Zuerst

Sobald der Kahlköpfige den Laster in die Scheune zurückgesetzt und den Motor ausgestellt hatte, sprang er aus dem Führerhaus und zog mit einem lauten Knarren die beiden Torhälften zu. Ich blieb bei unseren Rucksäcken vor der Bank mit den leeren und rissigen Futterbehältern stehen und wartete, während das scharfe Sonnenlicht in Streifen durch die Spalten der Längswand fiel. Ich überlegte, welchen Treibstoff der Wagen wohl getankt hatte, konnte mir aber nicht vorstellen, dass Anna nach so etwas fragen würde. Im Führerhaus saß der andere Kerl und starrte uns an, die ganze Zeit wachsam. Er hatte sein Gewehr auf dem Schoß liegen.

Anna und der Glatzköpfige traten zusammen ans Tor und spähten durch den Mittelspalt nach draußen. Sie standen ein paar Sekunden da, während der wirbelnde Staub sich langsam auf den stumpf gewordenen blauen Lack des Wagens legte. Der Kahlkopf spuckte auf den Boden und warf einen Blick zu mir herüber. Seine Bewegungen waren ruckartig, seine Augen wirkten beinahe fluoreszierend, und er kam mir zugedröhnt vor. Er starrte auf Annas Rücken, fingerte an einer Pistole herum, die er an einem Riemen im Gürtel trug, riss die Plane herunter und hob ein paar größere grüne Holzkisten von der Ladefläche. Sorgsam öffnete er sie, mitten auf dem schmutzigen Betonboden in der Nähe der Abflussöffnungen.

Bald waren alle Deckel weit geöffnet. Die Sonnenstrahlen ließen die vielen schwarzen Kolben und Läufe glänzen, aber matt, so als wären sie aus Seide.

»Wie habt ihr von uns gehört?«, sagte er mit gepresster Stimme.

Anna erzählte, dass die Information von Hans gekommen sei.

Ihrem kurzen Dialog entnahm ich, dass der Mann Saxen genannt wurde. Er war groß und unrasiert, hatte Wunden und Tätowierungen an den Händen, und sein Blick flackerte die ganze Zeit. Als sie erklärt hatte, woher sie Hans kannte, gab er ein zustimmendes Gemurmel von sich. Mit einer Gebärde, die mir angeberisch vorkam, deutete er auf die Waffen.

»Das ist alles, was ich im Moment habe«, sagte er und wechselte einen Blick mit dem anderen, der immer noch im Führerhaus saß.

Anna ging in die Hocke und sah genauer hin, ich rührte mich nicht. Alle Waffen sahen ungefähr gleich aus, fand ich, doch Anna erkundigte sich nach einem bestimmten Gewehr, das separat verpackt in einer der größeren Kisten lag.

»Das Zweibein liegt da. Und das Zielfernrohr. Aber der Tragriemen fehlt«, antwortete er.

Sie diskutierten leise weiter. Er sagte, er habe mindestens fünfzig Schachteln Munition für dieses Gewehr, falls wir wirklich interessiert wären. »Ukal«, sagte er, und Anna nickte.

Ich wusste nicht, was Ukal bedeutete, und ich weiß auch nicht, ob er glaubte, dass Anna es wüsste. Aber wie sollte er das wissen?

»Es gibt viel leichtere Waffen«, sagte er, und ich merkte, dass er zu mir herübersah und auf ihren Körper schielte.

»Klar«, erwiderte sie und nahm das Gewehr auf.

Sie legte den Kolben an die Schulter und visierte einen der Dachsparren an, während sie hinzufügte:

»Aber keine so guten.«

Ich blickte zu dem Punkt hinauf, den sie anvisierte, ein großes Loch mit zersplitterten Dachsparren und längst geborstenen Dachziegeln, ich sah Schwalbennester und grauweiße Haufen Taubenkacke.

Und ich betrachtete ihr Gesicht, während sie immer noch zielte und dabei das eine Auge geschlossen hielt. Die ebenmäßigen Züge um den Mund, der müde, aber sehr entschlossene Blick, die kleine vorspringende Nase.

Der Kahlkopf schien gestresst, versuchte aber gleichzeitig, ruhig zu wirken. Ich stellte mir vor, was die beiden hier in der Scheune mit uns anstellen könnten. Und was sie bestimmt gerne mit ihr anstellen würden.

Aber ich wusste, dass die Leute einen mit mehr Respekt betrachteten, sobald man Hans erwähnte.

Sie begannen über den Preis zu reden.

»Nimm lieber das hier«, sagte er und zeigte unsicher auf ein schmaleres Gewehr, das in einer noch größeren Kiste lag.

Anna räusperte sich.

»Du bist hergekommen und hilfst uns, obwohl es so kurzfristig ist. Dafür bin ich dir wirklich dankbar«, entgegnete sie.

Erneut warf sie einen prüfenden Blick durch die Doppeltür, ob sich auch niemand der Scheune näherte.

»Aber die Auswahl treffe ich selbst.«

Der Glatzkopf musterte sie.

Sie packte das Gewehr, das sie zuerst angesehen hatten, wieder ein und hob den Kasten dann aus der größeren Kiste. Ich konnte erkennen, dass etwas auf dem Deckel stand, in eckigen weißen Buchstaben: Psg 90.

»Und noch ein gewöhnliches Mauser, ein gut gepflegtes«, sagte sie und zeigte auf eine andere Kiste, in der zwischen schimmeligen und braungrünen Schaumgummistücken einige Gewehre lagen.

Dann trat sie an eine der anderen Kisten und zeigte auf zwei schwarze Pistolen, zwei Holster, Ersatzmagazine und ein paar Schachteln mit Munition. Er steckte sich eine Zigarette an, legte die vier Waffen mit einer Menge zusätzlicher Ausrüstung auf den Boden, dazu die Munition und eine Kiste Handgranaten.

»Der Preis für das alles?«, fragte Anna.

Sie holte ihr Leinenbündel hervor und zeigte einen Teil dessen, was sie bei sich hatte. Die verschiedenen Metalle glitzerten im Sonnenlicht.

Sie diskutierten eine Weile, Anna drückte den Preis. Er akzeptierte, ohne zu klagen.

Dann waren sie sich einig. Währenddessen beobachtete ich, wie er sie noch eingehender musterte, und mich auch.

»Ziemlich viele Sachen?«, bemerkte er.

Es lag jetzt noch etwas anderes in seinem Gesichtsausdruck, was ich vorher nicht bemerkt hatte. Eine Wachsamkeit, inmitten des Kaputten und Nervösen. Und ich sah, wie er den anderen Typen im Wagen anguckte und mit der rechten Hand unter der Uniformjacke tastend am Gürtel entlangfuhr, während er sich mit der Linken leicht über die Glatze strich.

Anna beantwortete seine Frage nicht, sondern untersuchte noch einmal den Zustand der Waffen und wog die beiden Pistolen in den Händen.

»Wollt ihr die Sachen weiterverkaufen?«

Anna schwieg auch jetzt, aber sie schien seinen fragenden Blick zu spüren. Es verging eine Weile.

Schließlich sagte sie:

»Wir können nicht mehr hier bei Hans bleiben. Wir wollen die Sachen nicht verkaufen. Sie sind für uns.«

Er sah sie unverwandt an und lachte auf.

