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Gitta Edelmann

CANTERBURY
SYMPHONY

Ein Krimi aus Kent
und Schottland

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Für Anne, Fenna,
Regine und Ulrike

A friend in need
is a friend indeed!

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

A Canterbury Song

Kapitel 1

»Hi Ella, alles okay? Wie ist das schottische Wetter? Pass auf dich auf!«

Ella Martin runzelte die Stirn. Sie sah Alex förmlich vor sich, wie er mit noch feuchtem Haar am Frühstückstisch saß und aus dem blau-weiß gepunkteten Becher seinen Kaffee trank. Wahrscheinlich hatte er zuerst lange sein Handy angestarrt, bevor er ihr diese WhatsApp geschrieben hatte.

Ihr letztes gemeinsames Frühstück war Wochen her, und in den Tagen vor ihrer Abfahrt nach Edinburgh war das Verhältnis zwischen ihnen doch sehr gespannt gewesen. Erstaunlich, dass er sich überhaupt meldete. Sicher hatte es ihm weder gefallen, dass sie nach dem abgeschlossenen Fall in London nicht einfach zurück in seine Arme gesunken war, noch, dass sie so plötzlich nach Schottland hatte fahren wollen. Alleine.

Sie griff nach ihrem Teebecher und nahm einen kräftigen Schluck, dann tippte sie: »Alles bestens, sogar das Wetter.«

Warum sollte etwas nicht okay sein? Und war es nicht typisch, dass er ihr extra schrieb, sie solle auf sich aufpassen? Im Grunde wollte er damit doch bestimmt nur sagen: »Halte dich von Morden fern!« Und natürlich würde sie das tun!

»Nur weil ich mehrmals zufällig Mordfälle aufgeklärt habe, heißt das ja nicht, dass ich daraus ein Hobby machen will«, murmelte sie und schickte die WhatsApp ab.

Inzwischen war ihr Laptop hochgefahren und sie öffnete den Maileingang. Ihre Schwester Sylvia hatte Fotos von einem Ausflug mit ihren Kindern geschickt, vom Verlag kam ein Vorschlag für das Cover ihres neuesten Romans. Nun ja, natürlich musste es für einen Liebesroman romantisch sein, aber die dichten hellrosa Rosen im Vordergrund waren doch ein wenig zu üppig. Sie schickte eine kurze Nachricht an ihre Lektorin und klickte zwei Newsletter weg. Dann öffnete sie die Mail von Mary Ann.

Ihrer Freundin aus Canterbury ging es weiterhin gut – oder wie sie mit mehreren Smileys schrieb: »den Umständen entsprechend«. Noch immer wisse sie nicht, ob es ein Mädchen oder ein Junge werden würde, aber das wolle sie auch gar nicht. So sei es doch eine wirkliche Überraschung. Mary Anns Mann Brian schien die Ungewissheit nicht ganz so spannend zu finden wie sie. »Aber schließlich kriege ich das Kind!«

Ella lächelte. Zwischen den Zeilen war klar zu lesen, wie glücklich Brian und Mary Ann darüber waren, Eltern zu werden.

»Und – hast du schon ein Geheimnis gelöst, ein Verbrechen aufgeklärt oder einen Mörder gefangen?«, fragte Mary Ann zum Schluss, bevor sie ihre Mail mit xxx, drei Küsschen, beendete.

Ella schüttelte den Kopf. Warum taten alle so, als wäre sie nur darauf aus, der Polizei ins Handwerk zu pfuschen? Sie war hierhergefahren, um Canny einen Gefallen zu tun und Abstand von Alex zu gewinnen. Und natürlich war sie neugierig auf Schottland gewesen.

Nun saß sie also in Portree in ihrem gemütlichen Zimmer der »Bed & Breakfast«-Pension am Fenster und konnte, wenn sie den Kopf hob, hinaus auf den Hafen mit seinen kleinen, bunten Häusern und unzähligen Booten blicken.

»Liebste Mary Ann«, schrieb sie schließlich, »bisher ist hier einfach alles wunderbar und ich genieße Land und Leute, auch wenn ich sie manchmal nicht verstehe. An den schottischen Akzent muss ich mich erst noch gewöhnen. Ich bin gestern Abend nach einer herrlichen, malerischen Zugfahrt in Kyle of Lochalsh angekommen und hatte sogar Glück, dass dort kurz darauf der Bus nach Portree abfuhr. Bis ich hier war, war es zwar schon dunkel, aber heute Morgen …« Sie fügte noch ein paar Sätze über Wetter und Landschaft hinzu und trank nebenher ihren Tee.

Wie gut, dass sie einen Wasserkocher im Zimmer hatte, denn sie musste noch eine weitere halbe Stunde überbrücken, bis Mrs MacLeod um acht Uhr das Frühstück servieren würde. Verflixt, warum war sie heute so früh aufgewacht? Immerhin konnte sich Mary Ann über eine lange, ausführliche Mail freuen.

