die Ambivalenz dieses verträumt wirkenden jungen Mannes zu erfahren. Denn kurz nachdem sich dessen Silhouette im Dunkel des Zimmers aufgelöst hatte, klangen Töne einer Klaviersonate von Mozart nach draußen, die, in der Reprise verändert, bald in Jazzimprovisationen übergingen, um dann unvermittelt in dissonanten, in die Tasten gehämmerten Akkorden auszuklingen.

Dr. Joseph Kaiser war kein Musiker, sondern Jurist von Beruf, und er war gerne Jurist. Den Anwaltsberuf, von dem er sich nun nach knapp dreijähriger Tätigkeit verabschieden würde, hatte er geliebt, lieben gelernt, denn das Streiten vor Gericht bedeutet für jemanden, der nicht gerade extrovertiert ist, Anstrengung und Überwindung. Die Stimme anzuheben, Betonungen und Pausen einzusetzen und sich durch die Finten älterer und erfahrener Kollegen nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, das war Anstrengung.

Im Büro Schriftsätze abzufassen hingegen, den juristischen Vortrag der Gegner zu zerpflücken und den Sachverhalt mit eigenen Argumentationsketten von sprachlicher Klarheit und Eleganz in einem neuen Licht, seinem Licht, erscheinen zu lassen, das war für ihn pures Vergnügen.

Dass er morgen das Amt eines Direktors der staatlichen österreichischen Stiftung für Kultur übernehmen würde, ein Amt, das gesellschaftliches Ansehen bei großzügigem Salär und dazu noch ein weites Spektrum an interessanten Aufgaben bieten würde, obwohl es für einen gerade Dreißigjährigen fast zu früh kam, hätte Joseph Kaiser mit ungetrübter Freude erfüllen müssen.

Doch Joseph Kaiser hatte zwei Seiten, so hatte es seine Mutter wiederholt im Kreise ihrer Freundinnen und Freunde bei den »Kaisertreuen«, einem eingetragenen Verein zur Förderung des Andenkens an die k. u. k. Monarchie, dargestellt, wenn sie einmal mehr auf ihren Sohn zu sprechen kam. Zwei Seiten, die er nach Ansicht seiner Mutter bisher nicht zu einem harmonischen Ganzen hatte zusammenfügen können.

Joseph Kaiser war gerne Jurist.

Doch seine eigentliche Liebe galt der Musik. Dass er nach seinem juristischen Arbeitsalltag freitags und samstags bis in die Nacht in verrauchten Lokalen in einer Jazzcombo Klavier spielte, in Jeans und Pullover, oder mit Freunden über Gott und die Welt debattierte, über die großen politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, und dabei ob seines ausgeprägten Gerechtigkeitssinns bisweilen belächelt wurde, und dass er darüber oft genug das sonntägliche Mittagessen in der Kreuzherrengasse vergaß, das war, wie seine Mutter schicksalsergeben zu sagen pflegte, die andere, die unordentliche Seite ihres Sohnes.

Bereits zu Lebzeiten des Vaters hatten Josephs musische Neigungen zu manchem Disput geführt. Das stundenlange Spielen am Klavier, die Nächte, in denen sich Joseph nicht von seinen Büchern trennen wollte und daher am nächsten Morgen nicht aus dem Bett fand, das erregte sogar den sonst eher milden Vater.

Theodora Kaiser musste lächeln, als sie sich daran erinnerte, dass Joseph ihrem Mann, der seinen Sohn mit dem Sprichwort »Der frühe Vogel fängt den Wurm« zu motivieren gedachte, antwortete, er sei eben ein später Vogel, wie der im Märchen, dafür aber ganz schön ausgeschlafen.

Ob er diesen Leidenschaften auch in seiner neuen Position würde nachgehen können? Seine Mutter hätte dies sofort verneint, denn sie billigte diese Seite ihres Sohnes nur aus Liebe zu ihm, verstehen konnte sie diese nicht.

Wie hätte sie auch ahnen können, dass es gerade die »ordentliche« Seite ihres Sohnes, sein unbedingtes Gerechtigkeitsempfinden und seine moralische Geradlinigkeit sein würden, die ihn in kürzester Zeit in allerhöchste emotionale Verwirrung und den österreichischen Staat in eine tiefe Krise stürzen sollten?