»Ihr braucht sie? Weil ihr … wegwollt?«

Anna erwiderte seinen Blick und nickte beinahe unmerklich.

Der Mann wedelte eine Fliege weg, die sich ihm immer wieder näherte. Es knackte im Dachgebälk, als ein Windstoß durch die Scheune fuhr. Er tauschte wieder Blicke mit dem anderen im Wagen, und ich überlegte die ganze Zeit, wie ich zu den Türen laufen müsste, falls es nötig würde. Aber der Mann ging zur Wand, bückte sich rasch und trat dann auf Anna zu. In der Hand hielt er eine große Pflanze. Er überreichte sie feierlich, als wäre sie ein Blumenstrauß.

Es war eine Brennnessel.

»Dann viel Glück«, sagte er.

Ich konnte den anderen im Lastwagen grinsen sehen.

Anna ignorierte die Brennnessel und machte ein paar Schritte rückwärts, sie sah entschlossen und erschrocken zugleich aus. Sie räusperte sich und wollte etwas sagen, aber er kam ihr zuvor:

»Wohin wollt ihr?«

Seine Stimme war ruhig, aber es lag auch eine spürbare Aggressivität darin. Sein breites Lächeln entblößte kleine braune Zähne.

»Wir müssen ganz einfach hier weg«, antwortete sie, »und …«

»Das kapiert ihr doch wohl«, unterbrach er sie. »Ich kann nicht riskieren, dass die Waffen sonst wo wieder auftauchen, in der gegenwärtigen Lage. Stellt euch vor, ihr werdet gefangen genommen oder erschossen. Vielleicht kann man die Waffen zurückverfolgen, und dann führt die Spur zu mir.«

Ich sah Anna fragend an, denn was er sagte, klang nicht glaubwürdig. Ich bekam das Gefühl, dass er nur Ärger machen oder seine Überlegenheit demonstrieren wollte.

Anna schwieg wieder, und als sie nach einigen Sekunden noch immer nicht geantwortet hatte, schien seine Geduld am Ende zu sein.

»Scheiß drauf, vergessen wir das Ganze«, sagte er, nahm die Waffen wieder an sich und begann die Kisten zu schließen, eine nach der anderen. »Daraus wird nix.«

Anna versuchte, ihn daran zu hindern.

»Aber wir brauchen sie!«

Er schubste sie beiseite. Seine Augen funkelten vor Wut und Ungeduld, und ich dachte: Jetzt geht er auf sie los, jetzt schlägt er sie zusammen.

Aber er tat es nicht.

»Wohin wollt ihr?«, wiederholte er stattdessen, deutlich und unerwartet laut.

Anna blickte nachdenklich auf den staubigen Fußboden, wo eben noch alle Waffen ordentlich nach Größe sortiert gelegen hatten und wo jetzt nur noch Strohhalme und Schmutz und die zertretene Brennnessel zu sehen waren.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Weg.«

Er lachte laut, und seine heisere Stimme klang so, als müsse er husten.

Dann hob er die Kisten auf die Ladefläche.

»Du kriegst noch mehr Schmuck«, sagte Anna.

»Bist du blöd oder was? Darum geht es nicht.«

Es war offensichtlich, dass er die Situation genoss. Und ich wartete nur darauf, dass die beiden einen Schritt weiter gingen. Dass sie ihr die Kleider vom Leib rissen.

Er lud weiter auf. Anna sah aus, als wollte sie ihn schlagen.

Aber dann hielt er inne, mitten in seinen ruckartigen Bewegungen, als sei ihm ein Einfall gekommen, vielleicht aus einer Art zerstreuter Großzügigkeit.

»Dann frage ich noch mal anders – ich bin nur verdammt neugierig: In welche Richtung wollt ihr?«

Anna sah verblüfft aus. Er schnalzte mit der Zunge, während seine Augen schmal wurden, vielleicht weil ihm eine Vermutung kam.

»Spielt das wirklich eine Rolle?«, fragte sie.

»Ja, das spielt eine entscheidende Rolle. Wollt ihr nach Osten?«

Sie antwortete nicht, und ich dachte an das, was sie mir am Morgen gesagt hatte: Wir dürfen niemandem erzählen, was wir vorhaben.

Sie schwiegen beide.

Schließlich begegnete Anna wieder seinem Blick, ohne eine Geste oder ein Wort.

Er deutete ihr Schweigen. Und ihr Blick überzeugte ihn davon, dass er mit seiner Vermutung richtiglag.

»Nach Osten also?«, fragte er nach, ohne dass Anna seine Vermutung bestätigt hatte. »Das klappt nie und nimmer, das seht ihr doch ein? Wollt ihr weit?«

Er lächelte und steckte sich eine neue Zigarette an, und ich sah, dass es eine von denen war, die so komisch schmecken. Was mich betraf, wusste ich natürlich nichts davon, was im Osten los war, und ich fragte mich, ob Anna ihn vielleicht nur glauben machen wollte, dass wir in diese Richtung gehen würden, oder ob es tatsächlich so war.

»Ihr überlebt nicht einmal die ersten Kilometer. Wie könntet ihr denn durch ihre Linien kommen?«

Anna antwortete nicht, sondern warf nur noch einen Blick auf den grasbewachsenen Hang unterhalb der Scheune. Ich verstand ihre Besorgnis. Man hätte den Motor des Lasters weithin hören können. Die Sonnenstrahlen drangen in ihren hellbraunen Haarknoten, den sie mit einer verchromten Spange hochgesteckt hatte, und im Gegenlicht sah ihr schlanker Körper mager und stark zugleich aus.

Es schien, als hätte sie nicht gehört, was er gefragt hatte.

»Wie viele seid ihr eigentlich?«, fragte er mit einem misstrauischen, beinahe höhnischen Grinsen.

Anna wandte sich langsam zu mir um und sah mich mit einem Blick an, den ich schwer deuten konnte.

»Wir zwei. Mein Bruder Erik und ich.«

Er blies Rauch aus und lachte.

»Nur ihr zwei?«

Anna antwortete mit Ja und sah mich wieder an, mit einer Miene, die jemand anders vielleicht, vor langer Zeit, als ein gespanntes Lächeln hätte deuten können. Doch ich wusste natürlich, dass es kein Lächeln war.

Er betrachtete uns jetzt irgendwie anders, zog die Augenbrauen hoch und sammelte sich. »Okay.«

Es schien so, als müsse er das Ganze noch einmal überlegen.

»Okay«, wiederholte er und streifte an der Manschette der Uniformjacke die Asche ab. »Wenn ich es mir genau überlege … können wir die Sache trotzdem durchziehen. Aber kein Wort über mich zu irgendjemandem, verstanden?«

Anna nickte.

Er hob die Kisten wieder von der Ladefläche und hatte rasch die Waffen und die Ausrüstung zurechtgelegt, die Anna sich vorher ausgesucht hatte. Sein Tonfall und seine Körpersprache veränderten sich erneut, während er weitersprach. Jetzt hörte er sich fast übertrieben freundlich an und wirkte gar nicht mehr so zugedröhnt.

»Wenn ihr wirklich allen Ernstes abhauen wollt, vollkommen allein, dann lasst euch von mir ein paar Dinge raten.«

»Wir brauchen keine Ratschläge«, erwiderte Anna sofort.

Er sah sie mit amüsierter Miene an und tat, als hätte er nichts gehört.