»Eigentlich«, schrieb Ella weiter, »wäre ich gerne noch ein paar Tage länger in Edinburgh geblieben. Die Stadt scheint wunderschön zu sein, alt und neu und großstädtisch und voll wilder Natur, alles gleichzeitig. Allein schon der Bahnhof – kennst du eine andere Stadt, die ihren Bahnhof nach einem Roman benannt hat? Ich habe vor, auf der Rückreise ein wenig mehr davon zu sehen. Robert und Trisha, Cannys Freunde, bei denen ich die ersten beiden Nächte bleiben konnte, haben mich eingeladen wiederzukommen. Wann genau ich nach Canterbury zurückkehre, steht also ein wenig in den Sternen, aber ich werde dich auf dem Laufenden halten. Verbrechen bin ich noch keinen begegnet, aber ein kleines Geheimnis habe ich sehr wohl aufklären können. Ich weiß jetzt nämlich, warum Canny ›Canny‹ genannt wird und nicht ›John Brown‹, wie es in seinem Pass steht.«

Ella hielt inne und lächelte. Die kurze Zeit in der schottischen Hauptstadt hatte sie ziemlich angestrengt, weil sie den einzigen ganzen Tag, den sie dort hatte verbringen können, von morgens bis abends zu Fuß unterwegs gewesen war, um möglichst viel zu entdecken. Natürlich hatte sie nur einen Bruchteil dessen gesehen, was sie eigentlich gerne besichtigt hätte. Keine Frage, sie musste zurückkehren.

Sie klickte ihr Mailprogramm klein und öffnete den Bilderordner, in dem sie ihre zahlreichen Edinburgh-Fotos gespeichert hatte. Hier: der Bahnhof. War das wirklich erst drei Tage her?

Kapitel 2

Waverley Station, benannt nach einem Roman von Sir Walter Scott. Genau das richtige Umfeld für eine Autorin und vielleicht sogar das perfekte Setting für ihren nächsten Liebesroman? Ella war zwar eigentlich aus anderen Gründen hier, aber ein bisschen Recherche lief ja immer nebenbei.

Sie schulterte ihren himmelblauen Tramperrucksack und stieg hinter dem alten Mann, der seit London geschlafen hatte, aus dem Zug. Einen Moment lang blieb sie auf dem Bahnsteig stehen und rückte den Rucksack noch einmal gerade. Nach der langen Bahnfahrt war es schön, sich endlich wieder bewegen zu können.

Ihre Uhr zeigte halb drei. Wo war der Ausgang? Hm, es gab wohl mehrere. Sie entschloss sich für die Richtung Princes Street, denn Robert Munroe hatte am Telefon gesagt, sie könne zum Westende der Princes Street gehen und dort um die Ecke in der Lothian Road einen der Busse nach Morningside nehmen, Linie 11 oder 16 oder … Verflixt, wo hatte sie sich das aufgeschrieben?

Und dann war sie endlich in der Princes Street. Es war windig, aber zwischen weißen Wattewolken kam mit einem Mal die Sonne hervor. Unwillkürlich kniff Ella kurz die Augen zusammen und sah sich dann noch einmal genauer um.

Oh wie schön! Vor ihr die belebte Straße, links das Grün der Princes Street Gardens, und dort oben lag Edinburgh Castle. Sie lächelte. Es war eine gute Entscheidung gewesen, nach Schottland zu fahren. Sie fühlte sich jetzt schon viel besser.

»Ah, du musst Cannys Detektivin sein. Hast du uns gut gefunden?« Robert Munroes Frau, die Ella bereits beim ersten Klingeln die Tür geöffnet hatte, trat zur Seite und ließ sie eintreten. »Ich bin Trisha«, fügte sie hinzu.

»Ella – vielen Dank, dass ihr mich eingeladen habt!« Ella ließ den Rucksack von ihren Schultern gleiten, stellte ihn an die Wand und reichte Trisha die Hand.

»Och, kein Problem. Du kannst gerne bleiben, so lange du willst. Unsere Kinder sind aus dem Haus, aber die Zimmer sind hiergeblieben.« Trisha lachte. »Ich zeige dir gleich, wo du schlafen wirst, und natürlich die Küche. Bedien dich einfach, fühl dich wie zu Hause!«

Ella nahm ihren Rucksack wieder auf und folgte ihrer Gastgeberin die Treppe hinauf zu einem hellen Zimmer mit weißen Möbeln und großen orangefarbenen Chrysanthemen auf dem Bettüberwurf.

»Verstehst du mich überhaupt?«, fragte Trisha. »Es soll ja Leute geben, die mit dem schottischen Akzent Schwierigkeiten haben.«

Ella lächelte und nickte. »Ich muss mich etwas konzentrieren, aber es geht ganz gut. Canny fand ich am Anfang viel unverständlicher.«

»Rob und Canny haben ihre Kindheit ja auch in Glasgow verbracht«, sagte Trisha, als ob das alles erklärte. »Und du bist also aus Canterbury?«

Ella stellte ihr Gepäck ab und wandte sich ihrer Gastgeberin zu. »Nicht direkt«, sagte sie. »Eigentlich komme ich aus Deutschland …«

»Ah, großartig!« Trisha strahlte. »Ich mag die Deutschen. Freue mich schon wieder auf das nächste Spiel Deutschland gegen England. Fußball«, ergänzte sie.

