Mami – 1875 – Wer heiratet Papi und mich?

Mami
– 1875–

Wer heiratet Papi und mich?

Der kleine Eddi wünscht sich so sehr eine Mami

Eva Maria Horn

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-840-8

Weitere Titel im Angebot:

Weitere Titel im Angebot

Marie,Luise blieb erschöpft hinter dem Lenkrad ihres Autos sitzen. Sie war todmüde und hatte Angst, die wenigen Schritte bis zum Haus nicht bewältigen zu können.

Sie saß da, starrte auf ihr Elternhaus und sah es doch nicht. Schleier hingen vor ihren Augen, dafür erlebte sie die letzten schrecklichen Stunden noch einmal.

War es wirklich erst gestern morgen gewesen, als sie nur spärlich bekleidet an ihrem Zeichentisch gesessen hatte? Im Halbschlaf war ihr die Lösung ihres Problems eingefallen. Sie spannte gerade einen neuen Bogen ein, als das Telefon sie störte. Natürlich dachte sie, daß es Norbert wäre. Sie hatte ihn nach Hause geschickt, sogar ein Taxi für ihn gerufen. »Ich brauche meinen Schönheitsschlaf«, hatte sie ihm gesagt. »Ich hätte schon vor Stunden im Bett liegen sollen.« Wie immer hatte sich die Party viel zu lange ausgedehnt.

Beleidigt, brummig war Norbert die Treppe hinuntergeschlichen.

Aber es war nicht Norbert. Es war eine kühle, unpersönliche Stimme gewesen, die ihr mitteilte, daß ihre Mutter ins Krankenhaus eingeliefert worden war und ihr Zustand als bedenklich bezeichnet werden mußte. Mehr war diese Person nicht bereit, ihr zu sagen.

Entsetzliche Stunden folgten. Marie-Luise hatte sich angezogen und ein paar Dinge in den Koffer gepackt. Alles dauerte nur wenige Minuten. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, Norbert anzurufen. All ihr Denken war nur von einem Wunsch beherrscht:

Mama darf nicht sterben!

Die Fahrt von München bis zum Norden war weit. Sie war diese Strecke schon so oft gefahren. Marie-Luise besuchte ihre Mutter regelmäßig, daran hinderte sie auch ihre Arbeit als Innenarchitektin nicht. Ihre Mutter hatte ihr sogar zugeredet, die Wohnung in München zu mieten. Sie gehörte nicht zu den Müttern, die klammerten.

»Wir müssen beide unser eigenes Leben leben«, predigte sie immer wieder, als Marie-Luise überlegt hatte, ihr Büro im elterlichen Haus aufzuschlagen. »Du mußt dich abnabeln«, hatte sie energisch erklärt. »Nimm das Angebot in München an.«

Und jetzt lag sie im Krankenhaus und würde vielleicht sterben. Ihre fröhliche, lebenslustige, kluge Mama.

Die ganze Nacht hatte Marie-Luise am Bett ihrer Mutter gesessen. Sie hatte sich von der strengen Nachtschwester nicht verdrängen lassen. Sie hatte die Hand der Mutter gehalten, immer wieder ihren Namen geflüstert. Sie hatte mit ihr gesprochen, ihr alles erzählt, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte, so, als wäre ihre Mutter gesund, wie sie es immer war.

Aber regungslos hatte das geliebte Gesicht auf dem Kissen gelegen, die dunklen Wimpern hatten nicht einmal gezittert. Die Stunden schleppten sich endlos, aber Marie-Luise war taub dafür. Im Auto hatte die Frage sie gequält, ob sie den Gasherd abgeschaltet hatte.

Nicht einmal das war mehr wichtig.

Mama!

Gegen Morgen, die Sonne warf verschlafen ihre Strahlen in das unpersönliche Zimmer, öffneten sich die blauen Augen.

Mama!

»Ich bin da. Ich bin hier, Mama. Was machst du denn für Sachen? Mama…«

Marie-Luise war es, als nistete das Lachen nicht nur in Mamas geliebten, vertrauten Augen, sondern auch in ihren Mundwinkeln. Und ganz sicher hatte sie es sich nicht eingebildet, daß ihre Hand, die die Finger der Mutter umklammerten, gedrückt wurde. Nur eine Winzigkeit, aber sie wurde gedrückt.

Jemand berührte Marie-Luises Schulter. Jemand sagte: »Sie sollten jetzt nach Hause fahren. Ihre Mutter schläft. Sie schläft der Genesung entgegen. Die Krise ist vorüber. Sie sollten jetzt versuchen, Kraft zu schöpfen, Sie sollten schlafen. Hören Sie?«

Ja, sie war gefahren. Und jetzt saß sie hier, zu müde, um aufzustehen.

Der Schleier war von ihren Augen gewichen, sie starrte auf das Haus. Eingequetscht stand es zwischen den eintönig gebauten Reihenhäusern. Wie hatte ihr Vater gesagt, als er aus der Gefangenschaft zurückgekommen war:

»Es sieht aus wie ein übereifriges, eigenwilliges Kind, das sich dazwischen drängt.«

Es war genauso verklinkert wie die anderen Häuser. Es war schmalbrüstig, die schmalen hohen Fenster sollten bescheiden wirken, aber der keck angebaute Erker, der aufgestockte Dachstuhl sagten etwas anderes aus. Das Haus fiel aus dem Rahmen, wie ihre Mutter eigentlich auch.

Marie-Luises Augen tränten. Sie bemerkte nicht einmal, daß sie weinte.

Es war ein unmögliches Haus. Nichts paßte zusammen, und als Architektin hätte sich ihr Magen umdrehen müssen.

Aber mit einer sentimentalen Liebe hing sie an diesem Haus. Hier war sie aufgewachsen, hier hatte sie herrliche Jugendjahre verlebt. Dieses Haus war mit ihrer Mutter so eng verbunden, daß es keine Bezeichnung dafür gab. Sie mußte einfach aus der blaugestrichenen Haustür kommen, mit aufgelösten Haaren, offenen Armen ihr entgegenlaufen…

Sogar die Stimme hörte Marie-Luise im Ohr: »Da bist du ja endlich… ich habe mich so auf dich gefreut…«

Aber es war eine andere Stimme, die Marie-Luise aus ihren Träumen holte.

»Fräulein Burger. Warum steigen Sie denn nicht aus? Ich wußte, daß Sie kommen. Ich habe die ganze Zeit am Fenster gestanden und auf Sie gewartet. Wie geht es Ihrer Mutter? So ein Leichtsinn aber auch. Aber Ihre Mutter hatte ja immer das Gefühl, daß sie alles allein machen kann. Wie oft habe ich ihr gesagt, Sie brauchen doch nur den Mund aufzumachen. Ich helfe Ihnen gern. Aber nein, sie mußte auf die Leiter steigen, als ob die Gardinen überhaupt dreckig gewesen wären. Das waren sie nicht. Kein Wunder, daß sie dann hinunterfiel.«

Marie-Luise hatte das Gefühl, Blei an den Gliedern zu haben, und ihr Kopf war so leer, daß sie Mühe hatte, die Worte in sich aufzunehmen.

Aber jetzt galt es, die lästige Nachbarin abzuwimmeln. Ihre Mutter war viel zu vertraulich mit diesen Frauen.

»Wollen Sie nicht zu mir zum Frühstücken kommen? Sie sehen ja völlig erschöpft aus.« Diese Frau schien keine Luft zu holen, die Worte sprudelten aus ihrem Mund.

Es war gar nicht leicht, die Frau abzuwimmeln. Aber endlich stand Marie-Luise in dem vertrauten, geliebten Haus. Ihr Koffer war noch im Auto, aber das war unwichtig.

Sie stand in der Diele. Marie-Luise wußte, daß ihre Mutter die Entwürfe für dieses Haus selbst gemacht hatte, obwohl sie von Architektur nichts verstand. Aber es war einfach wunderbar geworden. Eigenwillig… wie ihre Mutter selbst es war.

Überall war Glas, deutete Weite an, die nicht vorhanden war. Spielerisch schraubte sich die Wendeltreppe in das schmale Haus hinauf. Marie-Luise hatte keine Zeit, ihrer Müdigkeit nachzugeben. Etwas schlich um ihre Beine, miaute entrüstet.

Mamas Katze, die sie von der Straße aufgelesen hatte, nachdem ein Auto das kleine Wesen durch die Luft geschleudert hatte.

»Domino. Guter, lieber Domino. Warte. Natürlich fülle ich deinen Napf. Jetzt bin ich da, nur ein kläglicher Ersatz für Mama. O Domino, das Haus ist so leer ohne sie. Dir fehlt sie auch… genau wie mir.«

*

Marie-Luise hatte das Gefühl, erst wenige Minuten geschlafen zu haben, als das schrille, beharrliche Klingeln sie aus den Träumen holte. Mit einem Ruck richtete sie sich auf und prallte mit dem Kopf gegen die Schräge ihres Zimmers. Alles drehte sich um sie. Es dauerte einige Minuten, bis sie begriff, wo sie sich befand. Keineswegs in ihrer leichtdurchfluteten, behaglichen Atelierwohnung in München.

Sie war zu Hause, und ihre Mutter lag im Krankenhaus. Das Klingeln wurde immer dringlicher und zerrte an Marie-Luises Nerven. Es war bestimmt jemand vom Krankenhaus, der ihr eine entsetzliche Nachricht brachte…

Sie riß ihren alten Bademantel, den ihre Mutter aus sentimentalen Gefühlen hinter der Tür hängen ließ, vom Haken, fuhr nervös in ihre Hausschuhe und hastete die Treppe hinunter. Es kam ihr nicht einmal der Gedanke, daß das Krankenhaus sich vermutlich telefonisch melden würde. Die Angst saß ihr im Nacken, sie konnte das Zittern ihrer Hände nicht unterdrücken.

Der Mann, der mit dem Jungen an der Hand auf der ausgetretenen Stufe stand, starrte verwundert auf das fremde Wesen. Angst prägte ganz deutlich das junge Gesicht, die blonden Haare waren ungekämmt. Das Mädchen mußte geschlafen haben. Jetzt, um diese Zeit.

Marie-Luise fand als erste ihre Sprache wieder, nachdem sie die beiden gemustert hatte und plötzlich sicher war, daß sie nichts mit dem Krankenhaus zu tun hatten.

»Ja, bitte?« Sie musterte den hochgewachsenen Mann, der ihr auf Anhieb sympathisch war, aber noch aufmerksamer betrachtete sie den Buben, der nicht einen Blick von ihr ließ.

Der Mann räusperte sich, wurde sichtlich unsicher. Auch seine Stimme gefiel ihr. Marie-Luise wurde häufig ausgelacht. Ihre Freunde wußten, daß sie spontan ihre Zuneigung verschenkte und lächerlich viel Wert auf Stimmen legte.

»Markmann ist mein Name. Albert Markmann.«

»Und ich heiße Eduard, aber alle sagen Eddi zu mir. Wo ist denn die nette Frau, bei der ich jetzt wohnen darf? Weil doch mein Vater nach Amerika fährt. Amerika ist weit, und da kann er mich unmöglich mitnehmen, obwohl ich schon fünf Jahre bin.«

Der Mann legte die Hand auf die Schulter des Kleinen und sah Marie-Luise an, als wartete er auf ihre Antwort.

»Sie wollen also zu meiner Mutter.« Sie war verwirrt. Das konnte doch unmöglich an den Augen des Mannes liegen, schließlich war die Nähe eines Mannes ihr nichts Fremdes.

»Ich bin Marie-Luise Burger. Und ich muß Ihnen leider sagen, daß meine Mutter im Krankenhaus liegt.«

Alle Farbe wich aus dem Gesicht des Mannes.

»Lebensgefahr besteht nicht«, beruhigte sie ihn. »Kommen Sie doch bitte herein. Meine Aufmachung müssen Sie entschuldigen.« Sie sprach viel zu schnell und viel zuviel, wie immer, wenn sie nervös war. »Ich bin gestern von München in einem Rutsch durchgefahren und habe die Nacht am Bett meiner Mutter verbracht. Anschließend habe ich geschlafen wie eine Tote.«

Die beiden betraten das Haus. Domino saß in der Küchentür und beäugte die beiden mißtrauisch.

»Es ist gut, daß keine Lebensgefahr besteht«, murmelte der Mann mit gepreßter Stimme. »Für mich ist dieser Unfall eine Katastrophe. Herr, Gott im Himmel, das darf einfach nicht wahr sein.«

Er stellte den Koffer auf den arg abgenutzten Teppich und fuhr mit allen zehn Fingern durch sein dichtes braunes Haar, derweil sein Sohn ihn tadelnd musterte.

»Du darfst nicht fluchen, Papa. Das hat dir Großmama schon tausendmal gesagt.«

»Das ist ja kein Fluchen, Eddi«, behauptete Marie-Luise und zermarterte ihren Kopf, was dieser Besuch zu bedeuten hatte. Für gewöhnlich erzählte ihre Mutter in ihren langen Telefongesprächen alles, was bei ihr passierte.

Vermutlich hatte sie mal wieder nicht richtig zugehört.

»Kommen Sie bitte.« Einladend öffnete Marie-Luise die Wohnzimmertür, sie warf einen Blick hinein. Wieso war es ihr bisher noch nie aufgefallen, daß in diesem großen, so behaglichen Raum alte und moderne Möbel fröhlich nebeneinander hausten? Aber für einen Fremden mußte das Zimmer vermutlich schrecklich sein.

»Wie leer das Haus ohne Ihre Mutter ist«, sagte der Mann leise in ihre Gedanken hinein. Sie nickte und spürte Tränen in ihren Augen, die sie gewaltsam hinunterschluckte.

»Sie wissen nichts von dem Abkommen, das ich mit Ihrer Mutter getroffen habe?«

»Ich will in der Küche mein Abendbrot essen«, unterbrach Eddi energisch die Stille, die ihn ängstlich machte. »Frau Burger hat gesagt, daß sie mir einen Schokoladenpudding kochen will.«

Blitzschnell erinnerte Marie-Luise sich daran.

»Der steht im Kühlschrank. Ich habe mich schon gewundert, warum meine Mutter ihn gekocht hat. Sie ißt nämlich grundsätzlich keinen Pudding.«

»Den hat sie für mich gemacht«, erklärte Eddi selbstbewußt und marschierte auf die Küchentür zu. Auf der Schwelle saß Domino und sah mit seinen grünen Augen dem Jungen abwartend entgegen.

»Frau Burger hat gesagt«, plapperte Eddi wichtig, »daß Domino zur Eifersucht neigt. Sie hat gesagt, daß er erstmal lernen muß, daß er nicht die erste Geige spielt. Domino, ich mag dich. Magst du mich auch?«

Vorsichtig streckte der Junge die Hand aus und näherte sich der Katze.