»Nummer eins: Seid misstrauisch gegenüber allen. Allen.«

Anna blickte mich mit zusammengebissenen Zähnen an, ohne mit der Wimper zu zucken, als wollte sie sagen: Hält der uns für totale Idioten?

Er machte trotzdem weiter und behauptete, er habe neun gute Ratschläge für uns, die ihn und seinen Bruder zahlreiche Male gerettet hätten. Ich versuchte, nicht hinzuhören, aber es ging nicht.

»Zwei: Zieht nur nachts weiter. Drei: Meidet alle größeren Straßen. Vier: Meidet alle größeren Ortschaften. Fünf: Meidet alle kleinen Ortschaften. Sechs: Wasser ist wichtiger als Essen. Sieben: Zieht nie als Letzte die Waffen. Acht: Auch wenn ihr keine Munition mehr habt, tut so, als hättet ihr reichlich davon. Und neun: Seid misstrauisch. Gegenüber allen. Allen

Als er endete, stand Anna immer noch schweigend da. Es waren nicht neun, sondern acht Ratschläge gewesen, dachte ich.

»Also nur du und dein Bruder?«, hakte er noch einmal nach. »Und jeder mit einer Pistole und einem Gewehr?«

Anna machte ein paar Schritte und verschränkte die Arme.

»Er kann noch nicht richtig schießen. Er ist zu jung. Ich muss es ihm noch beibringen …«

Sie unterbrach sich.

»Ach ja, hier.«

Sie reichte dem Mann die Goldketten und die Platinringe. Er betrachtete den Schmuck noch einmal eingehend, versuchte, die kleinen Stempel zu lesen, sagte aber dann: »Ach, scheiß drauf«, und stopfte alles in die Innentasche seiner Jacke.

Dann streckte er sich und sah mich direkt an, mit einem langen, forschenden Blick. Jetzt kehrte die Aggressivität in seiner Stimme zurück.

»Jung, sagst du? Er sieht nicht besonders jung aus.«

Anna schaute mich an, wieder mit diesem komischen Gesichtsausdruck, und jetzt kam es mir so vor, als schämte sie sich für irgendetwas, für die ganze Situation, für sich selbst. Gleichzeitig hatte ich den Eindruck, als wollte sie mich schützen, als sie sagte: »Jung, aber nicht auf die Art.«

Der Befehl

Das Waffengeschäft und die Brüder in der Scheune – das alles hatte schon morgens begonnen.

Ihr müsst es mir nachsehen, wenn ich die Dinge nicht in der richtigen Reihenfolge erzähle. An dem Tag ging alles so schnell.

Ich schreibe alles so gut hin, wie ich nur kann. Alles muss deutlich und klar beschrieben werden, es muss ja »richtig und korrekt« sein. Von Anna habe ich oft zu hören bekommen, dass ich Späher oder Wachposten werden könnte. Denn ich registriere ungewöhnlich viel.

Dabei ist es völlig offensichtlich, dass ich nie Späher werden könnte – oder so etwas wie sie.

Ich kann zwar sehen. Aber das ist auch fast das Einzige.

 

Na gut, mit Sprache umzugehen fällt mir auch leicht. Vielleicht lässt mich das älter und anders erscheinen, als ich eigentlich bin. Dass ich mich dank verschiedener Sprachebenen nuanciert und präzise ausdrücken kann, lässt mich etwas altklug erscheinen. Aber so bin ich in Wirklichkeit nicht, garantiert nicht.

Vielleicht gelingt es mir nicht, alle Ereignisse logisch zu verknüpfen, und wahrscheinlich kann ich mich nicht an jede Einzelheit korrekt erinnern.

Nein, Letzteres ist falsch. Ich erinnere mich an alle Einzelheiten. Obwohl manches davon inzwischen viele Wochen zurückliegt, erinnere ich mich messerscharf an alles.

Und: Manchmal muss man Dinge in der falschen Reihenfolge erzählen, um sie überhaupt wiedergeben zu können.

***

An jenem Morgen stand ich in der Küche in R, wie wir eins der Sommerhäuser nannten, in dem sich viele der Kinder aufhielten. R war groß und lag weit entfernt von der Straße. Ich war oft da und half aus, nicht jeden Tag, aber meistens. Ich passte auf die kleinen Kinder auf, so gut ich konnte. Aber es fühlte sich manchmal so an, als ob die anderen, die auch dort arbeiteten, mich mit zu den Kindern zählten.

Es war ein ganz normaler Morgen, wenn man denn noch etwas normal nennen kann. Ich hatte angefangen, mich an die Abläufe zu gewöhnen, obwohl ganz in der Nähe die Wachsoldaten auf ihren Posten waren, allerdings nicht so nahe, dass die kleineren Kinder sie sehen mussten. Nicht alle Kinder saßen am Tisch, viele lagen auf dem Fußboden und spielten schweigend mit den Fichtenzapfen und den Kuscheltieren. Es regnete herein. Die Pappen vor den Fenstern waren wieder fortgeweht, aber es nieselte nur, und außerdem roch es nicht mehr so stark nach Schimmel wie vorher. Ein Mädchen, das Diana hieß, machte im gusseisernen Herd Feuer und wärmte die Konservendosen direkt auf der Herdplatte. Wir aßen diese alten Armeeravioli fast jeden Tag, und die von dem gemauerten Schornstein ausstrahlende Wärme hatte dafür gesorgt, dass sich die Kinder im vergangenen Monat in dem größeren Raum mit aufgeknöpften Jacken aufhalten konnten.

Aber jetzt war der Frühling schon weit fortgeschritten. Und ich stand in Jeans und Hemd in der Küche, während Diana mit einigen Kindern hinaus aufs Klo ging. Die farbenfrohen Postkarten mit paradierenden Elefanten, die jemand im Keller einer ausgebrannten Schule gefunden hatte, hingen in ordentlichen Reihen vor mir an der Wand – und ich weiß noch, wie ich dachte: Die Feuchtigkeit hat wenigstens dem Tesafilm nicht geschadet.

Da sah ich sie. Anna, unter den Birnbäumen, direkt vor dem Küchenfenster.

Sie war vorher nie nach R gekommen. Meistens hielt sie sich drüben am Ekeberget auf, wo die übrigen Häuser lagen und wo Hans und die anderen Führer jeden Morgen und Abend die Befehle für Wachposten oder Patrouillen ausgaben. Sie erzählte mir nie, was sie da machten. Aber ich weiß, dass ihr oft Aufträge anvertraut wurden, die als riskant galten. Und wenn man ihren Hintergrund kannte, war das ja auch kein Wunder.

Als Anna jetzt vor R stand, fiel mir auf, wie lange es her war, sicher über einen Monat, dass wir richtig miteinander hatten reden können. Nach dem, was im März passiert war, in Fröde und Källered, nach den Ereignissen, die keiner von uns erwähnen konnte, kam es mir so vor, als könnten wir nicht mehr wie früher miteinander kommunizieren, auch wenn wir uns fast täglich trafen und sie mich in den Arm nahm und mit mir plauderte.

Dabei hatte sich die Lage in unserer Gegend entspannt. Die letzten Wochen waren beinahe ganz ruhig gewesen, von einigen nächtlichen Vorkommnissen abgesehen. Und mehr und mehr schlossen sich an. Besonders nach Källered.