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Beauport, Normandie

»Seelenlose Technokraten wollen sie. Glatt gebürstete Frischlinge von der Verwaltungsschule, die in jede Kamera grinsen und das Blaue vom Himmel lügen. Erfahrung ist ihnen anscheinend nichts mehr wert!«

Antoine Arnoul, dessen zweiundsiebzigster Geburtstag gerade zwei Tage hinter ihm lag, schaute grimmig aus dem Fenster seines Hauses, das sich mit den vier Erkern, dem spitzen Giebeltürmchen und der kunstvollen Bordüre aus Feuer- und Backsteinen zwischen der ersten und der zweiten Etage deutlich von den anderen Häusern des malerischen Küstenortes Beauport abhob.

Der Himmel hatte alle Schleusen geöffnet. Ein Gewitter war über die normannische Küste hergefallen, wie man es selbst hier, wo im Sommer der Sturm so unvermittelt losbrechen und die hölzernen Badehütten mit Strandkieseln steinigen konnte, kaum je erlebt hatte. Wie an einem Duschvorhang stürzte das Wasser hinab und nur gelegentlich verliehen Blitze dem Grau in Grau etwas Perspektive.

Die hell erleuchteten Fenster des Gemeindezentrums auf der anderen Seite der Straße wirkten wie aufgeklebt. Antoine Arnoul reckte seine Faust gegen den anthrazitfarbenen Himmel und seine Gitanes-gebeizte Stimme mischte sich in das Auslaufen des Donnergrollens: »Nur weiter so, das ist die passende Begleitmusik zu dem Trauerspiel da drüben. Ein Blender, dieser Bulot, ein gelackter Blender!«

Arnoul konnte die Silhouette des fast zwei Meter messenden Bulot erkennen. Ja, das war er. Seine raumgreifenden Bewegungen, die Gesten eines siegestrunkenen Parvenüs.

Alle im Ort wussten, was er, Arnoul, über Jahrzehnte als Bürgermeister und Rechtsanwalt für Beauport geleistet hatte. Aber was nützt das, dachte er, auch in Beauport gilt nur noch der Schein, und dieser Bursche sieht nun einmal verdammt gut aus. Beauport hatte, wie Arnoul wusste, schon immer einen Frauenüberschuss, wie alle Orte an der Côte d’Albâtre seit den Zeiten, als noch fast ein Drittel der Segelschiffe, die im Frühjahr bis zur Küste von Neufundland zum Fischen ausliefen, nicht zurückkam.

Arnoul seufzte bei dem Gedanken an die vielen tapferen Männer, die, wenn sie noch leben würden, ihm mit ihren Stimmen …

»Ach was!«, sagte er plötzlich laut, um die Welle des Selbstmitleids zu durchstoßen, die ihn gerade umzuwerfen drohte.

Vielleicht hatten die Leute im Ort, »seine Leute«, einfach genug von ihm.

Vor seinem geistigen Auge erschien bereits der Leitartikel des Regionalblattes Le Normandais vom nächsten Tage:

»Antoine Arnoul, Enkel des berühmten normannischen Malers Auguste Arnoul, unterlag bei der Bürgermeisterwahl dem jungen Ökonomen Henri Bulot. Beauport hat seit neunundsechzig Jahren nun wieder einen Bürgermeister, der nicht Arnoul heißt. Denn vor Antoine Arnoul, der dieses Amt neununddreißig Jahre ununterbrochen innehatte, war sein Vater Albert Arnoul dreißig Jahre lang Bürgermeister. Eine Ära ist zu Ende gegangen.«

Im großen Gemeindesaal hatte Henri Bulot beide Arme hochgerissen, als sein Sieg feststand. Bulot, erst einunddreißig Jahre alt, Absolvent der Wirtschaftsakademie aus dem vierzig Kilometer entfernten Le Havre, und von der Sozialistischen Partei zur Bewährung für höhere Aufgaben nach Beauport geschickt, konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte es dem Alten gezeigt, der ihn in den Gemeinderatssitzungen immer so herablassend behandelt hatte. Jetzt war er, Bulot, Kopf der wohlhabenden Vorzeigegemeinde geworden.

Reglos hatte Arnoul das ihm telefonisch übermittelte Endergebnis in seinem Wohnzimmer zur Kenntnis genommen. Einige Minuten starrte er gedankenverloren in das Kaminfeuer und kraulte das Fell seines Briard. Dann gab er sich einen Ruck, nahm den großen roten Schirm mit den zwei gelben normannischen Löwen und schritt durch den Regen zum Gemeindesaal.