Ella sah sie überrascht an.

»Wenn Schottland nicht spielt, sind wir immer für die Deutschen«, erklärte Trisha. »Willst du dich ein bisschen ausruhen? Ach, und das Bad ist nebenan. Rob kommt um fünf, und dann können wir auch schon bald essen. Ich hoffe, du magst Lachs.«

Ella nickte, und Trisha eilte die Treppe hinunter.

Tatsächlich tönte sogar früher als erwartet ein fröhliches »Ella, tea’s ready!« durch das Haus.

»Rob kam heute extra pünktlich. Ich sehe schon, wir brauchen öfter einen Gast«, sagte Trisha und zwinkerte Ella zu, als diese die geräumige Küche betrat.

Der Mann am Tisch grinste und stand auf. »Robert Munroe«, stellte er sich vor. »Rob für Freunde – und Freunde von Freunden.«

Wie herzlich die Munroes waren – Canny hatte nicht übertrieben, als er Ella vorgeschlagen hatte, bei seinem alten Schulfreund und dessen Frau in Edinburgh zu übernachten. Trisha und Rob schienen wirklich erfreut über ihren Besuch zu sein.

Bei frischem Lachs mit gerösteten Kartoffeln und Salat gaben sie Ella allerlei Besichtigungstipps, bis die lachend sagte: »Um das alles zu sehen, müsste ich ja ein paar Wochen hierbleiben! Aber man erwartet mich auf der Isle of Skye.«

»Na, das geht nun wirklich nicht!« Trisha schüttelte den Kopf. »Jetzt sag bloß, du willst morgen schon weiter, ohne Edinburgh gesehen zu haben!«

»Übermorgen. Das Ticket ist fest gebucht.«

»Vielleicht kannst du ja noch einmal herkommen, wenn du deinen Fall gelöst hast«, schlug Rob vor.

»Möglich«, antwortete Ella. »Ich weiß allerdings nicht, wie lange das dauern wird. Cannys Tante …«

»Auntie Flora.« Rob nickte und sagte mit einem Seitenblick zu Trisha: »Das ist die, die immer auf uns aufgepasst hat, als wir Kinder waren. Wenn sie gar nicht mit uns fertigwurde, hat sie Toffee gekocht und uns damit bestochen.« Dann wandte er sich wieder Ella zu. »Entschuldigung, ich wollte nicht unterbrechen.«

»Also«, fuhr Ella fort, »sie lebt ja wohl in einem privaten Altenheim und glaubt, dort wird gestohlen. Daher wollte sie, dass Canny einen Privatdetektiv zu ihr schickt. Er kennt aber keinen und weiß auch nicht, wie viel er seiner Tante glauben kann, weil sie ja doch nicht mehr so jung ist, und die Leiterin des Heims meinte … Da hat er mich gefragt. Ich bin ja eigentlich keine Detektivin, aber ich habe zufällig bei ein paar Fällen mitgeholfen, Alex, also der Polizei …« Verflixt, was stotterte sie da? Sie atmete tief durch und begann von vorn. »Ich bin Autorin«, erklärte sie, »und kam vor einiger Zeit zur Recherche nach Canterbury. Und dann wurde Aileen aus meinem Chor tot aufgefunden, und der Detective Inspector … Nun ja, ich hatte auch danach noch mit ein paar Kriminalfällen zu tun, und deshalb dachte Canny wohl, ich könnte mal nach seiner Tante sehen.« Hm, viel klarer war das wohl auch nicht.

»Oh!« Trisha ließ die Gabel sinken. »Das hat er uns gar nicht erzählt. Er hat nur angefragt, ob wir einer befreundeten Detektivin, die er engagiert hat, ein paar Nächte Unterschlupf bieten würden. Autorin, sagst du?«

»Tut mir leid, wenn ich euch enttäusche.«

»Ach was.« Rob schüttelte den Kopf.

»Was schreibst du denn?«, wollte Trisha wissen. »Krimis?«

Ella lachte. »Nein, Liebesromane.«

»Och, ich lese viel lieber Krimis. Kannst du nicht auch mal einen Kriminalroman schreiben?«

»Wer weiß, vielleicht eines Tages.« Ella lächelte.

»Und woher kennst du Canny?«, erkundigte sich Rob.

»Aus dem White Swan – ich treffe mich mit Freunden immer in seinem Pub, und wenn es nicht zu voll ist, halten wir auch schon mal ein kleines Schwätzchen.«

»Guter Pub?«, fragte Rob zwischen zwei Bissen.

Ella nickte.

