image

Erich Jooß

JAKOB TRÄUMT

Geschichten zum Staunen
über Himmel und Erde

Mit Bildern von Eilika Mühlenberg

image

image

Ein camino-Buch aus der

© 2018 Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung und Satz: Finken & Bumiller, Stuttgart

Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín, Tschechische Republik

www.caminobuch.de

ISBN 978-3-96157-049-2

eISBN 978-3-96157-982-2

image

Inhalt

Badewanne, Flunder und Moritz

Das verlorene Schaf

Jakob der Träumer

Der Engel ohne Namen

Gregors Reise

Das Märchen von der Zwiebel

Die Insel der Seehunde

Paul ohne Papa

König Kaktus

Zwölf Hasen und ein kluger Fuchs

Das Sonnenmärchen

Wohin geht die Reise?

Das letzte Einhorn

Der kleine Junge unter dem großen Hut

Der sonderbare Wunsch des Elefanten

Gott kommt

Die Legende von den silbernen Fischen

Tiger-Lilly

Der rote Ball

Die Katzengeschichte

image

Badewanne, Flunder und Moritz

image

Der Himmel über dem Meer war tintenschwarz. Es schneite.

Nasse Flocken trieben gegen das Fenster. „In dieser Nacht möchte ich nicht draußen sein“, brummte Max und stopfte Tabak in seine Pfeife.

„Ich auch nicht“, sagte Moritz. Er war nicht einmal halb so groß wie Max. Außerdem sollte er schon lange im Bett sein. Aber Max nahm es nicht so genau und Moritz erinnerte ihn nicht daran.

In diesem Augenblick klingelte es. Max war noch immer mit seiner Pfeife beschäftigt. Deshalb musste Moritz nachsehen an der Haustür.

„Komm schnell, Opa“, rief er. „Da ist eine Flunder.“

Seufzend erhob sich Max aus dem Lehnstuhl. Warum erfand sein Enkel dauernd so verrückte Sachen?

Er schlurfte zur offenen Tür. Umständlich setzte er die Brille auf und blinzelte in die Dunkelheit. Er guckte genauer, guckte ein zweites Mal und noch einmal.

Tatsächlich, vor der Tür wartete eine Flunder und schnaufte. Das war eine sehr große Flunder. Etwas hilflos lag sie im Schnee. Plötzlich öffnete sie den Mund.

„Bei diesem Wetter weiß niemand, wo das Meer aufhört und wo das Land anfängt“, klagte die Flunder. „Jetzt bin ich da.“

„Ja, jetzt bist du da“, wiederholte Max und klopfte seine Pfeife gegen den Türrahmen. Das tat er immer, wenn er nachdachte. „Falls du bei uns übernachten willst“, seufzte er schließlich, „haben wir eine Badewanne für dich.“ „Aber die steht doch oben“, sagte Moritz. Das stimmte und die Treppe, die zum Badezimmer in das Obergeschoss führte, war bestimmt nicht für einen Fisch wie diese Flunder gemacht worden.

Eine Weile überlegten die beiden, während die Flunder immer weißer wurde im Schnee. „Glaubt mir, ich friere. Tragt mich einfach hoch“, flüsterte sie.

Max steckte seine Pfeife in die Jackentasche, dann sah er den Enkel an. „Du bist flinker als ich“, stellte er fest.

„Also nimm die Flunder und trag sie hinauf.“ Er räusperte sich. „Gib Acht, dass sie dir nicht durch die Hände flutscht. Bestimmt ist sie furchtbar glibberig …“

Das war sie auch. Kurz entschlossen drückte Moritz die Flunder an seine Brust, rannte die Treppe hoch und stieß die Tür zum Badezimmer auf. Über der Wanne ließ er sie los.

„Du hast das Wasser vergessen“, schrie die Flunder empört. Erschrocken entschuldigte sich Moritz und drehte den Hahn auf, bis es rauschte. Da freute sich die Flunder, denn sie war nicht nachtragend. „Ich höre schon das Meer“, flüsterte sie.

Auch Max freute sich ein bisschen mit ihr. Er stand in der offenen Tür. Wie immer, wenn er die Treppe hinaufgestiegen war, atmete er schwer. „Heute Nacht kannst du hier bleiben“, sagte er zu der Flunder.