Es hatte Gerüchte über Hans gegeben. Es hieß, dass wir richtig viele seien. Dass wir über reichlich M84er und andere Maschinengewehre verfügten, vor allem aber über Munition.

 

Ich konnte Anna sofort ansehen, dass etwas nicht stimmte.

»Kannst du reden?«, fragte sie.

Ich warf einen Blick auf die Kinder – die wie zuvor spielten oder lasen – und bat eine der älteren Frauen, den Herd im Auge zu behalten.

Dann ging ich hinaus in den Garten. Anna trat sehr dicht an mich heran.

»Wir müssen von hier verschwinden«, flüsterte sie. »Wir können nicht mehr hierbleiben.«

Ich starrte sie nur an.

Was sagte sie da?

Ich blickte hinter mich, als könnte dort jemand stehen und uns belauschen.

»Jetzt gleich«, fuhr sie fort, bevor ich etwas sagen konnte. »Erzähl denen, mit denen du zusammenarbeitest, dass du ersetzt wirst.«

Es gab so gut wie nichts zu ersetzen, und das wusste sie auch. Sie sagte das nur, um nicht unfreundlich zu wirken.

Auch sie spähte in das Wäldchen hinter uns, obwohl wir wirklich keinen Grund hatten zu glauben, dort wäre jemand.

»Warum müssen wir …?«, begann ich.

Sie holte tief Luft, als wollte sie anfangen, es mir zu erklären.

Doch ihr Gesichtsausdruck sagte etwas anderes. Wenn sie diese Miene aufsetzt, lässt sie mir keine Wahl. Es gibt dann auch keinen Raum für Fragen.

»Hans hat uns Zeit gegeben bis heute Abend«, sagte sie. »Du und dein Bruder, ihr müsst verschwinden, und zwar auf der Stelle. So hat er sich ausgedrückt. Sonst erschießt euch hier jemand. Oder noch schlimmer.«

Ich starrte sie nur an. Es fiel mir schwer, das alles zu begreifen und mir die möglichen Konsequenzen vorzustellen.

»Hast du verstanden, was ich sage, Erik? Wir müssen das Lager verlassen, sofort. Pack deine Kleider und die Stiefel, und geh dann rüber zu den Baracken und versuch, eine Plane und eine Decke oder einen Schlafsack aufzutreiben und vielleicht noch einen Rucksack und was du sonst noch brauchen wirst. Aber niemand darf dich sehen, niemand darf Verdacht schöpfen, du musst das allein schaffen, okay?«

Nur ihre Atemzüge waren jetzt zu hören, ängstlich und entschlossen zugleich, sonst nur das Rascheln der Wacholderdrosseln im Herbstlaub vom letzten Jahr.

Sie zwang mich, die Liste der Ausrüstungsstücke zu wiederholen, und beim vierten Versuch schaffte ich es.

»Wir treffen uns an dem seltsamen Baum am westlichen Brunnen. Es ist ein Vogelbeerbaum«, sagte sie dann. »Ich besorge auch eine Menge Sachen. Ich muss einen Typen auftreiben, der Saxen heißt und uns Spezialausrüstung beschaffen soll. Denn Hans hat mir nicht erlaubt, alles zu behalten.«

Es wurde still, und ich verstand noch immer nichts. Gleichzeitig wurde mir klar, dass es eigentlich nur um eines ging. Wir durften nicht bei Hans bleiben.

Sie entfernte sich ein paar Schritte.

»Aber wohin … sollen wir?«, brachte ich heraus.

Sie seufzte und schluckte und schlug einen Augenblick lang die Arme um mich, dass ich das Gefühl hatte, ich müsse gleich umfallen.

Dann hustete sie, drehte sich um und lief quer über die Wiese hinüber zu dem kleinen asphaltierten Weg.

»Beim Vogelbeerbaum, klar?«

***

Ich blieb stehen, bis sie den Garten verlassen hatte, und ging dann wie in Trance zurück ins Haus. Schließlich landete ich an der Wand, und meine Gedanken überschlugen sich.

Es war unbegreiflich. Wir sollten abhauen, aber wieso musste das sein?

Zugleich war alles total einfach.

Befehl von Hans. Da gab es keinen Widerspruch.

 

Kurz darauf kam Diana zurück, und ich erklärte ihr und der älteren Frau in vagen Wendungen, dass ich in den nächsten Tagen andere Aufgaben zu erfüllen hätte und dass ein Ersatz für mich käme. Sie sahen mich verständnislos an.

»Gehst du weg?«, fragte eins der Kinder, ein fünfjähriger Junge.

Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Mehrere der Kinder scharten sich um mich, was mich wirklich erstaunte. Mir kam es so vor, als warteten sie auf etwas, und schließlich erklärte Diana ihnen, ich würde eine Zeit lang nicht zu ihnen kommen, wäre aber bald zurück. Der kleine Junge klammerte sich an mein Bein, stieß einen Kasten mit Glasperlen um und begann zu weinen. Ich konnte nur schwer verstehen, wieso er an mir hing, und während er weinte, fuhr ich mit den Fingern durch sein ungewaschenes struppiges Haar und streichelte ihm und den anderen den Rücken und versuchte, an gar nichts zu denken.

Ich spähte aus dem Fenster, sah aber nichts als den blauen Himmel und grünes Blattwerk und frisch aufgeblühte Schlüsselblumen.

 

Bevor ich ging, wandte ich mich noch einmal den Kindern zu, und ich wurde verlegen, weil das, was ich sagte, eine so offenbare Lüge war.

»Tut mir leid, dass ich euch verlassen muss. Es ist nur für ein paar Tage.«

***

Ich habe halblanges blondes Haar, das ich mir selbst schneide. Oder einfach abschneide. Meine Augen sind schmal, mit einer graugrünen Iris. Ich bin eins achtundsiebzig groß und habe, wie man so sagt, einen schmächtigen Körperbau, mit leicht abfallenden Schultern. Mein Bartwuchs am Kinn ist spärlich und an den Wangen gar nicht vorhanden. Meine Arme und Beine sind dünn, mein Kopf etwas zu groß für meinen Körper.

Niemand hat jemals vermutet, dass Anna und ich Geschwister sind. Wir sehen uns nicht ähnlich, außer dass wir beide schlank sind. Sie hat hohe Wangenknochen, und der Blick ihrer Augen ist intensiv. Früher drehten die Leute sich fast immer nach ihr um. Mich bemerkt niemand.

Und sie ist so schnell im Denken und Handeln, dass ich nie mithalten konnte. Im Beschreiben bin ich gut, wie gesagt, aber was das Verstehen betrifft …

Der Unterschied zwischen uns ist immer offensichtlich gewesen, für alle.

Es gibt nur ein Detail, an dem man erkennt, dass wir Geschwister sind. Und nur wir selbst wissen davon.

Die Hände. Wenn wir unsere Hände nebeneinanderlegen, könnten wir sie tauschen, ohne dass man es bemerken würde.

Schmale Finger, feingliedrig, mit leicht gerundeten Nagelbetten.

Ein paar Monate bevor wir zu Hans kamen, verbrachten wir zwei Nächte im Keller eines Ladenlokals in Hällevad. Es gab keine intakten Schutzräume mehr, also mussten wir uns dort aufhalten. Stühle, leere Kartons und Mehl, in dem es von Maden nur so wimmelte, bedeckten fast den gesamten Fußboden, es war eine Pizzeria gewesen.