Als er den Saal betrat, wurde es schlagartig still. Arnoul genoss die Spannung. Ausgiebig und etwas umständlich putzte er seine beschlagene Brille. Dann ging er auf Bulot zu, schüttelte seine Hand und sah ihm in die Augen: »Gratuliere, Bulot, auch wenn ich denke, dass Sie die zweitbeste Wahl sind, meinen Rat können Sie immer einholen!«

Dann drehte er sich um und wandte sich dem Ausgang zu.

»Maître Arnoul, warten Sie, Sie werden doch sicher ein Gläschen mit uns trinken, nicht wahr?«

Arnoul blieb stehen und sagte, sich mehr den anderen als Bulot zuwendend: »Wenn es darum geht, die Sozis zu schädigen, bin ich immer dabei.«

Als sie das »La Baleine« betraten, riefen die Leute: »Hoch lebe der neue Bürgermeister Bulot, hoch lebe Maître Arnoul!«

Strahlend machte Bulot dem Wirt mit einer weit ausholenden Geste ein Zeichen, das das ganze Lokal, ja das gesamte Dorf zu umfassen schien.

»Eine Runde auf mich!«

Arnoul hatte ihn die ganze Zeit beobachtet und drehte sich nun den alten Weggefährten zu, die, etwas verloren wirkend, seine Nähe suchten: »So sind sie, die Sozialisten, kaum an der Macht, schon schmeißen sie mit dem Geld um sich. Wo wird das noch enden?«

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Wien, zur selben Zeit

Hofrat Dr. Kurt Schwaiger schaute wehmütig auf den bereits leer geräumten Schreibtisch seines Büros im repräsentativen Gebäude der Stiftung für Kultur. Für wenige Minuten war er dem Trubel der Abschiedsveranstaltung im Wandelgang entflohen, um hier von dem Ort, an dem er die letzten zweiunddreißig Jahre seines Berufslebens verbracht hatte, Abschied zu nehmen.

Er streichelte die Platte des ausladenden Schreibtisches, an dem schon Baron Rhonda, Haushofmeister der Kaiserin Elisabeth, bedeutende Staatsgeschäfte erledigt hatte. Bevor Schwaiger die Tür hinter sich schloss, warf er einen letzten Blick zurück.

Aus dem um das kalte Büfett gescharten Grüppchen löste sich Theodora Kaiser und kam auf ihn zu.

»Herr Hofrat, ich spüre, wie weh Ihnen ums Herz ist. Aber auch die Mitglieder unserer kaiserlichen Familie haben irgendwann abdanken müssen. So ist der Lauf der Dinge.«

Schwaiger nickte.

Abdanken, ja das stimmte, mit Dank Abschied nehmen, wie vortrefflich die Gräfin sich doch wieder ausgedrückt hatte.

»Sie haben recht, Gnädigste, der Vergleich ehrt mich außerordentlich. Und wenn ich im Bild bleiben darf, dann ist meine Nachfolge mit Ihrem Sohn bestens geregelt.«

Theodora Kaiser konnte ihren mütterlichen Stolz nur schwer verbergen. Ihre Wangen glühten und ihre Augen leuchteten, als sich ihr Sohn, so als hätte er das Lob seines Vorgängers gehört, auf sie zubewegte.

Schwaiger betrachtete den Sohn seiner Mitstreiterin in der Vereinigung der »Kaisertreuen«, einer Gesellschaft, die immer mehr an Bedeutung gewann. So war doch vor Kurzem die Gattin des Bundeskanzlers beigetreten, deren Einfluss auf ihren Mann in politischen Kreisen als nicht unbedeutend eingeschätzt wurde. Direktor Schwaiger fiel erst jetzt auf, dass die Zugehörigkeit der Gräfin zu ihrer Vereinigung bei dem Namen Kaiser etwas Kurioses hatte.

»Noch ein kaisertreuer Kaiser?«, fragte er sie.

»Ich arbeite daran«, sagte sie leise, bevor sie ihren Sohn unterhakte und sanft an sich zog.

Dr. Joseph Kaiser, dessen Leben immer wieder davon bestimmt war, der mütterlichen Wohlgesonnenheit zu entrinnen, fügte sich für dieses Mal.

