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2. erweiterte und aktualisierte Auflage April 2018

©opyright 2015 by SALAX und Arne Hoffmann

Cover By Nicole Laka

eBook-Gestaltung by Nicole Laka

eISBN: 978-3-944154-58-9

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SALAX

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VORWORT

Things fall apart: the centre cannot hold;

Mere anarchy is loosed upon the world,

The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere

The ceremony of innocence is drowned

«THE SECOND COMING», W. B. YEATS, 1919

Picasso wird von dem Kommandanten der nationalsozialistischen Besatzungstruppen
in Paris zu sich gerufen. Dieser zeigt dem Künstler eine Reproduktion seines berühmten Gemäldes der Stadt Guernica, nachdem sie im spanischen Bürgerkrieg von deutschen Bombern in Schutt und Asche gelegt wurde. «Haben Sie das gemacht?», fragt der Kommandant in einem bedrohlichen Tonfall. «Nein», antwortet Picasso. «Das waren Sie.»

HISTORISCHE ANEKDOTE

«Es ist immer eine anfänglich sozial keineswegs hochgeachtete Gruppe, die das Tabu verletzt, den tabuisierten Raum so weit entdämonisiert und sicher macht, dass auch die Mehrheit ihn zu betreten wagt.»

ALEXANDER MITSCHERLICH

«Man muss immer die richtige Gruppe hassen, um im Trend zu bleiben.»

ROBERT ANTON WILSON

Diese vier Zitate zeigen sehr gut die wesentlichen Punkte, um die es geht, wenn von Tabubrüchen die Rede ist. Am Anfang steht oft die Klage, heutzutage sei offenbar alles erlaubt, und das würde ganz bestimmt zum Untergang aller gesellschaftlichen Werte führen. Diese Befürchtung allerdings hört man mindestens seit der griechischen Antike. Mozarts Opern waren bei der Uraufführung Skandale, die Bilder Caspar David Friedrichs grenzten an Gotteslästerung, den Ma1er William Turner hielt man geradezu für irre. Aber andere Künstler und Denker zitieren das schockierende Werk in ihren eigenen, imitieren es, der Effekt lässt nach, verursacht schließlich nurmehr ein Gähnen. Der Impressionismus sorgte in seiner Zeit für Aufruhr, heute ist er ein Tapetenmuster.

Ähnlich ist es im Bereich der Wissenschaft. Denken wir etwa an Galileo Galilei. Er entwickelte ein astronomisches Fernrohr, betrachtete damit den Sternenhimmel und stellte so fest, dass die Theorie von Kopernikus richtig war: Die Erde dreht sich um die Sonne und nicht umgekehrt, wie man die ganze Zeit geglaubt hatte. Als Galilei seine gesammelten Fakten in einem Buch veröffentlichte («The Starry Messenger»), wurde er der Ketzerei beschuldigt. Daraufhin bat er eine Gruppe Jesuitenpriester zusammen und forderte sie auf, selbst durch sein Teleskop zu schauen, um sich ein Bild zu machen. Sie alle lehnten ab, bis auf einen, und auch der konnte nicht glauben, was er da sah. Er befand, es läge nur am Fernrohr, ohne das Gerät wäre alles in Ordnung. Für die anderen Priester aber war schon der Blick durch dieses Fernglas ein unumstößliches Tabu.

In der Geschichte der Menschheit verschieben mutige Pioniere die Grenze weiter und weiter nach vorne, und was früher das Niemandsland außerhalb jeder Zivilisation war, ist mittlerweile ein Teil der Innenstadt.

Es gibt aber auch gegenläufige Bewegungen und neue Tabus entstehen, wo früher keine waren. Beispielsweise wurde zu dem Zeitpunkt, als die Neuauflage dieses Lexikons vorbereitet wird (das Original erschien 2003), Stevie Schmiedel von der feministischen Gruppe «Pinkstinks» durch die ebenfalls feministische Bundesfrauenministerin Schwesig (SPD) mit der Kontrolle des Deutschen Werberats beauftragt. Pinkstinks wiederum fordert, «sexistische» Werbung zu verbieten, wobei Reklame unter anderem als «sexistisch» gelten soll, «wenn sie Menschen aufgrund ihres Geschlechts Eigenschaften, Fähigkeiten und soziale Rollen in Familie und Beruf zuordnet». Werbung, die eine Hausfrau zeigt, die Wäsche in eine Waschmaschine legt, wäre demnach in der Reklame tabu. Wenn man noch in den neunziger Jahren vorhergesagt hätte, dass bald solche Tabus errichtet werden, wäre die Reaktion Unglaube und Verständnislosigkeit gewesen.