Und in den beiden Bombennächten hielt Anna mich fest an beiden Händen, viele Stunden lang, ohne loszulassen. Unsere Hände flossen ineinander. Ich sah sie so lange an und schaute zu, wie unsere Finger sich ineinander verflochten, dass ich am Ende nicht mehr sagen konnte, wo ihre endeten und wo meine anfingen.

In jenen Nächten in der Pizzeria in Hällevad spürte ich, dass die Barriere fort war.

***

Ich arbeitete konzentriert und effizient. Von meinem Schlafplatz auf dem Dachboden des L-Hauses holte ich alles, was ich für brauchbar hielt, dann durchquerte ich das ganze Sommerhausgelände. Nachdem ich mich eine knappe halbe Stunde in der Nähe der Vorratsschuppen vor einer unserer Hilfstruppen versteckt gehalten hatte, konnte ich mich einige Minuten lang in einer der Baracken eindecken, denn dort lagen große Mengen schmutziger Ausrüstung unsortiert herum. Das meiste schien von der Armee zu stammen.

Unbemerkt gelangte ich zu den ans Gelände anschließenden Waldpartien. Ich folgte der Rückseite des Ekeberget, nahm den Weg über die moosbewachsenen Felsen hinunter in die Senke mit den beiden Bächen. Immer wieder blickte ich zurück, konnte aber niemanden entdecken, der von mir Notiz zu nehmen schien.

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr und gelangte auf die nächste Anhöhe. Von dort aus sah ich das kleine Schrägdach des Brunnenüberbaus neben den niedergebrannten Häusern.

Und dort stand er, mit seltsam dichten und struppigen Zweigen. Der Baum.

 

Anna saß auf dem Boden hinter dem gemauerten Brunnensockel und hielt nach allen Seiten Ausschau. Sobald ich mich näherte, stand sie auf, griff sich wortlos ihren grünen Rucksack, und wir gingen in nördliche Richtung in den Birkenwald.

Nach einigen Minuten blieb sie neben einem gewaltigen Steinblock stehen und wandte sich um.

Durch eine Öffnung zwischen den Bäumen sahen wir die niedrigen Holzhäuser auf dem Ekeberget, wo Hans und die anderen Führer sich aufhielten. Anna holte das Fernglas hervor und schaute, danach ließ sie auch mich hindurchsehen.

Die verdunkelten Fenster, die von Feuchtigkeit beschädigten Außenwände, die grau gefleckten Dachziegel. Lauter verlassene Häuser, die genau wie all die anderen aussahen, wenn man nicht wusste, wofür sie genutzt wurden.

»Warum guckst du sie dir so genau an?«, fragte ich.

Anna begegnete meinem Blick.

»Hans hätte es nicht tun müssen. Das absolut Einfachste wäre gewesen, uns sofort zu töten.«

Sie ging weiter.

»Aber er hat uns die Chance gegeben, zu verschwinden.«

Ich begriff immer noch nicht, warum wir die Häuser durchs Fernglas betrachten sollten.

»Aber ganz sicher bin ich mir nicht«, fuhr sie fort.

Es dauerte eine Weile, bis ich fragte: »Weswegen nicht sicher?«

Danach dauerte es wieder eine Weile, bis sie antwortete: »Ob nicht Tell oder jemand anders …«

Sie brach den Satz ab.

Es gefiel mir nicht, dass sie so verstummte.

Und das Schweigen hielt an.

 

Tell war ein weißhaariger Mann in den Vierzigern. Es waren merkwürdige Gerüchte über ihn im Umlauf, angeblich war er ein ehemaliger Gebirgsjäger und Armeeoffizier aus Värmland. Hans pflegte sich mit Aufträgen an ihn zu wenden, die kein anderer übernehmen konnte. Es hieß, Tell habe einen Monat zuvor einen Hinterhalt gegen eine Kolonne angeführt und anschließend die Gefangenen gezwungen, ihre eigenen Patronen aufzuessen. Oder dass er, wenn nötig, einen Mann nur mit der linken Hand töten könne. Außerdem könne er das Wetter besser vorhersehen als sonst jemand, was als besonders wertvoll galt. Wenn ich ihn dann und wann im Lager sah, senkte ich meinen Blick, denn der Ausdruck seiner Augen war so merkwürdig scharf, als steckten Dioden darin.

Schließlich brach sie das Schweigen.

»Darüber reden wir später.«

Wir hasteten weiter, ohne zu sprechen. Ich war ihr ganz nah, alles, was ich sehen konnte, waren Baumstämme, Steine und Wurzeln. Und frisch ausgeschlagene, zitternde Blätter raschelten die ganze Zeit weich in den Baumkronen über uns.

 

Bei einem Steinmännchen gabelte sich der Pfad. Sie hielt inne und bog ein trockenes Laubbüschel zur Seite, das im langen, vertrockneten Gras lag. Aus einer Vertiefung darunter zog sie einen halb vollen Rucksack, eine Isomatte, zwei leere Patronengürtel und ein Kochgeschirr. Es waren mehrere Minuten sorgfältiger Arbeit nötig, um die Sachen aus dem Stoffsack in den Rucksack zu packen, die übrige Ausrüstung am Gestell zu befestigen und alle Nylonriemen straff zu ziehen.

»Ich musste es heute Morgen nach und nach herbringen«, flüsterte sie. »Sonst hätte es komisch ausgesehen. Ich habe dem Quartiermeister gesagt, ich hätte einen Sonderauftrag und bliebe ein paar Tage weg, das war die einzige Möglichkeit, ihn zu täuschen.«

Sie kontrollierte den Inhalt meines Rucksacks und lobte mich, weil ich es geschafft hatte, einen Helm und Stiefel in gutem Zustand und in der richtigen Größe zu besorgen.

»Was ist mit warmer Kleidung?«, fragte sie.

»Das hier ist alles, was ich finden konnte.«

Sie schüttelte den Kopf und schaute zum Himmel auf. Der Regen und die grauen Wolken waren verschwunden.

»Es ist ja jetzt wärmer«, sagte ich. »Wir haben doch schon Mai.«

Sie erwiderte nichts, sondern packte weitere Ausrüstung in meinen Rucksack, bis er unglaublich voll war. Ich achtete nicht auf alles, aber ich sah einen Klappspaten und Schachteln mit Schmerztabletten und Seife und Trockennahrung und Wasserreinigungstabletten.

Sie wirkte nervös, fluchte über etwas, das ich nicht verstand, und zeigte dann in den Wald. Ich zögerte.

»Wohin gehen wir?«, wollte ich wissen. »Was ist dein Plan?«

Sie blieb stehen und sah mich starr an.

»Was spielt es für eine Rolle, ob ich es dir erkläre? Du weißt ja doch nichts, du wirst es nicht begreifen.«

Ich senkte den Blick und las den Kompass ab, denn darin war ich gut. Dabei dachte ich, dass die Luft warm war und dass ich überhaupt nicht fror.

»Ich wollte es nur wissen«, sagte ich und hielt den Blick auf die zitternde Nadel gerichtet.

 

Kurz danach gingen wir weiter, und ich steckte den Kompass in die Tasche. Geduckt überquerten wir mehrere Lichtungen mit eingefallenen Zäunen und vereinzelten Haufen moosbedeckter Steine. Neue Birkenwälder öffneten sich, dann folgte Mischwald mit Kiefern und Fichten und noch mehr Birken.

»Verlass dich auf mich, ich weiß, wo wir hinmüssen«, sagte sie.

Ihr Tonfall war übertrieben entschlossen, was mich misstrauisch machte, denn so hört sie sich meistens an, wenn sie lügt. Aber mir war auch klar, dass ich in dem Moment nicht weiterfragen konnte, obwohl ich gern gewollt hätte.

 

Wir gelangten in ein größeres Waldgebiet, wo ausschließlich Jungbirken standen. Die Stämme waren einander sehr ähnlich und standen ausgesprochen dicht, und die Rinde war leuchtend schwarz und weiß, und zwischen den Bäumen wuchs langes, frisches, beinahe unnatürlich grünes Gras. Der Boden war holperig, und wir gerieten ein ums andere Mal ins Stolpern, und überall wuchsen Birken.

»Hier bin ich noch nie gewesen«, sagte ich.

»Aber ich«, sagte sie.

Die Landschaft öffnete sich, und ich blickte auf einen langen grasbewachsenen Hang, der einmal eine Weide gewesen sein mochte. Auf einer Anhöhe lagen die Reste eines ausgebrannten Bauernhofs. Nur die Fundamente und die Schornsteine des Wohngebäudes waren noch da.

Alles sah verlassen aus. Anna schaute ein paar Sekunden durchs Fernglas.

»Was machst du?«, flüsterte ich.

Wir gingen an eingefallenen Elektrozäunen entlang, die dort lagen, wo der Birkenwald in eine Wiese überging.

Schließlich sah ich es. Rechts von den schwarzen Hausresten auf dem Hügel stand ein Haus, das nicht gebrannt hatte.

Eine Scheune.

Und auf dem Weg direkt dahinter näherte sich langsam ein schäbiger blauer Lastwagen mit abgedeckter Ladefläche.

***

Wie gesagt, ich erzähle die Dinge in der falschen Reihenfolge. Ich kann nichts dafür. Aber ich verspreche, dass am Ende alles klar und deutlich sein wird, richtig und korrekt, vom Anfang bis zum Ende.

Jedenfalls habe ich in der Rückschau den Eindruck, dass mein Blick die ganze Zeit funktionierte, er war ununterbrochen eingeschaltet, und es gelingt mir auch im Nachhinein, das, was ich gesehen habe, mithilfe von Papier und Bleistift wieder zu erschaffen.

 

Saxen und sein Bruder, das Waffengeschäft – nachdem es abgewickelt war, standen wir noch eine Weile in der Scheune. Die Sonnenstrahlen fielen noch immer durch die Lattenwand, ich hörte Bremsen, die draußen surrten, und sah zwei große Spinnen, die sich in ihren Netzen vor den glaslosen Fensteröffnungen bewegten. Anna zeigte mir, wie ich den Lauf des Mausergewehrs gegen die Schulter stützen sollte. Dann legte sie mir einen der gefüllten Patronengürtel um und zurrte das Pistolenholster gerade so fest, dass es noch einigermaßen locker an meiner rechten Hüfte hing. Sie legte den Gewehrkasten auf den Boden und spannte das Scharfschützengewehr mit dem Zweibein unter dem Schutztuch außen an ihrem Rucksack fest, bevor wir das übrige Gepäck aufnahmen und langsam an die Scheunentür traten.

Saxen versprach, den Motor erst zu starten, nachdem wir verschwunden waren. Bevor wir die Scheune verließen, sagte er: »Vergesst nicht, was ich euch gesagt habe. Meine neun guten Ratschläge.«

»Die werden wir nicht vergessen«, entgegnete ich.

Anna sah genervt aus, aber Saxen nickte ruhig, und es kam mir so vor, als hätte er mich gemeint.

»Vor allem Nummer sieben. Zieht nie als Letzte die Waffen.«

 

Geduckt huschten Anna und ich aus dem Tor und schlichen hinüber in die Vegetation nördlich der Scheune. Anfangs lastete das Gepäck unerhört schwer auf den Schultern, doch nachdem ich den Hüftgurt justiert hatte und wir zwischen den Kiefern angelangt waren, bewegten wir uns fast ebenso schnell, als wenn wir nackt gewesen wären. Scharfe Zweige zerkratzten mir das Gesicht, und ich musste mitten in der Bewegung die Augen schließen. Wir waren schon mehrere Hundert Meter von der Scheune entfernt, doch Anna lief weiter. Wir änderten die Richtung und bewegten uns eher nach Osten, danach wieder nach Norden.

Zehn Minuten später befanden wir uns noch immer in dichtem Kiefernwald. Ich war verschwitzt, aber nicht müde und justierte die Riemen und den Hüftgurt des Rucksacks noch einmal. Anna holte eine Karte hervor und zeigte auf einen Punkt nicht weit von der Mitte des Papiers.

»Wir sind weit genug von der Scheune entfernt, damit ich mich ruhiger fühlen kann«, flüsterte sie. »Ungefähr hier sind wir jetzt.«

Sie zog eine Konservendose ohne Etikett hervor und öffnete sie bewundernswert schnell mit dem kleineren Messer. Es war Mais. Mit den Fingern aß sie einen Teil des Inhalts und gab mir den Rest. Es schmeckte säuerlich, aber ich aß alles auf, setzte dann die Dose an die Lippen und trank die Flüssigkeit bis zum letzten Tropfen aus.

»Erik, wir brauchen wieder gemeinsame Regeln«, sagte sie dann.

Ich sah sie aufmerksam an, denn mir war klar, dass das, was jetzt kam, mir gewisse Schwierigkeiten bereiten könnte.

»Und die gelten immer«, fuhr sie fort.

Ich nickte.

»Wenn wir uns verlieren, was machen wir dann?«

Ich überlegte, während wir abwechselnd aus ihrer Feldflasche tranken.

»Wir machen es wie immer. Wir treffen uns an dem Ort wieder, an dem wir getrennt wurden«, sagte sie.

Ich brummte zustimmend.

»Falls das geht. Wenn es aus irgendeinem Grund nicht gehen sollte, sehen wir uns an dem Ort wieder, wo wir zuletzt übernachtet haben.«

»Und wenn auch das nicht geht …«, begann ich.

»… dann sehen wir uns an dem Ort, wo wir die Nacht davor verbracht haben.«

Das würde nicht reichen. Es konnte so viele andere Szenarien geben, und für die hatten wir keine Regeln. Aber ich sagte nichts, denn es kam mir so umständlich vor, in diesen Bahnen zu denken.

Sie wusste das und hatte es vor langer Zeit einmal selbst gesagt. Dass es nicht möglich sei, genauer zu planen.

Einige Sekunden lang sahen wir uns unverwandt an.

»Wir dürfen nicht getrennt werden. Verstehst du?«, sagte sie.

Und plötzlich nahm sie mich in den Arm. Warm und fest.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich ließ sie gewähren. Dann ließ sie mich los und sah unerwartet streng aus.

»Und wenn wir plötzlich auf andere Menschen treffen, hier draußen im Wald zum Beispiel, was tun wir dann?«

Sie stellte die Frage noch einmal, bevor ich mich gezwungen sah zu antworten.

»Das Übliche«, murmelte ich. »Wir verstecken uns? Halten still? Versuchen herauszufinden, zu welcher Gruppe sie gehören?«

Anna blickte sich zwischen den Bäumen um und wagte jetzt, leise zu sprechen, statt zu flüstern.

