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Stephan Gürtler, geboren 1969, hat Germanistik und Philosophie studiert. Danach wollte er eigentlich ein berühmter Dichter werden. Stattdessen hat er als Lektor und Redakteur gearbeitet und schreibt schon seit über zehn Jahren Geschichten für Kinder. Nebenbei arbeitet er journalistisch. Er lebt in Berlin.

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1. Eine stürmische Nacht

2. Enttäuschung für Tina

3. Freddy macht sich nützlich

4. Die Jagd beginnt

5. Der wilde Hengst

6. Polizei auf dem Martinshof

7. Äpfel für Geronimo

8. Ein waghalsiger Plan

9. Vollmond!

10. Ein Gespräch von Mann zu Mann

11. Mister Brown

12. Ferienträume werden wahr

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Auf die Straße nach Falkenstein prasselte Regen, und Wind zerrte mit aller Gewalt an den Bäumen. Bei diesem Wetter war kaum jemand unterwegs. Nur ein großer dunkler Jeep mit Pferdeanhänger fuhr mit Fernlicht durch den Falkensteiner Forst. Die Scheibenwischer schlugen wie wild hin und her. Der Fahrer konnte kaum bis zur nächsten Kurve sehen. Er warf einen besorgten Blick in den Rückspiegel, doch im Pferdetransporter schien alles in Ordnung zu sein. Der Mann konzentrierte sich wieder auf die Straße. Vor ihm lag eine lange Linkskurve; durch die Bäume blinkte ein Blaulicht. Hatte es einen Unfall gegeben?

Er bremste und fuhr im Schritttempo weiter. Aber nein, nur ein Baum war umgestürzt. Eine alte Fichte lag quer über der Straße. Ein Feuerwehrauto stand am Straßenrand. Zwei Männer in Schutzkleidung arbeiteten mit Motorsägen daran, das Hindernis zu beseitigen. Ein dritter kam ihm entgegen.

Der Mann im Jeep kurbelte das Seitenfenster herunter. Wind und Regen schlugen ihm ins Gesicht. „Es wird nicht mehr lange dauern“, erhielt er Bescheid. „In fünf Minuten können Sie weiterfahren.“

Er nickte. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als zu warten. Wieder warf er einen besorgten Blick in den Rückspiegel.

Das Pferd hinten in seinem Transporter war heute Nachmittag auf dem Flughafen eingetroffen. Die Maschine hatte sich verspätet, und das Pferd musste erst tierärztlich untersucht werden, bevor es transportiert werden durfte. Der Tierarzt hatte ihm eine Beruhigungsspritze geben müssen, um es untersuchen zu können. Trotzdem hatte es noch über eine Stunde gedauert, bis das Pferd in dem Hänger stand – es hatte sich mit aller Kraft gesträubt.

Der Mann lauschte angestrengt nach hinten. Ihm war, als hätte er Geräusche gehört. Aber sicher war er sich nicht, da der Regen lautstark auf die Windschutzscheibe und das Dach des Jeeps trommelte. Auf jeden Fall musste er so bald wie möglich nach dem Tier sehen, überlegte er. Hier in der Kurve wollte er aber nicht aussteigen – nicht bei dieser schlechten Sicht. Er beschloss, in Falkenstein anzuhalten.

Endlich! Der Baum war beseitigt. Der Mann fuhr wieder los. Doch das Pferd war während des Halts tatsächlich unruhig geworden. Es gebärdete sich nun so wild, dass der Hänger bedenklich ins Schlingern geriet. So konnte er nicht lange weiterfahren.

Er musterte den Straßenrand. Da! Ein blaues Schild, das in 500 Metern einen Parkplatz ankündigte.

Als der Mann den Wagen abgestellt hatte, drückte er sich die alte Baseballkappe auf den Kopf, die auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, schlug den Kragen seiner Jacke hoch und stieg aus. Trotzdem rann ihm der Regen sofort den Nacken hinab. Mit eingezogenem Kopf ging er zur Rückseite des Hängers. Er löste die Verriegelung auf der linken Seite der Heckklappe.

Als er dasselbe auf der rechten Seite tun wollte, erhielt die Heckklappe einen gewaltigen Tritt von innen und schoss ihm entgegen. Der Mann taumelte nach hinten, stolperte und landete in einer riesigen Pfütze. Sofort drang ihm das Wasser durch sämtliche Kleidung. Im nächsten Augenblick drängte sich das Pferd rückwärts aus dem Hänger.