„Und morgen? Komme ich dann in die Pfanne?“, fragte sie. Es klang ganz so, als würde sie die Menschen kennen …

„Bei uns kommt niemand in die Pfanne“, beruhigte sie Max, während er Haferflocken auf das Wasser streute. „Das essen alle Fische gern“, behauptete er. Bloß die Flunder fraß nichts davon. Träge schwamm sie im Kreis, bis Max das Licht ausknipste. „Es ist spät geworden“, gähnte er und zog Moritz hinter sich her.

Da wurde die Flunder auf einmal lebhaft. Sie wühlte das Wasser auf, sprang beinahe aus der Wanne. „Lasst mich nicht allein“, rief sie ängstlich.

„Ich habe keine Lust, im Badezimmer zu übernachten“, sagte Max. „Dafür bin ich zu alt.“ Aber wenigstens holte er Decken und Kissen für seinen Enkel, der bei der Flunder bleiben wollte. Moritz machte es sich bequem neben der Wanne. Er schlief schon fast, als ihn die Flunder leise aufforderte: „Erzähl mir bitte eine Gutenachtgeschichte.“ Gab es eigentlich Gutenachtgeschichten für Fische?

Nein, Moritz kannte keine! Darum fing er einfach an: „Es war einmal eine Flunder …“

„Was heißt hier: Es war einmal?“, wurde er von der Flunder unterbrochen. „Siehst du nicht, dass ich noch lebe?“ „Das ist doch nicht deine Geschichte, sondern eine andere. Eine ganz andere“, antwortete Moritz. Er redete immer langsamer. Auch die Flunder wurde immer müder. Warum erzählte Moritz nicht weiter? „Das Meer“, dachte sie, „passt nicht in eine Badewanne.“ Nach einer Weile dachte sie nichts mehr.

Beide, Flunder und Moritz, wachten erst wieder auf, als es am Morgen klopfte. Max kam herein. Er trug einen Eimer, der mit Wasser gefüllt war. „Wir müssen die Flunder zurückbringen“, murmelte er verlegen und bückte sich nach ihr.

Wahrscheinlich träumte sie noch ein wenig. Oder sie merkte gerade, dass sie Hunger hatte. Jedenfalls ließ sie sich mühelos fangen. Moritz fuhr sich durch seine verstrubbelten Haare. „Du hast Recht“, sagte er. „Es hat keinen Zweck. Sie braucht das Meer.“

Verschlafen zog er sich an und schlüpfte in seine Gummistiefel. Später schleppten sie den Eimer durch den Schnee hinaus auf den Deich.

Da lag das Meer. Es war grau und still. Nicht einmal die Möwen schrien. Hüpfend wichen sie vor den Menschen zurück. Als Max den Eimer über dem Wasser ausleerte, glitschte die Flunder davon. Ohne ein Wort verschwand sie in den Wellen.

„So sind die Fische“, sagte Max. Er schüttelte den Kopf. „Nicht einmal einen Dank zum Abschied! Und keiner kennt sich aus bei ihnen.“

Moritz nickte: „Ja, so sind sie.“ Erst jetzt fiel ihm ein, dass die Flunder an der Haustür geklingelt hatte. „Wie hat sie das nur gemacht?“, fragte er sich und staunte plötzlich.

Das verlorene Schaf

image

Ruben, der Hirte, schloss die Augen.

Obwohl es schon dem Abend zuging, blendete ihn die Sonne noch immer, so kräftig schien sie. Ihre Strahlen tauchten das karge Land, auf dem noch die Tageshitze lastete, in einen rötlichen Schimmer. Benommen hielt sich Ruben an seinem Stab fest.

Er hatte diesen Stab selbst geschnitzt. Das war vor vielen Jahren gewesen, bevor er zum ersten Mal mit den Schafen hinauszog.

Amos, sein Vater, hatte ihm alles beigebracht, was ein Hirte wissen muss. Er lehrte Ruben, die giftigen Kräuter von den anderen zu unterscheiden, die den Schmerz linderten und kranke Tiere wieder gesund machten.

Bald zeigte sich Ruben auch nicht mehr überrascht, wenn die Herde unruhig wurde oder die Hunde auf einmal zu knurren begannen. Dann nahm er seine Steinschleuder aus dem Gürtel. Wachsam behielt er die Schafe im Auge. Vielleicht waren Wölfe in der Nähe, die auf Beute hofften.

Ruben wollte ein guter Hirte werden. Er lernte die Namen der Sterne und er hörte aufmerksam zu, wenn sein Vater von den Farben des Himmels sprach oder von den seltsamen Formen der Wolken. Kündigte sich hoch über ihnen ein Unwetter an, das mit plötzlicher Gewalt lostobte, oder blieb es trocken und heiß? Ruben prägte sich auch die Wasserstellen ein, die vom Wind verkrüppelten Bäume, die ferne Schattenlinie der Berge. So konnte er stets sagen, wo er sich befand, und lief nicht mit seiner Herde im Kreis.