»Falsch. Ab sofort gehören wir keiner Gruppe mehr an, Erik. Wir sind allein.«

Ich starrte ins Leere. Ich verschränkte die Arme und versuchte, an überhaupt nichts zu denken.

»Wenn wir jemandem begegnen, müssen wir bereit sein«, sagte sie. »Hast du begriffen? Dann heißt es, sie oder wir.«

***

Sie ging die Verpflegung und die Munition durch, die wir bei uns trugen, und was sie im Einzelnen an Ausrüstung hatte mitgehen lassen.

Es war einiges. Ich wusste nicht einmal, was all die Wörter bedeuteten. Und ich begriff nicht, wie wir in der Lage sein sollten, das alles zu tragen. Sie sagte, ich müsste so bald wie möglich den Umgang mit meiner Pistole und meinem Gewehr und meinem Messer üben.

Was macht sie da?, dachte ich. Was hat sie vor, was glaubt sie eigentlich, wozu ich fähig bin?

»Ich werde dich trainieren«, fuhr sie fort. »Später. Jetzt müssen wir erst weit genug weg. Weg von Hans. Und Tell.«

Dass sie Tell wieder erwähnte. Einmal, ganz am Anfang unserer Zeit bei Hans, hatte ich gesehen, wie Tell hinter einem Nebengebäude in sehr zärtlicher Weise eine Frau geküsst hatte. Es war sonst niemand da gewesen, ich war zufällig der einzige Zeuge. Dass er, über dessen Gewalttätigkeit es so viele Gerüchte gab, auch küssen konnte, hatte mich damals gewundert. Aber was spielte eine solche Beobachtung für eine Rolle?

Vielleicht plante Anna ja, in die Sümpfe zu gehen. Eine Menge von Leuten war dorthin geflohen. Es hieß, dass Pfade durch die Sümpfe führten. Dass man auf der anderen Seite herauskommen konnte. Was das nun bedeuten mochte.

Ich atmete so langsam wie möglich.

Sie hatte eine Art Plan, davon konnte ich ausgehen. Aber sie zog es vor, mir nichts davon zu erzählen.

Oder?

Vielleicht aus Mitgefühl. Oder es war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Es war einfacher für sie, je weniger ich wusste. Und vielleicht auch, je weniger Angst ich hatte?

 

Natürlich gab es ein paar Fragen, die ich ihr stellen wollte. Und ihr musste klar sein, dass ich es früher oder später tun würde.

Ich beschloss, nicht mehr zu warten.

»Warum hat Hans verlangt, dass wir weggehen?«, fragte ich. »Warum müssen wir so plötzlich verschwinden?«

Sie sah mich an, als hätte ich eine für mein Alter viel zu intelligente Frage gestellt.

»Ich weiß es nicht, Erik«, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Ich weiß es nicht.«

Dieses gespielte Lächeln kannte ich schon. Und den Tonfall, aus unserer Kindheit. Die Lügenmiene.

Und ich lächelte zurück.

Vielleicht sah sie mein Misstrauen, vielleicht empfand sie mein Lächeln als ironisch, denn sie drehte sich abrupt zu mir um. Ihr Blick und ihre Körpersprache zeugten von Ungeduld, und ich kannte auch das schon – in Situationen wie dieser musste ich schweigen (sie musste das nie), und sie packte mich an der Schulter meiner Tarnjacke und schüttelte mich heftig.

»Begreifst du es schon wieder nicht? Verstehst du nicht, was ich sage? Wir müssen hier weg! Es gibt keine Alternative!«

Wütend zu werden – das war ihre Art, mich verstehen zu lassen.

Frage nicht, gehorche.

Und das Ganze hatte vermutlich einen ziemlich krassen Grund. Es würde fortan für uns von Vorteil sein, wenn ich nicht zu viel wusste. Sie wollte mich vor der Gefahr schützen, die stets mit dem Wissen verbunden ist.

Natürlich war ihr klar, dass ich begriff, dass Hans ihr eine Art Erklärung gegeben hatte. Aber diese Erklärung sollte mich nicht erreichen.

 

Obwohl sie es schließlich doch tat. Aber das war weit, weit später.

***

Ich will den Ereignissen nicht vorgreifen. Ich versuche nur, ganz genau zu erzählen, was passiert ist.

 

Die Landschaft neigte sich abwärts, es begann schon dämmerig zu werden, und in einer Talsenke voller Steinblöcke stießen wir auf einen kleinen Bach, der laut vor sich hin plätscherte. Zwei mächtige runde Steinplatten lagen mitten im Bachbett, aber neben der Stromrinne gab es tümpelartige Stellen, wo das von Algen bedeckte Wasser stillzustehen schien und Insekten schwebten.

»Hier«, sagte Anna und zeigte auf die Karte. »Alte Mühle. Siehst du?«

Sie zeigte auf ein Symbol am Kartenrand und danach auf einen Punkt vor uns im Wald. Ich erkannte einen Hügel mit älteren Bäumen, die sich als gespreizt aufragende Silhouetten abzeichneten.

»Hans’ letzter Posten im Norden befindet sich irgendwo dort drüben, auf der anderen Seite«, flüsterte sie. »Sie dürfen uns auf keinen Fall sehen. Wir gehen noch ein Stück weiter, danach müssen wir durch einen Fluss waten. Dann kommt diese Partie, das ist Niemandsland. Dahinter sind die Grenzlinien, hier irgendwo. Die Wachposten auf der anderen Seite liegen sehr dicht, wir müssen unglaublich leise sein.«

Ich nickte und schauderte. Das war eine klare Ansage. Saxen hatte recht gehabt, ich hatte falschgelegen. Wir würden nicht in die Sümpfe gehen. Wir würden versuchen, uns mitten durch die Linien der feindlichen Gruppen hindurch nach Osten durchzuschlagen.

Was hat sie eigentlich vor? Ist sie verrückt geworden?, dachte ich.

Währenddessen zeigte sie mir eine weitere Markierung auf der Karte, eine farbliche Abstufung, die den Übergang zwischen Ackerland und Wald angab.

Ich drehte mich zu ihr und wollte gerade flüstern, dass wir vielleicht trotz allem etwas hierbleiben könnten, dass ich mich jetzt ausruhen müsse. Doch in dem Moment wisperte sie mir in vorwurfsvollem Ton zu, dass ich viel mehr Geräusche machte als sie, dass ich besser darauf achten sollte, wie ich die Stiefel aufsetzte und das Gepäck trug und wie ich atmete.

Sie entfernte sich vom Bachlauf, ihr wachsamer Blick pendelte von einer Seite zur anderen, und sie hielt das Mausergewehr schussbereit vor der Brust.

Was sollte ich tun? Aufbegehren? Rufen? Mich weigern, weiterzugehen?

Ich hatte keine Wahl. Ich konnte nur folgen.

 

Niemandsland.

Es löste etwas in mir aus, als sie das Wort benutzte. Es klang altmodisch. Doch es war Realität.

Im Sommerhausgelände gab es Gerüchte. Draußen im Niemandsland liegen aufgequollene Menschen, groß wie Kühe. Da liegen mehrere Jahre alte Leichen, von denen nur die Schädel und die Knochen noch übrig sind. Man sieht jede Amalgamfüllung in den Zähnen und jede Schussverletzung im Skelett.

Da liegen die Reste von zweien unserer Wallache, die im Schlamm stecken geblieben waren, die zuerst vom Morast halb hinabgezogen und in der darauffolgenden Nacht von Wölfen angefallen wurden. Das Wiehern der Pferde zum Nachthimmel, wie sie zerfleischt wurden, während unsere Soldaten nur hundert Meter entfernt auf Posten lagen, aber nichts machen konnten, weil das Mündungsfeuer ihre Positionen verraten hätte, wenn sie versucht hätten, den Pferden den Gnadenschuss zu geben.

Im Niemandsland liegen Hunderte Blindgänger, nicht explodierte Granaten, denen man nicht nahe kommen darf, und kilometerweite Felder voller Tretminen. Da gibt es Diamanten, die aus den aufgeplatzten Uniformtaschen der aufgequollenen Leichen rieseln.

All diese Geschichten. Viele von ihnen hatte ich direkt von Anna gehört.

 

Bei einer neuen Senke hielt sie endlich inne, um Luft zu holen. Wir mussten abwarten, wie sie sich ausdrückte. Damit meinte sie die Dämmerung.

Wir lagen auf dem von Fichtennadeln bedeckten Boden, ohne etwas zu sagen. Lautlos fuchtelten wir mit den Armen, um die Mücken zu vertreiben, die ständig unsere Gesichter umschwirrten. Es wurde kälter, aber ich fror nicht. Das Tageslicht am Himmel nahm langsam ab, aber das Hellblaue dominierte noch über das Dunkelblaue.

 

Wir vernahmen Rufe, in großer Entfernung, und horchten. Sogleich hörte man aus noch weiterer Ferne das Geräusch von Maschinen. Ich hatte keine Ahnung, woher die Geräusche kommen konnten, aber Anna verhielt sich so, als sei sie daran gewöhnt.

Sie flüsterte etwas über Saxen. Was für ein verdammter Idiot er wäre mit seinen albernen Ratschlägen. Wie konnte er denken, dass wir selbst noch nichts erlebt hätten? Sie sagte, sie bereue, ihm erzählt zu haben, dass wir fortwollten. Man könne ja nie wissen.

»Aber wenn ich es nicht erzählt hätte, dann hätte er uns die Sachen nie verkauft.«

 

Nach mehr als zwei Stunden dort am Boden erhoben wir uns wieder und gingen weiter, jetzt wieder geduckt. Es fühlte sich nicht so an, als würden wir von der nächtlichen Dunkelheit umhüllt. Sie war lediglich als Hintergrund da, und wir waren trotzdem sichtbar.

Ich beschloss, nicht Ausschau zu halten. Stattdessen folgte ich ihrem deutlichen Umriss mit dichtem Abstand, geradewegs ins Niemandsland hinein, und bemühte mich, nicht zurückzubleiben.

Meine Schultern waren verspannt, ich schwitzte. An einem flechtenüberzogenen Felsvorsprung blieb ich stehen und pinkelte, während sie ungeduldig wartete. Und weiter ging es zwischen den Baumstämmen. Sie sah selten auf die Karte, sie ging zielgerichtet und wählte unseren Kurs zwischen Steinblöcken, Wäldchen und Lichtungen, und ihr Körpergeruch schlug mir die ganze Zeit in kleinen Dunstwolken entgegen. Es waren keine Schüsse zu hören, nicht einmal aus weiter Ferne, aber hier und da fuhr etwas auf zwischen den Bäumen und verschwand. Rehkitze, Hasen, Eulen, Ratten. Ich dachte an die Ravioli in den Konservendosen in R, an die Paletten mit Hagebuttensuppe oder Champignonsuppe, deren Verfallsdatum mehrere Jahre zurücklag, und Annas Duft schlug mir erneut entgegen, und der Lauf des Mausergewehrs ragte die ganze Zeit über ihre rechte Schulter auf, und wir gingen geduckt durch hohes Gras, und von der Erde roch es intensiv nach Blumen, aber ich konnte im Dunkeln weder ihre Farbe noch ihre Form erkennen und versuchte, an alles andere zu denken, nur nicht an das, was in der Erde unter uns lag, oder an den Grenzlinien, oder bei den Wachposten auf der anderen Seite, direkt vor uns.

Annas schwarze und leicht vorgebeugte Silhouette ganz dicht vor mir, das schwache Licht am Nachthimmel, die sekundenlangen Pausen, wenn sie innehielt und lauschte, bevor wir mit dem gleichen minimalen Abstand zwischen uns weitergingen. Meine Bewegungen und Schritte und Atemzüge waren jetzt weniger hörbar, was auch sie bemerkte, denn sie klopfte mir anerkennend auf die Schulter, ohne mich anzusehen, während wir einen Hang hinaufstiegen, der steiler war als irgendeine andere Stelle vorher.

Ich wurde immer steifer, mein Atem ging schneller, das Gepäck presste die Schultern zusammen, die Knie gaben nach – am Ende ging es nicht mehr anders. Ich legte meine Hand an ihren Nacken und flüsterte, so leise es ging: »Ausruhen.«

Sie verlangsamte ihre Schritte, sah sich um und nickte, aber mit zweifelndem Blick. Sie griff zu ihrer Feldflasche, sank in die Hocke und trank lautlos, während ihre grünen Augen in all dem Schwarzen aufglommen. Dabei hielt sie unablässig die Finger am Abzug des Gewehrs in Bereitschaft.

»Wie weit ist es noch bis zu ihren Linien? Wie kommen wir da durch?«, flüsterte ich.

Sie antwortete nicht, sondern stand auf und stieg schweigend weiter den Hang hinauf, und obwohl ich noch nicht fertig war mit meiner Flasche, ließ sie mir keine Wahl, ich musste ihr folgen und verschüttete etwas von dem Wasser. Die Luft fühlte sich jetzt kühler an, es roch nach Harz und frisch ausgeschlagenem Laub. Kleine Nachtvögel, die ich nicht kannte, flogen hoch über den Baumkronen. Ich dachte an alles Mögliche, ans Essen und daran, dass die Vitamintabletten, die wir den Kindern gegeben hatten, vor ein paar Tagen ausgegangen waren, dass ich einige Tage zuvor Diana ganz nackt gesehen hatte, als sie sich in der Toilette des R-Hauses wusch, ich dachte an den kleinen Jungen, der mich umarmt hatte, und an sein Lieblingsspielzeug, einen Hund aus rot bemaltem Holz, den er Rakan nannte, daran, dass es sich anfühlte, als hätte ich ein Baumwolltuch vor den Augen und als würde sich ein Teil des schwachen Lichts im Stoff festsetzen. Aber die ganze Zeit sah ich ihren Rücken vor mir, Annas Rücken, wie eine schmale Silhouette aus schwarzem Samt.

 

Wir stiegen immer weiter hangaufwärts, und ich flüsterte erneut: »Die Grenze? Ihre Posten?«

Sie legte ihre Hand auf meinen Unterarm und drückte ihn, und die Haut ihrer Finger war so weich. Ich wusste, dass sie mich ansah, doch als ich versuchte, ihren Blick zu erwidern, hatte ich das Gefühl, als würde unser Augenkontakt vom Filter des Dunkels unterbunden.

Langsam flüsterte sie: »Wir sind … schon … durch.«

Dann klang es, als tränke sie einen Schluck aus der Flasche. Oder als schluckte sie.