»Siehst du, Trisha? Ich habe immer gesagt, er braucht keinen Bürojob, sondern einen eigenen Pub. Nur schade, dass der so weit im Süden liegt.« Nun wandte er sich an Ella: »Wenn du Lust hast, können wir dir nachher unseren Stamm-Pub zeigen.«

»Sehr gerne.«

»The Canny Man’s« stand in roter Schrift auf dem Wirtshausschild. Ellas Gastgeber steuerten zielbewusst auf das zweistöckige Eckgebäude aus grauem Stein zu. Ein poliertes Messingschild erklärte schon an der Tür die Regeln:

»No smoking.

No credit cards.

No mobile phones.

No cameras.

No backpackers.«

Gut also, dass Ella sich statt des Rucksacks nur ein kleines Handtäschchen umgehängt hatte.

Das Innere des Pubs erwies sich als verwinkelt und voller alter Gemälde und Gegenstände, die Wände und Decken schmückten. Darunter befanden sich Skistöcke, Mandolinen, Militäruniformen, Schwerter, ein Boot und eine als Hexe verkleidete Schaufensterpuppe.

»Früher wurde hier nie abgestaubt«, sagte Rob grinsend. »Da war die Atmosphäre noch spezieller mit all den staubigen Spinnweben. Aber irgendwann hat dann das Gesundheitsamt gemeckert. Oder war es, weil der Brandschutz …? Na, egal. Was wollt ihr?«

Trisha und Ella entschieden sich für Cider, und Rob ging zur Bar, um die Getränke zu holen.

Als er mit den Gläsern zum Tisch in der kleinen Nische kam, an den sie sich gesetzt hatten, fragte Ella: »The Canny Man’s – ist das der Grund für Cannys Spitznamen?«

Rob grinste und nickte. »Ursprünglich hieß der Pub mal ›The Volunteer Arms‹. Aber der Besitzer Anfang des 20. Jahrhunderts wurde ›The Canny Man‹ genannt, und der Name blieb haften. ›Canny‹ heißt so viel wie ›vorsichtig‹, und das war der gute Mann wohl. Er starb auf jeden Fall erst, als er fast 90 war. Und unser John Brown …«

Ella nickte, um zu zeigen, dass sie Cannys bürgerlichen Namen kannte.

»… war auch immer sehr vorsichtig. Besonders mit den Mädchen!« Rob lachte und stieß mit Ella und Trisha an. »Cheers!«

Nach den ersten Schlucken lehnte sich Ella entspannt zurück. Ein Rätsel hatte sie also bereits gelöst – wie Canny zu seinem Namen gekommen war. So viel schwieriger konnte es eigentlich nicht sein herauszufinden, ob im Altenheim seiner Tante Flora gestohlen wurde.

Kapitel 3

Ella schnupperte. Ja, es roch jetzt tatsächlich nach gebratenem Speck. Mrs MacLeod war wohl dabei, das Frühstück zuzubereiten. Ella warf einen Blick auf die Uhr: Es war schon kurz vor acht, nun war die Zeit doch sehr schnell vergangen. Sie schaute noch einmal aus dem Fenster. Es sah nicht so aus, als würde sie in nächster Zeit ihre Regenjacke brauchen. Sie schlüpfte in ihre Sneakers und packte das Handy, ihre Kamera und den Stadtplan, den sie in ihrem Zimmer vorgefunden hatte, zu ihrem Portemonnaie in den kleinen Rucksack, der viel praktischer war als eine Handtasche.

Mit ihrer Lederjacke und einem großen bunten Tuch über dem Arm stieg sie die Treppe hinunter. Sie wollte gleich nach dem Frühstück hinausgehen und die Stadt erkunden, bevor sie um zehn Uhr von Flora Urquhart in Scorrybreac House erwartet wurde.

»Morning!«, grüßte Mrs MacLeod, als Ella die Küche betrat, und schlug Eier in die Pfanne. Mit dem Kinn wies sie auf den großen Tisch, auf dem bereits eine dicke Teekanne auf einem Stövchen stand. »Einen kleinen Moment noch. Sie wollten keinen Räucherhering?«

»Nein, danke. Und auch keinen Black Pudding.« Ella hatte eine dieser typischen Blutwurstscheiben bereits bei Rob und Trisha probiert und festgestellt, dass sie nicht ihr Ding waren, schon gar nicht zum Frühstück.

Kaum hatte sie sich auf der Bank hinter dem Tisch niedergelassen und sich eine Tasse Tee eingegossen, als ein junges Pärchen erschien und fröhlich grüßte. Die beiden setzten sich zu Ella, und schnell war ein Gespräch im Gange, bei dem sich herausstellte, dass Amy und Jim aus Kanada kamen und auf Skye wandernd ihre Hochzeitsreise verbrachten. Sie waren bereits seit über einer Woche in Portree und überschlugen sich fast, Ella alle möglichen Sehenswürdigkeiten der Insel anzupreisen, die sie schon entdeckt hatten.

