cover.jpg

img1.jpg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

img2.jpg

 

 

Nr. 10

SEIN
ERSTER MORD

 

Bewährungsprobe für Sir Henry

 

von

JOHN BALL

IMPRESSUM

 

DR. MORTON

erscheint im

ERBER+LUTHER VERLAG, Schweiz.

Konvertierung: DigitalART, Bergheim.

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, auch auszugsweise,

gewerbsmäßige Verbreitung in Lesezirkeln,

Verleih, Vervielfältigung/Reproduktion sowie

Speichern auf digitalen Medien

zum Zwecke der Veräußerung

sind nicht gestattet.

DR. MORTON ist auch als

Printausgabe erhältlich!

 

Bisher erschienen:

 

Band 01: Blaues Blut

Band 02: Das ist Ihr Sarg, Sir!

Band 03: Bad in HCL

Band 04: Biedermann und Rauschgifthändler

Band 05: Mr. Gregory kann nicht sterben

Band 06: Dr. Morton empfiehlt Selbstmord

Band 07: Morton’s totale Operation

Band 08: Sir Henry, der Dritte im Bund

Band 09: Ein Gangster killt den andern

 

 

In Vorbereitung:

 

Band 11: Gehirnoperation

Band 12: Ein Selbstmord kommt selten allein

Dr. Glenn Morton, Mitglied des Königlichen Kollegiums der Chirurgen, hatte die Visite in seiner Privatklinik in Brighton beendet. Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und ließ wissen, dass er nicht gestört zu werden wünsche.

Solche Wünsche waren absolute Befehle. Jeder in der Klinik wusste das. Auch telefonisch war Dr. Morton nicht zu erreichen, bis er sich wieder bei der hübschen Blonden im Sekretariat meldete.

Das hatte seinen Grund. Denn Dr. Morton blieb nicht lange in seinem Arbeitszimmer. Er verließ es schon nach kurzer Zeit und begab sich in die ›Unterwelt‹, in die Tiefkelleranlage, von der niemand außer ihm und William Grimsby, seinem engsten Mitarbeiter, sowie einem Freund wusste, sah man von den Opfern ab, für die die Räume dort unten zur Endstation ihres Lebens wurden.

Grimsby erwartete ihn schon. Er deutete den fragenden Blick seines Chefs richtig.

»Nichts, Sir. Keinerlei Erinnerung.«

»Heute ist der siebente Tag, nicht wahr?«

»Ja, Sir. Sie scheinen vollen Erfolg zu haben.«

»Es war nicht anders zu erwarten.«

Dr. Morton öffnete eine der Türen auf der linken Seite. Eine von etwa einem Dutzend Türen, die die Eintönigkeit des langen, breiten, gekachelten, steril und ungeheuer sauber wirkenden Ganges unterbrachen.

Die Tür führte zum Zimmer von Mrs. Clandon. Ein unglücklicher Zufall hatte die Ärmste hierhergebracht. Sie war schon so lange hier unten, dass sie fast zum Inventar zu gehören schien …

Als Dr. Morton das Zimmer betrat, stand sie auf und sah ihn interessiert an.

»Wie geht es Ihnen, Madam?«

»Danke, ich fühle mich wohl«, sagte sie ein wenig geziert. Sie sprach mit der zurückhaltenden Höflichkeit, die man einem völlig Fremden entgegenbringt. Nichts deutete darauf hin, dass sie Dr. Morton seit geraumer Zeit kannte. Und sie erinnerte sich offenbar auch nicht daran, dass sie ihn noch am Vortag gesehen hatte.

Was hatte Grimsby gesagt? ›Sie scheinen vollen Erfolg zu haben‹. Dr. Morton lächelte. Auch Grimsby, obwohl in alle Experimente eingeweiht und medizinisch ein wenig vorgebildet, konnte nicht ermessen, wie groß der Erfolg war. Dr. Morton hatte beschlossen, diesen Erfolg zu demonstrieren, indem er Mrs. Clandon freiließ.

»Nicht das geringste Risiko ist dabei«, murmelte er, während er seine Patientin untersuchte.

Grimsby stand in der Nähe der Tür und sah zu. Er sah seinen Chef fragend an, als der die Untersuchung beendet hatte.

Dr. Morton nickte. Grimsby zuckte die Schultern. Sie verständigten sich oft durch knappe Gesten, und selten kam es dabei zu Missverständnissen.

»Ich halte es trotz allem für ein Risiko, Sir«, sagte Grimsby entschieden und zeigte ein überaus ernstes Gesicht. »Besteht nicht die theoretische Möglichkeit, dass sie sich trotz allem irgendwann an irgendeine Einzelheit erinnert?«

Dr. Morton schüttelte stumm den Kopf.

»Dass ihr ein Name einfällt?«, bohrte Grimsby weiter. »Sie verstehen, was ich meine, Sir? So etwas geschieht doch jedem von uns hin und wieder. Plötzlich hakt sich ein Name im Hirn fest, man weiß nichts damit anzufangen, und gerade deshalb wendet man den Namen hin und her und sucht ihn irgendwo einzuordnen, unterzubringen.«

»Es würde ihr nicht gelingen, Grimsby.«

»Aber sie könnte den Namen nennen. Und ein anderer könnte seine Schlüsse ziehen, zwei und zwei zusammenzählen …«

Wieder zuckte Dr. Morton die Schultern.

»Mrs. Clandon ist einmal meine Patientin in der Klinik in Brighton gewesen. Sie ist unter nie geklärten Umständen verschwunden, aber nicht aus der Klinik, sondern unterwegs zu irgendeinem Ziel, das niemand kennt.« Er lachte. »Glücklicherweise gibt es dafür ja Zeugen, Grimsby.«

»Sicher, Sir.«

»Sollte Mrs. Clandon also tatsächlich irgendwann meinen Namen nennen, wird das niemanden wundern. Aber ich halte diese Möglichkeit für äußerst gering.«

Sie hatten Mrs. Clandons Zimmer verlassen. Dr. Glenn Morton ging zu dem Labor hinüber, das unmittelbar neben dem Operationsraum lag. Die Räume waren nicht groß, jedoch perfekt und nach dem letzten Stand von Technik und Wissenschaft eingerichtet. Grimsby assistierte seinem Chef stumm bei verschiedenen Untersuchungen. Sie waren ein eingespieltes Team. Bei solcher Arbeit bedurfte es selten gesprochener Anweisungen.

Grimsby brach das Schweigen schließlich auch aus einem anderen Grund. Das Problem Mrs. Clandon beschäftigte ihn immer noch.

»Ich stelle mir das so vor, Sir«, begann er. »Wir setzen die Clandon irgendwo aus, und als sogenannte hilflose Person wird sie über kurz oder lang Kontakt mit unserer tüchtigen Polizei bekommen.«

»Zweifellos«, stimmte Dr. Morton zu.

»Da man sie nirgends einordnen kann, wird man die Geschichte an Scotland Yard weiterreichen. Und dort beginnt dann die ganze Maschinerie zu arbeiten. Ich nehme nicht an, dass es Fingerabdrücke von Mrs. Clandon gibt, aber der Yard hat ja auch andere Möglichkeiten, einen Menschen zu identifizieren.«

»Oh ja, die hat er.«

»Sie hat sich zwar sehr verändert, die gute Clandon, aber einer der Burschen, die da im Hochhaus an der Victoria Street sitzen und nicht genug zu tun haben, wird seine kleinen grauen Zellen so lange strapazieren, bis er auf den Namen Clandon stößt.«

Dr. Morton lachte.

»Ihre Schilderung ist sehr plastisch, Grimsby. Es macht Spaß, Ihnen zuzuhören.«

»Danke, Sir. Man wird also mit der Möglichkeit spielen, dass es sich bei der Unbekannten um die seinerzeit verschwundene Mrs. Clandon handelt – und schon sind Sie im Spiel.«

»Ja, man wird mich bitten, mir die Clandon anzuschauen. Sie hat sich, wie eben erwähnt, so sehr verändert, dass ich bei flüchtigem Hinschauen behaupten könnte, sie nicht zu kennen. Aber als ihr früherer Arzt erfordert es die Sorgfaltspflicht, dass ich mir Mrs. Clandon von Kopf bis Fuß sehr genau betrachte. Und dann bleibt mir nichts anderes übrig, als sie zu identifizieren.«

»Na bitte!«, sagte Grimsby seufzend.

Dr. Morton lachte.

»Warum auch nicht, Grimsby? Warum soll ich sie nicht identifizieren?«

Sie hatten so oft darüber gesprochen, dass Grimsby darauf verzichtete, seine Argumente noch einmal vorzubringen. Wenn Dr. Morton wirklich glaubte, kein Risiko einzugehen …

»Da ist die Narbe, Sir«, sagte er nur. »Die von dem Eingriff an ihrem Gehirn. Man wird Mrs. Clandon von allen möglichen Kapazitäten untersuchen lassen. Sie werden sich zunächst sehr über die eigenartige Narbe wundern, aber schließlich werden sie darauf kommen, dass hier jemand den ungeheuerlichen Eingriff gewagt hat. Dann sind die Puppen am Tanzen, Sir, wenn ich mich so ausdrücken darf!«

Dr. Morton lachte. Grimsby entzückte ihn. Er amüsierte sich königlich.

»Die Zeitungen werden sich darauf stürzen. Nicht nur hier auf der Insel, sondern weltweit.«

»Das steht zu vermuten, Grimsby. Meine Herren Kollegen werden aus ihrer Empörung kein Hehl machen – darüber, dass hier etwas am Menschen erprobt wurde, wofür man sich sonst mit dem Tierversuch begnügen musste. Sie werden ihr ganzes Ethos mächtig strapazieren – und insgeheim bedauern, dass sie nicht selbst Gelegenheit haben, auf solche Art zu experimentieren.«

Grimsby schwieg. Er sah seinen Chef prüfend und möglichst unauffällig von der Seite an. Dabei überlegte er, ob etwa Eitelkeit mit im Spiel war, wenn Dr. Morton seine Patientin aussetzte und so der ganzen Welt – und vor allem der Fachwelt – demonstrierte, was er getan hatte.

Er schüttelte den Kopf. Dr. Morton, der ihn genau beobachtet hatte, dem nichts entgangen war, lachte und sagte:

»Nein, Grimsby, so ist es tatsächlich nicht. Eitelkeit ist nicht im Spiel. Höchstens eine gewisse Neugier. Ich bin gespannt, wie einzelne meiner Kollegen reagieren.«

»Können Sie meine Gedanken lesen, Sir?«, fragte Grimsby. Es gelang Dr. Morton immer noch, ihn zu verblüffen, obwohl er ihn besser kannte als Irgendein anderer Mensch.

»In diesem Fall war es nicht schwer«, sagte Dr. Morton und wandte sich wieder seinem Versuch zu.

»Nur noch eins, Sir«, sagte Grimsby nach zehn Minuten. »Sie stimmen doch mit mir überein, dass man Mrs. Clandon sozusagen auseinandernehmen wird?«

»Ja.«

»Und Sie sagen selbst, dass die medikamentöse Behandlung Spuren hinterlässt, die sich nie ganz verlieren.«

»Richtig.«

»Spuren, die also auch bei Maiden zu finden sind, dem jungen Mann vom Yard, den wir seiner Behörde zurückgegeben haben – was ein ganz anderer Fall ist, meiner Meinung nach.«

»Ja, Grimsby, Fachleute werden feststellen können, dass es in der Behandlung von Mrs. Clandon und diesem Maiden Übereinstimmungen gegeben haben muss.«

»Hm. Finden Sie nicht, Sir, dass wir dem Yard da einige Spuren legen, die ganz schön deutlich sind und uns eines Tages in Schwierigkeiten bringen können?«

Dr. Morton schwieg eine ganze Weile.

»Sie mögen recht haben, Grimsby«, sagte er dann. »Aber ich bin dafür, dass wir es riskieren. Falls Sie dagegen stimmen …«

»Ja, Sir?«

Dr. Morton sah ihn an. Sein Gesicht war unbewegt. Es verriet nichts von seinen Überlegungen.

»Dann steht es eins zu eins. Und damit ist die Sache vom Tisch, Grimsby.«

Sie arbeiteten weiter. Grimsbys Tätigkeit war fast rein manueller Art. Er konnte seinen Gedanken gefahrlos nachhängen. Zum wievielten Mal wiederholte er sich jetzt alle Argumente und Einwände? Jedenfalls wurde die Entscheidung um nichts leichter.

Als sie das Labor verließen, riss Grimsby sich zusammen und sagte rasch, als fürchte er, im letzten Moment noch anderer Meinung zu werden:

»Ich stimme Ihnen zu, Sir. Ich bin dafür, dass die Sache mit Mrs. Clandon so abläuft, wie Sie’s vorgesehen haben.«

 

*

 

Dr. Morton hatte Besuch. Es war ein Sonntagvormittag, den er in Lannix Manor, seinem Brightoner Landhaus, verbrachte, und er hatte sich gerade zu einem einsamen Spaziergang durch den Park und am Strand entschlossen, als der Besucher gemeldet wurde.

»Der Earl of Saffron, Sir«, sagte Samson, der Butler.

»Henry!«, rief Morton erfreut und ging seinem Gast entgegen. »Ich vermutete Sie noch auf dem Kontinent!«

Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.