»Ein würdiger Rahmen für Ihren Abschied, Herr Hofrat«, sagte er.

»Nun, irgendwann müssen wir alle abdanken«, entgegnete Schwaiger. Kaiser bemühte sich, seine Verwunderung über diese Formulierung zu verbergen und nickte bedächtig.

»Sie werden erstaunt sein«, sagte Schwaiger, »wie schnell die Jahre in diesem wichtigen Amt dahinfliegen. Kommen Sie doch in der nächsten Woche, sagen wir am Dienstag um neun, zu mir. Schließlich will ich ja dafür Sorge tragen, dass mein Nachfolger, den ich vorgeschlagen habe«, dabei nickte er in Richtung der Mutter, »das Amt so schnell wie möglich ausfüllen kann.«

Ja, er hatte Dr. Joseph Kaiser vorgeschlagen, dachte Schwaiger, und auch wenn dieser die besten Examina vorweisen konnte, so schien es doch ungewiss, ob dieser junge, etwas ungewöhnliche Jurist ohne seine Protektion Direktor bei der staatlichen Stiftung für Kultur geworden wäre.

Er verabschiedete sich mit einem Nicken von den beiden und gesellte sich nun zu einer Gruppe, die sich um den kleinen, heftig gestikulierenden Kulturminister geschart hatte.

Joseph Kaiser schaute seine Mutter ein wenig verärgert an.

»Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, du hieltest mich immer noch ab und zu mit beiden Armen hoch und würdest den Leuten zurufen: Ist das nicht das schönste Baby der Welt? – wie auf dem Foto im blauen Salon. Ich möchte nicht wissen, mit wem du alles geredet hast, damit ich diesen Job kriege.«

»Aber Joseph, was du immer denkst – und sag bitte nicht Job. Das ist eine Position. Und übrigens, ich habe überhaupt nichts gemacht. Du hast es ganz allein geschafft. Deine hervorragenden Zeugnisse und dein dezentes Auftreten. Deswegen bist du es geworden, und nicht wegen deiner schönen braunen Augen oder deiner schon wieder unordentlichen Haare.«

Joseph konnte seine Mutter gerade noch davon abhalten, ihm seine wie immer widerspenstigen Haare zu ordnen.

»Mutter, lass das bitte. Vielleicht sollte ich mir das Ganze noch einmal überlegen. Anwalt scheint wirklich der einzige Beruf zu sein, in dem es nicht auf Protektion ankommt.«

»Wie kommst du denn darauf?«

Theodora Kaiser lächelte ihren Sohn an.

»Du entschuldigst mich!«, murmelte er und ging.

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Beauport

Der Frühling hatte in Beauport Einzug gehalten. Die Apfelbäume zeigten erste Knospen und schon waren einige Schwalben zurückgekehrt.

Bürgermeister Bulot stand am offenen Fenster seines im ersten Stock gelegenen Dienstzimmers in der Mairie, als sich eine junge schlanke Frau, in schlichtes Schwarz gekleidet, energischen Schrittes dem Rathaus näherte.

»Quelle femme!«, war es Bulot unwillkürlich entfahren, als er Elisabeth Doutreleau vor wenigen Tagen zum ersten Mal an der Mairie hatte vorbeigehen sehen. Die braunen Augen, ihre durch einen Reif nur mühevoll zusammengehaltenen dichten kastanienbraunen Haare hatten ihn kaum den Blick von ihr wenden lassen. Gut, ihre Kleidung war mehr als nachlässig, musste er konstatieren, klobige Gummistiefel, wie sie die Seeleute trugen, wenn sie sich zum Fischfang aufmachten, ein Anorak, der von früheren Zeiten hätte erzählen können. Aber ihr Gang, so fand Bulot, war sicher und selbstbewusst. Eine einfache Frau war diese Frau bestimmt nicht.

Noch wenige Augenblicke vorher hatte er sich in Gedanken selbst zum halbjährigen Scheidungsjubiläum beglückwünscht und innerlich aufgefordert, auf neue Frauenbekanntschaften im Hinblick auf damit zwangsläufig verbundene Aufwendungen vorerst zu verzichten.