Als Mrs MacLeod die Teller mit gebratenen Eiern, Speck, Tomaten und Pilzen an den Tisch brachte, waren Amy und Jim gerade dabei, Ella vom blaugrünen Wasser der Fairy Pools am Fuß der Black-Cuillin-Berge vorzuschwärmen.

»Du solltest aber morgens möglichst früh dort hinfahren«, empfahl Amy, »bevor die Touristenbusse eintrudeln.«

»Och, jetzt geht es doch noch.« Mrs MacLeod stellte ihnen einen Korb mit frischem Toast hin. »Sie müssten mal im August herkommen – oder vielleicht auch besser nicht.« Sie lächelte und wünschte ihren Gästen einen guten Appetit, dann verließ sie den Frühstücksraum.

»Und wie sind deine Pläne für den Tag? Du siehst nicht unbedingt so aus, als ob du heute noch einen Berg bezwingen wolltest«, bemerkte Amy nach dem Essen mit einem Blick auf Ellas doch recht leichte Sneakers.

»Oh nein, ich bin nur hier, um die Tante eines Freundes zu besuchen.«

»Ach so.« Amy wandte sich wieder ihrem Mann zu, der neben sich auf dem Tisch eine Wanderkarte ausgebreitet hatte.

Er deutete auf eine Stelle und sah sie fragend an. Sie nickte, und er faltete die Karte wieder zusammen. Die beiden standen auf, wünschten Ella einen schönen Tag und machten sich auf ihren Weg.

Ella schmierte sich noch eine halbe Scheibe Toast mit Zitronenmarmelade und trank in Ruhe ihren Tee aus. Dann brach auch sie auf.

Es schien ein wenig diesig, aber die Luft war frisch und schmeckte auf Ellas Lippen leicht salzig. Sie hatte noch eine gute Stunde Zeit, also spazierte sie zunächst zum Hafen, beobachtete ein Fischerboot, das anlegte, las das Plakat für eine Bootsfahrt, bei der man Wale, Delfine und Seeadler beobachten konnte, entdeckte zwei Meeresfrüchte-Restaurants und einen »Fish & Chips«-Shop und erfreute sich an den Möwen und anderen Seevögeln, die jetzt bei Niedrigwasser zwischen dem Tang in Ufernähe nach Nahrung suchten.

War das dort mit dem gebogenen Schnabel vielleicht ein Brachvogel? Schade, dass sie sich so schlecht auskannte.

Sie setzte sich eine Weile auf eine Bank und sah hinaus aufs Wasser der kleinen Bucht, in der überraschend viele Segelboote ankerten. Es fiel ihr hier erstaunlich leicht, ihre Gedanken im Jetzt zu lassen, statt über die Zukunft nachzugrübeln.

Als es ihr schließlich trotz des Wolltuchs zu kühl wurde, machte sie sich langsam in Richtung Martin Crescent auf. Diesen Straßennamen zu behalten, hatte ihr glücklicherweise keine Probleme bereitet. Scorrybreac House war da schon schwieriger. Überhaupt, all diese gälischen Namen, die man hier auf den zweisprachigen Schildern fand – wie sprach man diese Ansammlung von Buchstaben wohl aus, ohne sich die Zunge zu brechen? Port Righ ging ja noch – die gälische Form von Portree wurde wohl genauso ausgesprochen wie die englische. Aber An t-Eilean Sgitheanach, der gälische Name der Isle of Skye? Sie musste Mrs MacLeod fragen. Oder nein, das war doch ein wunderbares Thema, um mit Cannys Tante ins Gespräch zu kommen!

Überpünktlich, fünf Minuten vor zehn, stand Ella vor dem rosa gestrichenen Gebäude, das wie ein ganz gewöhnliches Wohnhaus aussah und kein bisschen, wie sie sich ein Altenheim vorgestellt hatte. Ein poliertes Messingschild zeigte den Namen Scorrybreac House. Als Ella den Klingelknopf darunter drückte, erklang im Haus ein Glockenspiel mit einer Melodie, die ihr bekannt vorkam. Die Titelmelodie einer Fernsehserie? Die Tür öffnete sich, und eine sorgfältig frisierte Frau um die fünfzig in einem grauen Kostüm lächelte Ella an.

»Ah, guten Morgen! Sie sind sicher Ms Martin. Seit Tagen redet die gute Flora schon über Ihren Besuch. Ich bin Lydia Swanston, ich leite unsere Wohngemeinschaft hier.« Sie trat ein wenig zur Seite, um Ella ins Haus zu lassen, und schloss dann die Tür. »Folgen Sie mir! Flora ist im Gelben Salon.«

Aha, Wohngemeinschaft – Gelber Salon. Dies war wohl kein Altenheim wie andere.