Was aber bedeutet der Begriff «Tabu» eigentlich? Ursprünglich stammt dieser Ausdruck aus Tahiti. Im Jahr 1784 brachte ihn der Seefahrer James Cook in unsere Gesellschaft. Die tahitischen Ureinwohner hatten nämlich Cook und seine Männer bei allen Gegenständen, die sie nicht berühren durften, gefragt, ob diese «tabu» seien. Außerdem verwendeten sie das Wort «Tabu» für einen Baum, den sie für so heilig hielten, dass jeder, der ihn berührte, übernatürliche Bestrafung auf sich zog. Während man lange Zeit glaubte, solche Tabus kämen nur bei «primitiven Stämmen» vor, zeigten Völkerkundler wie Mary Douglas und Edmund Leach später, dass auch der industrialisierte Westen, ja, dass jede Gesellschaftsform von ihren ganz eigenen Tabus bestimmt wird.

Es war Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, der in seiner berühmten Aufsatzsammlung «Totem und Tabu» (1912–1913) die Doppelnatur des Tabus aufzeigte:

Einerseits gehört es zur Sphäre des Heiligen, andererseits zur Sphäre des Unheimlichen, Verbotenen, Gefährlichen und Unreinen. Das Objekt des Begehrens ist häufig gleichzeitig das Objekt, mit dem man nicht in Kontakt kommen darf.

Dieser Kontakt darf oft nicht einmal auf metaphorische, intellektuelle Weise stattfinden. Vor diesem Hintergrund entstehen unterschiedliche Formen von Tabus, beispielsweise Handlungs-, Sprech- und Darstellungsverbote. Am nachvollziehbarsten wird der Unterschied zwischen diesen drei Verbotstypen beim Thema sexueller Missbrauch von Kindern: Dass er ein Handlungstabu darstellt ist klar, denn er ist ein Verbrechen und richtet oft großen seelischen und körperlichen Schaden an. Dass er in unserer Gesellschaft aber auch etwas war, über dessen Existenz nicht einmal gesprochen und das so auch nicht bekämpft werden durfte, kritisierten zu Recht viele Menschen, denen der Schutz der Opfer am Herzen lag. Inwiefern man sexuellen Missbrauch aber in Filmen, Comics und anderen (insbesondere bildlichen) Texten darstellen darf, das ist auch heute noch heiß umstritten.

In unserer Zeit ist «Tabu» immer mehr zum Schmähwort geworden. Im Medienzeitalter über irgendetwas nicht sprechen oder es nicht darstellen zu dürfen, das verstehen in unserem demokratischen und aufgeklärten Zeitalter viele als Entmündigung. Die offene Gesellschaft tut sich schwer mit solchen Verboten. Gleichzeitig aber gibt es eine sehr kontrovers geführte Diskussion um die so genannte politische Korrektheit. Deren Befürworter bekunden mit Nachdruck, dass es sehr wohl Dinge gibt, die man nicht aussprechen darf, um nicht böse Geister zu wecken. Gegner dieser Haltung protestieren immer wieder gegen die mit ihr verbundenen Denk- und Sprechtabus, weil sie darin ihre persönliche Freiheit beschnitten sehen.

Manche haben auch den Eindruck, dass wir mittlerweile in einer Konsensgesellschaft leben, in der wir über wichtige Themen nicht sprechen, nur weil wir jeden Konflikt vermeiden möchten. So machte der Medienwissenschaftler Peter Glotz im Zusammenhang mit der Bioethik-Debatte etwa eine Form von «Angstkommunikation» und einen «neuen Moralismus» aus, der sich von der «Süddeutschen» bis zur «Welt» durch die unterschiedlichsten Medien ziehe und dabei «gelegentlich alle Perspektiven verliert».

So wie vor 50, 100, 1000 Jahren ist moralische Empörung noch immer das Mittel der Wahl, um ein Tabu durchzusetzen. Faszinierenderweise gelang insbesonders Gruppen, die sich als Opfer der Gesellschaft zeigten, durchzusetzen, welche Äußerungen sozial gestattet waren und welche nicht. Vertreter von Behinderten versuchen, Peter Singer aus der Diskussion auszugrenzen, Vertreter der Juden taten dasselbe mit Norman Finkelstein. Mitglieder der Frauenbewegung setzten durch, dass in der Geschlechterdebatte nur noch die weibliche, nein, vielmehr nur noch die feministische Sicht der Dinge gestattet war. Tabuisiert werden vor allem die Positionen derjenigen, die (oft mit Extremfällen als Beleg) in irgendeiner Weise als «Täter» ausgemacht werden konnten: Genforscher, Minderheiten der sexuellen Orientierung, religiöse Splittergruppen und Philosophen mit gewagten Positionen – ihnen allen, so heißt es immer wieder, könnten die Medien und die politischen Parteien doch unmöglich auch noch ein Forum für ihre verquasten Ansichten geben. Die Medien und die Parteien spielen oft mit. Alles andere würde ja auch bedeuten, dass sie selbst auf die Täterseite gestellt würden.

Die Macht des Tabus liegt in der öffentlichen Beschämung desjenigen, der dagegen verstößt. So wie man in den siebziger Jahren nicht über die Isolationsfolter von Terroristen im Gefängnis Stuttgart-Stammheim sprechen durfte und Heinrich Böll als einziger Prominenter wagte, freies Geleit für Baader-Meinhof einzufordern (und dafür auch reichlich Prügel bezog), so zeichnet man auch heute vor allem diejenigen Bürger mit Preisen für Zivilcourage aus, die sich ohnehin nur in sicheren Gewässern bewegen. Auch die staatlichen Zensoren setzen ihre Verbote durch, indem sie sich auf die Moral berufen: den Schutz von Schwächeren (Kindern) oder der Gesellschaft insgesamt.

Die Schlüsselformulierung, um ein Werk zu indizieren, lautet immer noch, dass es «sittlich desorientierend» sei, also gegen die gesellschaftlichen Grundtabus verstoße. Es verwundert nicht, dass viele der von Zensoren angegriffenen Werke zur künstlerischen Avantgarde gehören, ob in Literatur oder Film. Denn ein solches Infragestellen der bestehenden Werte war immer die Aufgabe von Kunst. Andererseits, das muss man einräumen, macht ein Tabubruch an sich noch keine Kunst aus.

Zum Wechsel des neuen Jahrtausends beklagen viele Kulturkritiker einen völligen Verlust an Tabus in unserer Gesellschaft. Der letzte noch denkbare Tabubruch könne nur darin bestehen, die alten Tabus wieder zu respektieren, finden nicht nur Konservative. Fast vierzig Jahre nach dem Beginn der sexuellen Revolution ist auch das Allerintimste bis hin zu ungewöhnlichen sexuellen Randbereichen in Nachmittags-Talkshows zu besichtigen. Etliche Zeitschriften, Kinofilme und Fernsehbeiträge kokettieren marktschreierisch mit angeblich immer neuen Tabubrüchen, in der Hoffnung, so von einem größeren Publikum wahrgenommen zu werden. «Wenn nicht wieder alles täuscht», schrieb die Satirezeitschrift «TITANIC» deshalb schon

im Oktober 1994, «wird zur Zeit und durchaus sonderbarerweise äußerst vielerlei 1) als Tabu bezeichnet, 2) als solches dann eiskalt gebrochen, oder auch 3) wildentschlossen ein ganz neues verlangt – und umgekehrt. Vermutlich ist es aber nur der Anfang.»

Medienkritische Journalisten wie Christoph Türcke sprechen in diesem Zusammenhang von «vordergründiger Tabubrecherei», von inszenierten Gewagtheiten, die in Wahrheit ohne Konsequenzen bleiben, die gesellschaftliche Ordnung vielleicht gerade erst bestärken. Denn solche Tabubrecher, so Türcke, seien allzu oft «darauf bedacht, dass ja nicht das Nervensystem einer Weltwirtschaftsordnung angegriffen werde, über deren Tabucharakter Rechenschaft abzulegen bei ernstlichem ‹Denken ohne Geländer› der erste Schritt sein müsste. Dabei wäre genau zwischen unnötiger und unvermeidlicher Unterdrückung zu unterscheiden, folglich zwischen unnötigen Tabus und unerlässlichen.»

Wenn wir es wirklich mit einer völlig tabufreien Medienwelt zu tun hätten, wie manche behaupten, dann wäre beispielsweise eine Fernsehserie um einen transsexuellen Anwalt, eine pädophile Detektivin und einen sympathischen Drogendealer, die gemeinsam einen verbrecherischen Juden jagen, kein Problem. Genauso wenig das Lifestyle-Magazin, das Kannibalismus als alternativen Trend für Gourmets behandelt. Der echte Tabubruch ist genau der Moment, wo der postmoderne Medienzirkus mit seinem unaufhörlichen gegenseitigen Spiegeln und Zitieren für einen Moment aufgebrochen wird und etwas Neues hineingelangt.

Aber so wie verschiedene historische Perioden und verschiedene Kulturen oft ganz unterschiedliche Tabus aufweisen, so gilt das mindestens zum Teil auch für unterschiedliche Medien. Was im Kino geht, geht im Fernsehen oft noch lange nicht. Und was in den traditionellen Medien tabu ist, weil diese von so vielen Konsumenten wie möglich akzeptiert werden müssen, ist im Internet durchaus möglich.

Und nicht nur, was die viel beschrieenen Darstellungen von Sex und Gewalt angeht. Auch neue politische Thesen und Konzepte (wie beispielsweise die der Männerbewegung) lassen sich im Web problemlos verbreiten und finden regen Zulauf, während in den traditionellen Medien noch der eisige Mantel des Schweigens darüber gelegt wird. Das Web entzieht sich stark den nicht-staatlichen Zensurinstanzen (Chefredaktion, Werbekunden); jeder kann mit den geringsten Hindernissen seine Meinung verbreiten, Bestätigung finden, Gruppen gründen. Auch die Kontrollinstanzen des persönlichen Umfelds (Eltern, Freunde oder Kollegen) haben erst einmal nichts zu sagen.

Dass in unterschiedlichen Medien unterschiedliche Tabus gelten, zeigt sich aber auch im Bereich der Popmusik. Atomic Kitten singen auf CD «You Can Make Me Whole Again», aber auf der Bühne schon mal «You Can Fuck My Hole Again». The Beautiful South hingegen verkünden im Radio «Don’t Marry Her, Take Me», auf CD jedoch «Don’t Marry Her, Fuck Me» (und ersetzen im Text «Sandra Bullock» durch «sweaty bollocks»). Dieses Spiel kennt man spätestens seit Geier Sturzflugs «Bruttosozialprodukt» – ein Lied der achtziger Jahre, in dem die Müllabfuhr mal «den ganzen Plunder», mal «sich einen runter» holte.

Tabus auf ihre Berechtigung abzuklopfen ist allerdings selbst bereits tabu. Sie sind Selbstverständlichkeiten, für die man keine weitere Begründung mehr braucht. Politisch kann das durchaus ein Problem darstellen, denn solch eine Vereinfachung macht eine differenzierte Analyse und erst recht eine sachliche Auseinandersetzung oft unmöglich. Tabus bedeuten «gehorchen, ohne zu fragen», wie es der Sozialpsychologe Stephan Rudas einmal formulierte. Es ist insofern kein Wunder, dass die 68 er-Generation einen Umsturz der überkommenen Tabus einforderte, weil sie damit Strukturen gesellschaftlicher Unterdrückung verband. Für die Konservativen hingegen waren Tabus die vernünftigen und notwendigen Grenzen, die überhaupt erst eine funktionierende Gesellschaft ermöglichten. Gerade weil sie neuralgische Punkte waren, mussten sie geschützt werden. Heutzutage kann man in dieser Hinsicht links und rechts manchmal leicht verwechseln.

Typischerweise halten sich Tabus in bestimmten Sphären auf, die hier nur stichwortartig aufgeführt werden können.

Wie anfangs gesagt, stellt ein Tabubruch immer eine Grenzverletzung oder -verschiebung dar. Aber interessanterweise haben auch die Themen, auf die sich ein Tabubruch bezieht, sehr häufig etwas damit zu tun, dass die Grenze zwischen zwei Gegensätzen gestört wird. Das kann die Grenze zwischen Mann und Frau sein (Transgender), zwischen Leben und Tod (Sterben), zwischen Liebe und Gewalt (Sadomasochismus), Kind und Erwachsenem (Pädophilie), Wissenschaft und ein dem ersten Anschein nach «magischen» Weltbild (Parapsychologie), Opfer und Täter (Finkelstein-Debatte) oder einfach die Grenze zwischen dem menschlichen Körper und seiner Außenwelt. Insofern verwundern zwei Dinge nicht: dass Tabubrüche in Grenzperioden am ehesten legitim sind (nie gibt es so viele Sendungen über Transsexuelle wie an Silvester) und dass ein Tabubruch häufig zunächst auf der humoristischen Ebene erfolgt: beispielsweise zu Karneval oder in der Satire. Wie der Witz stellt der Tabubruch eine verkehrte Welt dar. Homosexuelle wie Transgender erschienen zunächst häufig als komische Figuren in unseren Medien. Erst nach und nach kommt die gesellschaftliche Mehrheit mit dieser «Störung» zurecht und gemeindet die Abweichler ein.

Wie genau verläuft aber so ein Prozess? Wie spielt sich ein bestimmter Tabubruch ab, und wie reagiert die Öffentlichkeit? Welche bleibenden Folgen haben bestimmte ­Tabubrüche bewirkt? Welche Tabus haben sich verschoben oder verschieben sich gerade? Diese und viele andere Fragen wird das vorliegende Lexikon beantworten.