Am wichtigsten waren die Schafe. Sie hörten auf die Stimme von Ruben und folgten seinen Anweisungen, denn sie hatten Vertrauen zu ihm. Als Amos das merkte, ließ er den Sohn zum ersten Mal allein fortziehen mit der Herde.

image

Seitdem brach Ruben in jedem Frühjahr auf und führte die Schafe, die seinem Vater gehörten, durch das karge Land. Erst im Herbst, wenn die Tage kürzer wurden, kehrte er wieder heim. Sorgsam wachte er über die Herde und schützte sie vor Gefahren. Trotzdem geschah es immer wieder, dass ein Schaf in eine Felsspalte stürzte oder von Wölfen gerissen wurde. Dann war Ruben traurig und machte sich Vorwürfe.

Doch in diesem Jahr hatte er noch kein Tier verloren. Ruben streifte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Er blickte zum Himmel, denn er wollte vor dem Einbruch der Dunkelheit den Pferch erreichen. Auch die Schafe schienen das zu spüren. Sie drängten an ihm vorbei und stießen sich und setzten zu ungeschickten Sprüngen an. Ihr aufgeregtes Blöken wurde vom Bellen der Hunde begleitet.

Der Schafpferch lag bereits im Schatten. Eigentlich war das nur ein Steinwall, im Kreis aufgeschichtet und mit einem schmalen Einlass für die Tiere. Ruben stellte sich neben diesen Einlass. Er zählte die Tiere, die sich durch die Öffnung zwängten. Gleichzeitig gab er Acht, ob nicht eines von ihnen hinkte. Immer wieder kam es vor, dass ein Schaf in Dornen trat oder sich den Fuß an einem scharfkantigen Stein verletzte.

Gestern und an den Tagen davor waren es hundert Schafe gewesen. Ruben erschrak. Gerade rief er „neunundneunzig“ und das letzte Schaf zwängte sich durch den Einlass. Hatte er sich getäuscht? Er pfiff den Hunden. Sie mussten die Herde wieder ins Freie treiben, während er ein zweites Mal zählte. Seine Blicke wanderten aufmerksam über die Rücken der Tiere. Aber es blieben neunundneunzig Schafe.

Eines fehlte.

Ruben, der Hirte, stützte sich auf seinen Stab. Er hielt die Augen weit offen und dachte nach. Irgendwann an diesem Tag hatte er nicht aufgepasst, vielleicht in der Mittagsstunde, als ihn die Hitze schläfrig und verdrossen machte. Mit einer hastigen Bewegung fuhr er hoch.

Plötzlich wusste Ruben, welches Tier nicht mehr bei ihnen war: ein junges, noch verspieltes Schaf, das einen schwarzen Flecken auf der Stirn trug.

Einen Augenblick zögerte er. War es nicht aussichtslos, das Schaf in der Dunkelheit zu suchen? Ruben schüttelte den Kopf. Nein, er wollte ein guter Hirte sein! Er fühlte sich verantwortlich für jedes einzelne Schaf, das ihm sein Vater anvertraut hatte.

Mit einem Blick stellte er fest, dass sich die Herde, die in den Pferch zurückgeströmt war, ruhig verhielt. Eilends sammelte er trockenes Holz und schichtete es am Eingang des Steinwalls auf. Dann zündete er den Stoß an. Knisternde Flammen schlugen in die Höhe. Das Feuer würde eine Zeit lang brennen und die wilden Tiere abhalten. So waren die Schafe geschützt. Ruben vergewisserte sich, ob seine Steinschleuder noch im Gürtel steckte.

Nachdem er den Hunden ein paar Anweisungen zugerufen hatte, brach er auf. Schwarz und still lag das Land vor ihm.

Aber die Stille täuschte. Ruben hörte ein Rascheln im Gras, ein Knistern und Trippeln wie von vielen kleinen Füßen. Manchmal funkelte ihn ein Augenpaar an, das gleich wieder verschwand, und manchmal hörte er ein Fauchen und Stampfen irgendwo dort draußen.

Ruben wusste, dass die Nacht voller Leben war. Trotzdem erschrak er, als ein Vogel mit weiten Schwingen an ihm vorbeistrich. Er fröstelte. Ein kalter Wind drang durch seine Felljacke.