Auf dem Weg zum Gelben Salon kamen ihnen zwei Frauen entgegen. Die Blonde war um die vierzig, trug einen Kittel und das Häubchen einer Krankenschwester, die andere, deutlich jünger, eine an den Knien leicht zerrissene schwarze Jeans und ein schwarzes Shirt. Passend dazu waren die Augen dick mit Kajal umrandet. Die Haare boten dagegen einen auffälligen Kontrast: Sie waren türkisblau gefärbt. Beide Frauen grüßten kurz und gingen dann die Treppe hinauf.

»Schwester Brenda und unsere Physiotherapeutin«, erklärte Mrs Swanston, bevor sie eine weiß gestrichene Flügeltür öffnete und für Ella aufhielt. Sie deutete in den Raum. »Und das ist Flora.«

Ella trat ein. In einem altmodischen weinroten Ohrensessel am linken Fenster saß eine weißhaarige alte Dame. Sie hielt ein Buch in der Hand, das sie sofort zuschlug, als sie Ella erblickte. Mrs Swanston schloss leise von außen die Tür und ließ die beiden alleine.

»Sie müssen Ms Martin sein. Kommen Sie doch zu mir, Mädchen, wir haben viel zu besprechen!« Flora streckte ungeduldig die rechte Hand nach Ella aus.

Ella ging zu ihr, um sie zu begrüßen. »Ja, ich bin Ella Martin. Was kann ich für Sie tun, Mrs Urquhart?«

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich!«, sagte die alte Dame mit gedämpfter Stimme. »Ich bin ja so froh, dass Sie endlich da sind, es ist schon wieder etwas passiert.«

Ella holte sich einen Stuhl vom großen Tisch in der Mitte des Zimmers an den Ohrensessel heran und nahm Platz. Trotz der weißen Löckchen, der zahlreichen Falten in ihrem Gesicht und der Gehschiene am rechten Bein wirkte Cannys Tante keineswegs hilfsbedürftig. Tatsächlich schien sie vor Energie zu strotzen. Sie sah sich um, als wollte sie sich versichern, dass niemand ihrem Gespräch zuhören konnte. Dann lehnte sie sich näher an Ella heran.

»Vorletzte Nacht ist Reginald gestorben«, wisperte sie. »Und ich habe den Verdacht, dass das nicht mit rechten Dingen zugegangen ist.«

Ellas Herz begann auf einmal schneller zu klopfen. »Wie meinen Sie das?«

»Nun, wie soll ich das wohl meinen? Ich glaube, jemand hat ihn ermordet!«

Kapitel 4

Das ist aber schön, dass Sie unsere liebe Flora besuchen.« Mrs Swanston reichte Ella eine Untertasse mit einer zarten Porzellantasse darauf, die neben einem Goldrand ein Muster aus roten Blütenranken aufwies.

»Danke.« Ella nahm ihren Tee entgegen und beobachtete die Leiterin von Scorrybreac House, die nach einem Schuss Milch auch zwei Stücke Zucker in ihre Tasse gab.

»Ja, ich weiß«, sagte Mrs Swanston und zog ein zerknirschtes Gesicht. »Ich bin eine ganz Süße.«

Ella lächelte.

»Nun, ich möchte Ihnen danken, dass Sie sich ein wenig um Flora kümmern. Wir haben uns in letzter Zeit wirklich Sorgen um sie gemacht. Und es hat eine ziemliche Unruhe in unsere Wohngemeinschaft gebracht, als sie anfing zu behaupten, dass man sie bestehlen würde.«

»Dann ist das nicht wahr? Also, ich meine, dass sie bestohlen wurde.«

»Das erscheint mir persönlich sehr unwahrscheinlich. Tatsächlich haben sich die meisten Gegenstände, die angeblich gestohlen wurden, inzwischen wieder angefunden.« Mrs Swanston lächelte. »Es sieht eher danach aus, dass Flora die Sachen einfach verlegt hatte. Sie ist schließlich fast achtzig, und in dem Alter vergessen die Leutchen manchmal das eine oder andere.«

Ella nickte zustimmend, obwohl sie mit ihrer Freundin Agatha, die nun auch auf die achtzig zuging, ganz andere Erfahrungen machte. Aber Menschen waren verschieden.

»Das habe ich ihrem Neffen, Mr Brown, ja auch schon am Telefon erklärt«, fuhr Mrs Swanston fort.

Sie hielt Ella ein Schälchen mit Gebäck hin. Schade, kein Shortbread, die Kekse sahen eher nach Ginger Nuts aus. Ingwer mochte Ella nicht, und so lehnte sie dankend ab.