Denn Henri Bulot war davon überzeugt, dass sich alle wesentlichen Dinge im Leben an Hand einer Kosten-Nutzen-Analyse bestimmen ließen. Dies hatte er selbstverständlich auch in Bezug auf seine Ehe so gesehen und war zu dem Schluss gelangt, dass nach drei Jahren Ehe der Nutzen, den er aus dieser Verbindung ziehen konnte, bei Weitem nicht die Kosten aufwog.

Als er seiner Frau die Rechnung aufmachte, widersprach sie anfangs zwar seinen überzeugenden Darlegungen, versuchte sogar die Kostenseite kleinzurechnen, wohingegen sie mit seiner Bewertung der Nutzenseite sofort einverstanden gewesen war.

Mit dem Satz: »Gott sei Dank, dass wir keine Kinder haben!« hatte sie sich von ihm verabschiedet, nicht ohne ihm für die Zukunft eine ausgeglichene Bilanz zu wünschen. Er hatte dies dankbar als gutes Omen für einen Neubeginn gewertet.

Bulot hatte sich sogleich bei dem Gemeindediener Bertrand nach dieser Elisabeth Doutreleau erkundigt und erfahren, dass die Einunddreißigjährige, eine geborene Philippe, erst vor wenigen Monaten ihr Studium der Tiermedizin in Rouen und Paris abgeschlossen hatte und nach Beauport zurückgekehrt war.

Sie habe nach der Schule eine Ausbildung als Kindergärtnerin absolviert, so hatte Bertrand weiter berichtet, und den Schwarm aller jungen Frauen des Ortes, den Rettungsschwimmer Robert Doutreleau geheiratet. Eine Jugendtorheit, wie sie bald feststellen musste. Die Ehe sei nur von kurzer Dauer gewesen, was zum einen daran gelegen habe, dass Robert sich wiederholt auf, wie man im Dorf zu sagen pflegte, Mietzel-Pietzel mit englischen Touristinnen eingelassen hatte. Zum anderen habe es wohl daran gelegen, dass er mit der intellektuellen Neugier Elisabeths nicht zurechtgekommen war. Sie habe zunächst im Kindergarten gearbeitet und daneben Kurse an der Universität Rouen belegt. Später, nach der Scheidung, sei sie zum Studium nach Paris gegangen. Robert Doutreleau habe sich nach dieser Niederlage freiwillig zur Armée de Mer gemeldet und sei nun als Kampfschwimmer in Toulon stationiert. Elisabeth, so hatte Bulot weiter erfahren, sei unkonventionell, ja nach allgemeiner Einschätzung bisweilen sogar unberechenbar.

Elisabeths Vater, Jean Jacques Philippe, der bis zuletzt, noch mit neunundsiebzig Jahren, das Amt des Leuchtturmwärters auf der Beauport vorgelagerten kleinen Insel versehen hatte, erlitt Anfang des Jahres einen Herzinfarkt. Daraufhin unterbrach sie die Arbeit an ihrer Dissertation, verließ Paris und pflegte ihn die Wochen bis zu seinem Tod.

Nun lebte sie allein auf der Insel, versah das Amt ihres verstorbenen Vaters und arbeitete halbtags als Tierärztin in der Praxis von Dr. Vasseur, dem einzigen Veterinär in der Gegend.

Das Amt des Leuchtturmwärters wurde innerhalb der Familie Philippe vererbt, hatte Bulot von dem Gemeindediener weiter erfahren. Vor Jean Jacques Philippe hatte dessen Vater Jean Jacques Philippe senior und davor dessen Vater Pierre das Amt innegehabt. Es gab ein bescheidenes Salär vom Département Seine-Maritime. Die Nutzung der fast einen Hektar großen Insel hatte die Gemeinde Elisabeths Ururgroßvater Antoine Philippe und seiner Familie bereits Ende 1875 unentgeltlich zugestanden, etwa zur gleichen Zeit, als Kaiserin Elisabeth von Österreich einen zweimonatigen Kuraufenthalt im Schloss von Beauport verbracht hatte.

Die Philippes betrieben auf der Insel eine kleine Landwirtschaft mit ein paar Ziegen, Schafen und Kaninchen und schienen in ihrer Abgeschiedenheit glücklich zu sein.

Bulot riss sich aus seinen Gedanken und eilte in das Foyer, um Elisabeth zu begrüßen.

Ihr schneller und energischer Schritt verhieß nichts Gutes. Dies, so schwante ihm, würde nicht der Beginn einer gewinnbringenden Freundschaft werden.