Der Mann rappelte sich auf. „Hooo, ganz ruhig“, sprach er auf das Tier ein.

Doch das Pferd war zu aufgeregt. Der Sturm, die fremde Umgebung und der lange Aufenthalt in dem engen Hänger waren zu viel gewesen! Wiehernd stieg es und galoppierte los – einen schmalen Pfad entlang, der vom Parkplatz in den Wald führte. Im strömenden Regen verschwand das Pferd im Falkensteiner Forst ...

Bibi Blocksberg, die kleine Hexe aus Neustadt, schlug die Augen auf. Es war noch Nacht. Draußen heulte der Wind ums Haus. Noch immer tobte dieser gewaltige Sturm, der gestern Abend angefangen hatte, kurz nachdem sie angekommen war.

„Hoffentlich ist morgen wieder schönes Wetter“, dachte Bibi.

Sie befand sich auf dem Martinshof, bei ihrer Freundin Tina und ihrer Lieblingsstute Sabrina. Und es waren Herbstferien! Im Oktober war es besonders schön auf dem Reiterhof. Nun ja, eigentlich war es immer besonders schön dort, aber Bibi hatte sich seit Wochen darauf gefreut, zusammen mit Tina und deren Freund Alex durch den herbstbunten Falkensteiner Forst zu reiten. Immer wieder hatte sie davon geträumt. Doch in ihren Träumen hatte die Sonne geschienen ...

Außer dem Toben des Sturmes hörte Bibi auch das ruhige Atmen ihrer Freundin Tina. Sie schlief im Bett neben ihr. Bibi fühlte sich seltsam wach. An Schlafen war gar nicht mehr zu denken, so gemütlich und warm es im Bett auch war. Sie hörte den Regen gegen das Fenster trommeln, und je länger sie ihm lauschte, desto stärker hatte sie das Gefühl, er wollte ihr irgendetwas sagen. Als gäbe es da draußen etwas zu sehen. Sie warf einen Blick auf die Leuchtanzeige des Weckers, der auf ihrem Nachttisch stand. Es war genau Mitternacht!

„Hoffentlich ist es kein Gespenst!“, murmelte Bibi. Sie fröstelte. „Nein, natürlich nicht! Wahrscheinlich bilde ich mir nur etwas ein.“

Aber je mehr sie versuchte, wieder einzuschlafen, desto unruhiger wurde sie. Schließlich hielt sie es nicht mehr länger im Bett aus. Sie würde jetzt nachsehen. Und danach konnte sie vielleicht weiterschlafen!

Bibi schlug die Decke zurück. Sie stellte ihre Füße auf den weichen Teppich. Auf Zehenspitzen schlich sie an Tinas Bett vorbei. Vorsichtig zog sie den Vorhang am Fenster zur Seite. Die Ringe, mit denen er an der Vorhangstange befestigt war, klapperten leise, doch Tina wachte nicht auf.

Sie schlief gewöhnlich wie ein Bär, dachte Bibi. Wenigstens schnarchte sie nicht. Bei diesem Gedanken musste Bibi grinsen.

Dann fiel ihr wieder ein, weshalb sie eigentlich am Fenster stand. Sie blickte hinaus. Dummerweise verdeckte in diesem Moment eine schwarze Wolke den Mond, sodass sie nicht viel erkennen konnte. Sie sah gerade mal das Tor des Martinshofes, und links und rechts davon die dunklen Silhouetten der Bäume, die sich im Wind bogen. Weiter rechts war der Ententeich, links lagen Scheune und Kuhstall, die Bibi jedoch mehr erahnen als tatsächlich sehen konnte. Noch weiter links, jenseits ihres Blickfeldes, lag der Pferdestall. Hoffentlich ging es ihrer Sabrina und den anderen Pferden gut, überlegte Bibi. Aber wahrscheinlich schliefen sie alle in ihren gemütlichen Boxen.

Nun war die Wolke endlich am Mond vorbeigezogen. Helles Licht ergoss sich in die Nacht. Und plötzlich sah sie es! Bibi hielt den Atem an. Sie erstarrte. Nein, es war kein Gespenst! Vor dem Tor des Martinshofes stand ein Pferd – und Bibi kam es vor, als würde es genau zu ihr hinaufblicken.

Sie presste die Augen für eine Sekunde zusammen und öffnete sie wieder. Nein, sie träumte nicht. Das Pferd war immer noch da. Aber wo mochte es herkommen, mitten in der Nacht, bei diesem Wetter?

Bibi beschloss, ihre Freundin nun doch zu wecken. Sie rüttelte Tina an der Schulter, aber das reichte nicht. Bibi rüttelte stärker. „Tina, aufwachen!“, flüsterte sie, so laut sie konnte.

Endlich wachte Tina auf.

„Was ist denn, Bibi?“, murmelte sie schlaftrunken. „Ist schon Morgen?“

„Nein, mitten in der Nacht“, stieß Bibi aufgeregt hervor.

„Wieso weckst du mich dann?“, wollte Tina wissen.

„Weil draußen ein Pferd steht“, rief Bibi ungeduldig.

Immerhin richtete Tina sich nun im Bett auf. „Aber unsere Pferde stehen doch im Stall, oder?“

Bibi wurde immer ungeduldiger. „Das hoffe ich auch, Tina. Ich habe trotzdem eins gesehen. Ganz sicher. Komm!“

Kurzerhand zog sie ihre Freundin am Arm aus dem Bett und schob sie zum Fenster.

„Und wo, bitte schön, soll hier ein Pferd sein?“, meinte Tina vorwurfsvoll, nachdem sie eine Weile hinausgeblickt hatte.

„Wieso?“ Bibi trat neben sie. Da draußen war wirklich kein Pferd. Weder vor dem Tor des Martinshofes noch sonst wo. „Komisch! Gerade war es noch da!“

Tina zuckte gelassen mit der Schulter: „Du hast wahrscheinlich geträumt. Oder es waren die Schatten der Bäume. Außerdem ist Vollmond, oder?“ Tina lächelte. „Als Hexe siehst du da vielleicht mehr als andere.“ Sie legte ihren Arm um Bibi. „Komm, wir schlafen weiter.“

Doch Bibi sträubte sich: „So ein Quatsch, Tina! Ich sehe überhaupt nicht mehr als andere. Außerdem ist Vollmond erst morgen. Da war wirklich ein Pferd!“

Tina knipste ihre Nachttischlampe an. Wie es aussah, würde das eine längere Unterhaltung geben. Bibi stand immer noch am Fenster und blickte hinaus.

„Wenn du recht hast, Bibi, dann müssen wir im Stall nachsehen“, sagte Tina entschieden. „Vielleicht ist tatsächlich eins unserer Pferde ausgebüxt.“

„Ja“, nickte Bibi. „Das müssen wir wohl.“

Sofort holten sich die Mädchen Regenumhänge aus Tinas Schrank, zogen sie über ihre Schlafanzüge und schlichen auf Zehenspitzen die Treppe hinab. Tinas Mutter wollten sie vorerst nicht wecken; dazu war noch Zeit, falls mit den Pferden tatsächlich etwas nicht stimmte.

In der Diele schlüpften sie in ihre Stiefel. Im Schirmständer neben der Haustür stand zum Glück ein großer Regenschirm. Den würden sie als zusätzlichen Regenschutz gut brauchen können. Tina öffnete die Tür und spannte ihn auf. Die beiden liefen so schnell wie möglich über den Hof zum Stall.

„Mist! Wir hätten eine Taschenlampe mitnehmen sollen“, schimpfte Bibi, als sie in eine Pfütze tappte und das Wasser an ihr hochspritzte.

Aber schließlich hatten sie es geschafft, und Tina schob die schwere Stalltür auf.

Drinnen schlug ihnen der Geruch der Pferde entgegen. Auf der ganzen Welt gab es keinen schöneren Geruch, fand Bibi. Außerdem war es hier warm und trocken.

Die Lampe, die an der Decke hing, warf nur ein trübes Licht in den Stall, aber es reichte, um zu erkennen, dass mit den Pferden alles in Ordnung war. Sie schliefen oder standen dösend in ihren Boxen. Sabrina begrüßte Bibi mit einem leisen Schnauben.

„Hallo, meine Süße“, flüsterte Bibi ihr ins Ohr. „Hast du auch keine Angst vor dem Sturm?“

Die Schimmelstute rieb ihre weichen Nüstern an Bibis Schulter.

„Also, Bibi, hier ist alles okay“, sagte Tina, nachdem sie sämtliche Boxen untersucht hatten. „Ich schätze, du hast ein Geisterpferd gesehen. Können wir jetzt wieder ins Bett, oder gibt es sonst noch was, was du bei diesem Wetter besichtigen willst?“

Bibi schüttelte den Kopf. „Nein, Tina! Tut mir leid, vielleicht habe ich mich doch geirrt.“

Tina kicherte: „Du hast eben zu viel Fantasie, Bibi. Zum Glück hast du so eine bodenständige Freundin wie mich!“

Fünf Minuten später lagen die beiden Mädchen wieder in ihren warmen Betten. Bibi lauschte dem Sturm, der draußen unvermindert tobte, und Tinas regelmäßigen Atemzügen. Ihre Freundin schlief schon wieder, doch Bibi schwirrten noch viele Gedanken durch den Kopf. Hatte sie sich wirklich geirrt? Bibi war sich nicht sicher. Ja, vielleicht waren es die Schatten der Bäume gewesen, die sie für ein Pferd gehalten hatte. Jedenfalls stand fest, dass es keines der Pferde vom Martinshof gewesen war, denn diese befanden sich alle sicher im Stall.

Aber falls sie sich nicht geirrt hatte: Woher mochte das Pferd gekommen sein? Während sie über diese Frage nachdachte, schlief sie endlich ein.

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„Hey, du Schlafmütze! Aufstehen!“, drang Tinas Stimme an Bibis Ohren.

Anstatt die Augen zu öffnen, hob Bibi lieber die Hände. Sie befürchtete nämlich, gleich ein Kissen ins Gesicht zu bekommen. So begrüßte Tina sie meistens an ihrem ersten Morgen auf dem Martinshof – was immer eine wilde Kissenschlacht zur Folge hatte.

Doch diesmal war es anders: „Keine Angst! Ich habe eine Überraschung für dich“, lachte Tina.

Bibi ließ ihre Hände sinken, denn sie liebte Überraschungen über alles. „Was denn?“, wollte sie wissen.

„Tja, also ...“ Tina machte die Sache spannend. Aber dann breitete sie triumphierend die Arme aus. „Die Sonne scheint!“, verkündete sie. „Zumindest war sie eben noch da! Ich hoffe, sie ist nicht plötzlich verschwunden, so wie dein Geisterpferd heute Nacht!“

Natürlich erinnerte sich Bibi an das Pferd in der letzten Nacht. Aber nun, da es Tag war, kam ihr das alles so unwirklich vor wie ein Traum. Außerdem hatte sie keine Lust, länger darüber nachzugrübeln. Sie sprang lieber aus dem Bett und stürmte ans Fenster.

Tatsächlich! Die Sonne schien. Sie stand sogar schon hoch am Himmel. Nach der stürmischen Nacht war ein herrlicher Herbstmorgen angebrochen – genau wie Bibi es gehofft hatte. Die Blätter der Bäume neben dem Hoftor leuchteten goldgelb in der Sonne.

„Meine Güte, wie spät ist es eigentlich?“, rief Bibi plötzlich. Keine Sekunde länger als nötig wollte sie hier im Zimmer vertrödeln.

„Gleich zehn“, erwiderte Tina.

Jetzt merkte Bibi auch, wie es in ihrem Magen rumorte. Er verlangte dringend nach einem ordentlichen Frühstück.

Frau Martin hatte den Tisch für die beiden Mädchen bereits gedeckt. Normalerweise mussten Bibi und Tina das selbst machen. Aber da Bibi erst gestern Nachmittag angekommen war, gehörte es gewissermaßen zur Begrüßung – genau wie der wunderhübsche Strauß mit Astern und Dahlien, der neben einem Korb frischer, duftender Brötchen auf dem Tisch stand. Außerdem gab es Waldhonig, goldgelbe Butter, selbst gemachte Marmelade und Frühstückseier.

„Na, endlich ausgeschlafen?“, begrüßte Frau Martin die beiden, als sie bester Laune in die Küche stürmten. „Wie wär’s mit einem heißen Kakao?“

„Das wäre wunderbar! Vielen Dank für das Frühstück, Frau Martin.“ Bibi fühlte sich gleich wieder wie zu Hause.