»Mr Brown« – es war seltsam, Canny so zu nennen – »meinte, seine Tante sei vielleicht einsam, weil sie sich durch den Bänderriss ja nicht so gut bewegen kann.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Mrs Swanston sofort. »Wir bieten hier im Haus schließlich jede Menge Aktivitäten, und wenn Flora wirklich einmal in die Stadt gehen möchte, findet sich immer jemand, der sie begleitet – Finola oder Schwester Brenda zum Beispiel. Und es gibt da auch noch einen jungen Mann, der uns manchmal behilflich ist.«

»Das klingt ja wunderbar«, lobte Ella. »Was für ein schönes Zuhause Sie den alten Leuten geben! Es scheint alles so gut durchdacht und persönlich, gar nicht wie ein Altenheim.«

»Deshalb sprechen wir auch lieber von einer Wohngemeinschaft. Entstanden ist das Ganze, als meine Mutter nicht mehr alleine wohnen konnte. Sie wollte Portree nicht verlassen und kam auf die Idee, sich Mitbewohnerinnen zu suchen und zusammen mit ihnen in ein größeres Haus zu ziehen.«

»Und Sie haben dann die Organisation übernommen?«

»Ja, die Vorstellungen meiner Mutter fand ich unterstützenswert. Ich komme selbst aus dem Hotelfach, und da lag es nahe, hierher zurückzukehren und Scorrybreac House nach den Vorstellungen meiner Mutter und meinen zu formen.«

»Und wie viele Mitbewohner gibt es hier?«, erkundigte sich Ella.

»Wir haben acht Zimmer, im Augenblick sind aber nur sechs belegt. Eines ist ohnehin ein Gästezimmer für kurze Aufenthalte, und eines«, Mrs Swanston schluckte, »eines ist leider gerade frei geworden. Unser Freund Reginald ist von uns gegangen.« Sie bekreuzigte sich und machte ein so trauriges Gesicht, dass jedem sofort klar werden musste, dass Reginald nicht einfach ausgezogen war, sondern nicht mehr unter den Lebenden weilte.

Ella nickte. »Das hat Flora mir erzählt.«

»Sein Heimgang hat uns natürlich alle sehr mitgenommen. Umso glücklicher bin ich, dass Mr Brown Sie hierhergeschickt hat. Das wird Flora guttun. Wie lange werden Sie bleiben?«

»Ich bin mir nicht sicher. Wenn ich schon hier bin, möchte ich gerne auch noch etwas mehr von der Insel sehen.«

»Ja, ja, machen Sie das unbedingt!«

»Dann werde ich jetzt gehen. Ich komme gegen vier wieder, das habe ich Flora versprochen. Vielen Dank für den Tee!« Ella erhob sich.

Mrs Swanston stand ebenfalls auf. »Wenn Sie irgendwelche Fragen oder Probleme haben sollten, kommen Sie einfach zu mir!«

»Gerne. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben!«

Mrs Swanston lächelte und begleitete Ella zu Tür.

»Ist Ihre Mutter …?«, setzte Ella an, und Mrs Swanstons Lächeln verschwand.

»Sie hat uns im letzten Winter verlassen.« Wieder bekreuzigte sie sich.

»Oh, mein herzliches Beileid.«

»Irgendwann müssen wir alle Abschied nehmen.«

Ella drückte Mrs Swanston fest die Hand und trat danach auf den Flur. »Ich finde allein hinaus.«

Das schien Mrs Swanston zu schätzen, denn sie schloss leise die Tür zu ihrem Büro, ohne sich weiter um Ella zu kümmern. Die blieb ein Weilchen stehen und lauschte. Es war alles still im Haus. Wahrscheinlich war dies die ruhigste WG der Welt. Plötzlich ertönte ein helles Lachen, und das Öffnen einer Tür war zu hören. Das Lachen wurde lauter. Eine brummige Männerstimme schien etwas zu sagen, was Ella jedoch nicht verstehen konnte.

»Archie, Archie, wenn Sie so weitermachen, muss ich Sie am Ende doch heiraten!«, ertönte eine Frauenstimme.

Eine Tür wurde geschlossen, und die junge Frau mit den türkisblauen Haaren eilte die Treppe herunter. Sie nickte Ella zu und verschwand nach kurzem Klopfen in Mrs Swanstons Büro.

Kapitel 5

Ella atmete wieder tief durch, als sie aus dem Haus trat. Ja, die Luft hier war herrlich. Und sie machte Appetit. Obwohl das üppige Frühstück noch keine vier Stunden her war, fühlte sich ihr Magen ein wenig leer an. Hatte sie nicht an dem Platz, wo gestern ihr Bus angekommen war, eine Bäckerei gesehen? Sie machte sich auf den Weg.

Als sie den Somerled Square erreichte, entdeckte sie tatsächlich auf der gegenüberliegenden Seite das aus Steinen unterschiedlicher Größe gemauerte Haus, an das sie sich erinnert hatte: Mackenzie’s Bakery. Überhaupt schien dieser Platz das Zentrum von Portree zu sein. Hier stand die Kirche, es gab eine Bank, ein Hotel, Restaurants und – die Polizeiwache. Ella lächelte. Die würde sie wohl kaum brauchen, aber es war immer gut zu wissen, wo man notfalls Freunde und Helfer finden konnte.