»Bonjour, Madame le docteur, was kann ein bescheidener Staatsdiener für ein Mitglied dieser gut geführten und prosperierenden Gemeinde tun?«

»Für mich nichts, Herr Bürgermeister, aber für die Umwelt, und das ist Ihre Pflicht und Schuldigkeit!«

»Dessen bin ich mir immer bewusst. Habe ich etwas falsch gemacht?«

Der Bürgermeister sah Elisabeth und dann Monsieur Bertrand, der sie in sein Büro geführt hatte, an. Er war erstaunt über den aggressiven Unterton Elisabeths und ihre offensichtliche Aufgebrachtheit. Sie ließ den Anhänger ihrer langen Halskette, einen Schlüssel aus massivem Gold, um den linken Zeigefinger kreisen.

»Dem Gemeindeblatt habe ich entnommen, dass ab nächster Woche die touristische Küstenrundfahrt in der ›Österreichischen Bucht‹ Station machen wird und dass Sie den vermoderten Steg bereits mit Betonpfeilern haben erneuern lassen.«

»Ja, das stimmt, eine touristische Attraktion, die bisher nicht promotet wurde. Das wird Geld in die Kassen der Gemeinde spülen.«

»Aber Sie wissen doch, dass in dieser Bucht vier verschiedene Möwenarten brüten, die anderen Seevögel gar nicht mitgezählt. Sie werden dieses kleine ökologische Paradies zerstören!«

»Das glaube ich nicht. Die Vögel werden sich an die Menschen gewöhnen. Und wenn der Gemeinderat meinen Vorschlag billigt«, fügte er an, »dann werden wir das auch so machen.«

»Vielleicht überlegen Sie es sich noch mal, Herr Bürgermeister. Falls Sie es nicht wissen: Ich verfüge über einige gute Beziehungen, wenn es um ökologische Themen geht. Paris Match hat bei mir wegen eines Artikels über die idealen Bedingungen für Meeresvögel in unserem Département angefragt. Das ist doch genau das Thema. Welch ein Zufall! Ich könnte mir vorstellen, dass ein gewisser Bürgermeister in diesem Artikel eine bedeutende Rolle spielen könnte. Sie persönlich scheint das ja nicht zu interessieren. Wollen wir doch mal sehen, ob das bei den übrigen Mitgliedern des Gemeinderats auch so ist. Auf Wiedersehen, meine Herren!«

Der Absatz ihres Stiefels machte ein hässlich quietschendes Geräusch, als sich Elisabeth Doutreleau auf der Stelle umdrehte und eiligen Schrittes das Büro verließ.

Der Bürgermeister schaute verblüfft zu Bertrand und kam ihm, als er spürte, dass dieser ihm etwas mitteilen wollte, in verärgertem Ton zuvor:

»Nicht schon wieder, Bertrand, Sie wollen doch nicht schon wieder sagen, was Maître Arnoul jetzt getan hätte.«

»Pardon, Monsieur le maire, aber Maître Arnoul hätte nichts getan, er hat immer gesagt, lege dich nie mit einem Mitglied der Familie Philippe an. Dies habe er schon seinen Vater sagen hören, der ja ebenfalls dreißig Jahre Bürgermeister gewesen ist.«

»Verschonen Sie mich mit der Geschichte der Arnoul-Dynastie. Vielleicht sollte ich der jungen Dame den Pachtvertrag für die Leuchtturminsel kündigen, damit sie von ihrem hohen Ross herabsteigt«, sagte er und bedeutete Bertrand, ihn allein zu lassen.

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Wien, etwa zur selben Zeit

Dr. Schwaiger hatte Joseph schon erwartet und führte ihn nun, während er ihm gleichzeitig die Aufgaben der Stiftung beschrieb, durch das Stiftungsgebäude. Er stellte ihm entgegenkommende Bedienstete mit Namen und Titel vor, rühmte ihre Kompetenz und ihren unermüdlichen Einsatz für die Stiftungsbelange und teilte ihm, nachdem sie sich von den betreffenden Personen entfernt hatten, unverblümt mit, was er von diesen Leisetretern und Sesselklebern hielt.

Joseph Kaiser war aufmerksam der Einführung seines Mentors und Vorgängers gefolgt, und auch wenn er die Vielzahl der Hinweise und Ratschläge nicht gänzlich verarbeiten konnte, so war er doch gewillt, in dessen Sinne die Arbeit im Kreis der vier unabhängigen Direktoren fortzuführen, von denen einer als geschäftsführender Direktor fungierte.

Zum Schluss hatte Schwaiger Joseph beim Arm genommen und gebeten, ihn noch ein paar Schritte zu begleiten.

Während des Spaziergangs, der vom Stiftungsgebäude am Minoritenplatz in die Hofburg und dort am Museumsteil vorbeiführte, schien es Kaiser so, als wollte Schwaiger ihm etwas von Bedeutung sagen, wisse aber nicht, wie er anfangen solle.

»Herr Kollege Doktor Kaiser, Ihnen ist bekannt, dass die Stiftung eine kaiserliche Stiftung ist, genauer eine Stiftung unserer hochverehrten Kaiserin Elisabeth.«

Er legte seine rechte Hand aufs Herz und warf einen dankbaren Blick nach oben.

»Leider ist die Stiftungsurkunde in den Wirren der Zeit abhandengekommen, vermutlich verbrannt, sodass wir bei der Auslegung des Willens unserer verehrten Stifterin auf unsere Ihnen selbstverständlich geläufigen Auslegungsprinzipien angewiesen sind.«

Inzwischen waren sie in einem Gang des Josephinischen Trakts der Hofburg vor einem Gemälde angekommen, das Baron Rhonda stehend vor seinem Schreibtisch zeigte, in der Hand einen goldenen Schlüssel.

»›Das Vermächtnis der Kaiserin‹! Jedes Mal, wenn ich hier vorbeigehe, frage ich mich, warum Baron Rhonda das Bild so genannt hat. Er hat es übrigens erst nach dem Tod der Kaiserin in Auftrag gegeben. Erkennen Sie den Schreibtisch? Es ist mein Schreibtisch, das heißt: nun eigentlich Ihrer.«

Schwaiger betrachtete gedankenverloren das Gemälde. Dann gab er sich einen Ruck und fuhr in seinem Vortrag fort: »Aber Baron Rhonda hat uns geholfen. Er hat in mehreren Anweisungen den Willen der Kaiserin niedergelegt: Förderung der Kultur im Allgemeinen und der kulturellen Einrichtungen im Besonderen, Unterstützung einiger karitativer Einrichtungen, Abwicklung einiger kleinerer Legate, die zum Teil ins Ausland fließen und von den zahlreichen kaiserlichen Ausflügen herrühren. Für alles gilt, und da zitiere ich meinen berühmten Vorgänger Professor Dörrenbecher: Mit Fingerspitzengefühl und Achtung vor der Leistung der Altvorderen prüfen und im kaiserlichen Willen aufgehen.«

Kaiser schaute Schwaiger aus den Augenwinkeln an und nickte, bemüht, ein Schmunzeln zu unterdrücken.

»Rhonda war übrigens ein Genie, vielleicht das größte Finanzgenie, das Österreich je hervorgebracht hat.«

Nachdenklich fuhr er fort: »Wie er die zwanzigtausend Gulden angelegt und noch in der Kaiserzeit vervielfacht hat! Gut, man muss sagen, dass ihm in der Kaiserzeit keinerlei Auflagen gemacht wurden. Manche sagen, er habe insbesondere zu Beginn des Ersten Weltkriegs der Stiftung dieses riesige Vermögen erspekuliert. Verzigfacht! Kaum vorstellbar, wie und auf welche Weise …«

Schwaiger hob die Hände und schaute Kaiser vielsagend an.

»Nach dem Ersten Weltkrieg hat er dann konsolidiert: Grundbesitz, Obligationen, Gold. Er hat das Vermögen unbeschadet durch die Weltwirtschaftskrise gebracht. Ein Genie eben. Leider ist er dann ja überraschend Ende der zwanziger Jahre verstorben. Aber auch seine Nachfolger, in deren Tradition wir stehen, haben das Vermögen wiederum vervielfacht. Man könnte sagen, die Stiftung ist das pulsierende Herz der österreichischen Kultur. Und was sonst macht unseren Staat wertvoll? Immerhin wird heute ein Drittel des gesamten österreichischen Kulturhaushalts über die Stiftung finanziert: Das Burgtheater, die Staatsoper, die Lipizzaner …«

Schwaiger schmunzelte und ließ seine Worte wirken. Ihm gefiel es, Kaiser diese Rosinen der österreichischen Kultur aufzuzählen und ihm so die Wichtigkeit der Stiftung nochmals klarzumachen.

»Das ist natürlich nur einiges von dem, was wir aus unseren Zinsen unterhalten.«

Schwaiger hob den rechten Zeigefinger und machte eine Pause, um die Bedeutung dieser Tatsache zu unterstreichen.

»Nur die Zinsen: hundertfünfzig Millionen Euro im Jahr!«

Inzwischen waren sie ins Stiftungsgebäude zurückgekehrt und im Büro des Hofrats angekommen, das von nun an Kaisers Büro sein würde.

Schwaiger stellte ihm seine Sekretärin vor: »Frau Buchinger, meine rechte Hand … bisher. Herr Doktor Kaiser.«

Dr. Kaiser verbeugte sich und reichte Frau Buchinger die Hand.

»Angenehm.«

Und dieses Wort beschrieb treffend seinen Eindruck von dieser ruhigen, etwas rundlichen Fünfzigjährigen.

»Sie ist die gute Seele hier und sie weiß alles …«

»Fast alles, Herr Hofrat, nur fast alles«, erwiderte die Sekretärin abwehrend.

Dann lächelte sie ihren neuen Chef an, der ihr freundlich zunickte und Schwaiger in das Direktorenzimmer folgte.

Der Raum war riesig und nur spärlich möbliert. Joseph Kaiser kam sich verloren vor. In der Nähe der hohen Fenster, die den Blick auf die Minoritenkirche freigaben, stand eine zierliche Sitzgruppe in Gold und Weiß. An der einen Schmalseite ein volles Bücherregal vom Boden bis zur Decke. Doch das Prunkstück war der an der Stirnseite stehende ausladende Schreibtisch.

»Erkennen Sie ihn? Na, Herr Kollege? … Das Gemälde! Ja, das ist Baron Rhondas Schreibtisch! Er ist leider inzwischen etwas renovierungsbedürftig, aber wenn man sich vorstellt, dass Rhonda hier seine Fäden gesponnen hat …«

Schwaiger nahm ein Staubtuch aus einer der Laden und polierte vorsichtig die Oberfläche, legte das Tuch zurück, stellte sich vor den Schreibtisch und ahmte dabei unbewusst die Haltung Rhondas auf dem Porträt nach. Dr. Kaiser unterdrückte ein Lächeln und nahm sich vor, das Gemälde beim nächsten Mal genauer zu betrachten.

Hofrat Schwaiger verabschiedete seinen Nachfolger etwas plötzlich mit der Bemerkung, er habe noch etwas mit Frau Buchinger zu besprechen.

»Selbstverständlich, Herr Hofrat.«

Kaiser ergriff die ausgestreckte Hand seines Mentors, deutete eine Verbeugung an und sagte zu seiner neuen Sekretärin: »Also dann bis morgen, Frau Buchinger!«

Auf dem Weg nach Hause, der ihn durch den ersten Bezirk, vorbei an der Hofburg, der Nationalbibliothek und der Staatsoper führte, begriff er, dass er nun auch Hüter des kulturellen Erbes seines Landes war. Sein erster Besuch in der Oper kam ihm in den Sinn.

Vater hatte ihn zur einer Aufführung der »Carmen« mitgenommen. Wie in einem Fieberrausch hatten sich für ihn die Musik, die bunten Farben der Kostüme, die tänzerischen Bewegungen der Sänger verbunden. Mit dem Schlussvorhang kamen die ersten Bravorufe von den Stehplätzen. Dann brach der Beifall mit Orkanstärke los. Alle, auch sein Vater und er selbst, waren aufgesprungen, als die Baltsa vor den Vorhang trat und sich verbeugte. Er hatte die Arme hochgerissen und geklatscht, bis seine Hände glühten. Die Menschen jubelten ihr zu, warfen Blumen auf die Bühne. Der Applaus wollte kein Ende nehmen.

»Wenn ich so eine Musik höre, Papa, dann tanzt mein Herz«, hatte er gesagt, als sie die Feststiege der Staatsoper hinuntergingen. Daraufhin hatte ihn Vater in den Arm genommen und fest gedrückt.

Zum ersten Mal empfand er Stolz über das neue Amt, das er am nächsten Morgen antreten würde: Direktor der Stiftung für Kultur.