»Gestern war ich noch drüben, Glenn. Aber als ich alles zusammen hatte, musste ich mich einfach in die nächste Fähre setzen und herkommen. Ich bin gierig darauf, alles mit Ihnen zu besprechen.«

Dr. Morton wusste nicht, um was es sich handelte. Er goss Sherry ein und reichte dem Freund eins der Gläser. »Setzen wir uns und trinken auf das Wiedersehen.«

Vor geraumer Zeit hatte er dem Earl of Saffron nach einem Unfall durch eine genial improvisierte Operation das Leben gerettet. Eine ganze Weile später waren sie sich wieder begegnet. Und inzwischen hatte eine Reihe gemeinsamer Erlebnisse sie zu Freunden gemacht. Nach William Grimsby war Sir Henry der Mann, der am meisten über Dr. Glenn Morton und seine diversen Tätigkeiten wusste.

»Trinken wir den Sherry und gehen ein Stück über Land«, schlug Henry vor. »Ich kann jetzt nicht still hier sitzen. Dazu bin ich viel zu aufgeregt. Ich muss mir Bewegung verschaffen.«

Dr. Morton nickte zustimmend. Er trank sein Glas aus. Bevor sie Lannix Manor verließen, gab er Samson noch einige Anweisungen und hinterließ eine Nachricht für Grimsby.

»Sie waren also in Frankreich«, sagte er, nachdem sie die ersten Schritte in den großzügigen Park getan hatten.

Sir Henry hatte nur auf das Stichwort gewartet.

»Ich war in Frankreich, um mich zu amüsieren, wie Sie wissen.« Er lachte ein wenig unsicher. »Ich bin eben ein oberflächlicher Mensch und brauche hin und wieder seichte Unterhaltung, um das Leben erträglich zu finden.«

»Wer braucht das nicht?«, fragte Morton ruhig.

»Während der ersten 14 Tage ist’s mir auch gelungen, genauso zu leben, wie ich mir’s vorgestellt hatte, Glenn. Bis ich über die Zeitungsberichte stolperte, die sich mit Maurice Vaultier beschäftigten.«

»Maurice Vaultier«, wiederholte Glenn Morton. »Ist das der Polizistenmörder, den man zum Tod verurteilt hat?«

»Genau, Glenn!«

»Was interessiert Sie an diesem Menschen?«

»Er fasziniert mich! Als ich sein Schicksal zunächst aus Zeitungsberichten kennenlernte, war mein erster Gedanke: Das wäre ein Mitarbeiter für Glenn Morton! Und je mehr ich – aus erster Hand – über ihn erfuhr, desto überzeugter wurde ich, dass Vaultier genau der Mitarbeiter ist, der in Ihr Team passt, wenn ich mir solche vertrauliche Bemerkungen erlauben darf, Glenn.«

Er sah den Freund prüfend von der Seite an. Dr. Morton lächelte.

»Warum auch nicht?«, fragte er. »Sie sind ja in fast alles eingeweiht, Henry.«

Der Earl of Saffron atmete auf.

»Ich brauche mindestens eine Stunde, um Ihnen alles über Vaultier zu berichten, Glenn. Ich bin überzeugt, am Ende der Stunde werden Sie mir zustimmen.«

»Ich höre.« Dr. Morton hatte eingesehen, dass sein Freund die Vaultier-Story einfach loswerden musste. Er betrachtete es als Freundschaftsdienst, ihm zu lauschen, auch wenn er nicht an die von Sir Henry angedeutete Möglichkeit glaubte.

Der Spaziergang führte die beiden Männer quer durch den Park von Lannix Manor und durch eine kleine Pforte, die Morton sorgfältig hinter sich versperrte, zum Strand. Sie wählten dort einen Weg, der unter den Klippen entlang führte und nur mäßig mit anderen Spaziergängern besetzt war, so dass Sir Henrys Monolog nicht gestört wurde.

Der Earl of Saffron brauchte nicht eine Stunde, wie angekündigt, er brauchte mehr als zwei.

»Ich bin beeindruckt«, gestand Dr. Glenn Morton, als Sir Henry geendet hatte. »Die Angelegenheit hat nur einen Schönheitsfehler, Henry. Dieser Maurice Vaultier sitzt in der Todeszelle. Und das Zuchthaus von Bordeaux ist keine Zigarrenkiste, die man nach Belieben öffnet.«

Den Einwand hatte Sir Henry erwartet und seine Antwort längst formuliert:

»Ich habe eine Idee. Sie besitzen den Genius, einen perfekten Plan daraus zu machen. Und Mr. Grimsby verfügt über das Geschick, ihn auszuführen, wobei ich ihn gern unterstützen will.«