Sie betrat die Bäckerei, wartete, bis das Paar vor ihr alle möglichen Pies ausgewählt hatte, und entschied sich, nicht nur ein Scone mit Sultaninen mitzunehmen, sondern gleich zwei, denn die sahen wirklich lecker aus. Die Holzbank mit drei großen geschnitzten Figuren – je eine in der Mitte und an den Enden – vor der Bäckerei wurde gerade frei. Ella setzte sich, holte eines der Scones aus der Tüte und biss hinein.

Von hier aus hatte sie einen guten Überblick über den Platz, auf dem nun ein Kleinbus hielt. Als sich die Türen öffneten, quoll eine lebhafte Menge asiatischer Touristen heraus. Einige von ihnen studierten Reiseführer oder Karten, die anderen hatten bereits ihre Kameras gezückt und fotografierten wild drauflos. Der Busfahrer war ebenfalls ausgestiegen, rief seinen Fahrgästen etwas zu und deutete auf seine Armbanduhr. Dann schloss er den Bus ab und marschierte davon. Langsam zerstreute sich auch die Gruppe der Touristen.

Ella sah in ihre Papiertüte. Hm, vielleicht sollte sie das zweite Scone auch gleich noch essen? Damit war dann das Mittagessen schon erledigt.

Es wurde ein wenig frischer, und sie zog ihr Tuch enger um den Hals. Kauend beobachtete sie einen jungen Mann, der aus einem gelb gestrichenen Haus trat. Trotz seiner dunklen Hautfarbe und seiner schwarzen Haare wirkte er nicht wie ein Tourist. Er blieb stehen und hob grüßend die Hand. Eine schwarz gekleidete junge Frau mit blauen Haaren eilte auf ihn zu. Das war doch die Krankengymnastin aus Scorrybreac House! Sie begrüßte den jungen Mann mit Küsschen links, Küsschen rechts. Dann drehten beide Ella den Rücken zu und gingen zusammen die Straße hinunter.

Ella sah ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Schließlich erhob sie sich und schlenderte auf das gelbe Haus zu, aus dem der junge Mann gekommen war, um die Aufschrift auf dem Schild über dem Eingang zu lesen. Ein Hostel – war er also doch ein Tourist? Nun, es konnte ihr egal sein.

Der Wind hatte weiter aufgefrischt, und sie beschloss, zurück in ihre Pension zu gehen und sich eine wärmere Jacke anzuziehen, bevor sie noch einmal spazieren ging. Doch nachdem sie ihr Zimmer betreten hatte, klappte sie unwillkürlich ihren Laptop auf und schaltete ihn ein. Während sie die Jacke wechselte, fuhr er hoch. Sie runzelte die Stirn. Die Macht der Gewohnheit war stark, eigentlich hatte sie jetzt nicht arbeiten wollen. Nun, sie konnte sich aber schon einmal ein paar Notizen machen und aufschreiben, was Flora ihr erzählt hatte.

Also zog sie ihre Jacke wieder aus, warf sie aufs Bett und setzte sich an den kleinen Schreibtisch. Sie starrte einen Moment auf den Bildschirm, der ein Foto von Canterbury Cathedral als Hintergrundbild zeigte. Obwohl sie sich keineswegs als gute Fotografin empfand, war es wirklich gelungen. Wie sonnig es an dem Tag gewesen war! Alex und sie hatten … Sie schob den Gedanken beiseite, öffnete schnell eine Datei und notierte:

Vor ca. sechs Wochen: Flora vermisst ihre Armbanduhr, ein Geschenk ihres verstorbenen Mannes. Die Uhr taucht ein paar Tage später in einer Sofaritze im Gelben Salon wieder auf, obwohl Flora behauptet, sie habe nie auf diesem Sofa gesessen, da »ihr Platz« einer der Sessel ist.

Etwa eine Woche später: Flora vermisst 200 £ in bar. Hatte sie in ihrer Wäscheschublade aufbewahrt. Geld findet sich nicht wieder an. Diebstahl oder doch ein Irrtum?

Ein paar Tage danach: Flora vermisst ein Paar Ohrringe mit echten Perlen. Macht einen ziemlichen Aufstand und verlangt die Polizei. Mrs Swanston wiegelt ab. Die Putzhilfe entdeckt die Ohrringe drei Tage später unter Floras Bett. Sie behauptet allerdings, sie wären vorher nicht dort gewesen, denn sonst hätte sie sie beim Saubermachen finden müssen. Ausrede? Schlecht geputzt?

Am selben Abend vermisst Peggy (Mitbewohnerin) ein goldenes Armband, das sie schon lange nicht mehr getragen hat. Flora und Peggy melden den Diebstahl Mrs Swanston. Bei nochmaligem Suchen stellt sich jedoch heraus, dass das Armband statt im Schmuckkasten ganz hinten in Peggys Nachttischschublade liegt.

Ella hielt inne. Wenn sie das alles so aufschrieb, gab es tatsächlich immer natürliche Erklärungen für die angeblichen Diebstähle. Dennoch war ihr Flora recht klar im Kopf erschienen, als sie ihr davon erzählt hatte. Sie fuhr fort: