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Impressum
© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-909-3
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Burt Frederick

Das
Gespensterschiff

Im Morgennebel tauchte es auf – und sie glaubten an einen Spuk

Wenn man kein Schiff mehr hat, sondern nur noch eine kleine Jolle, und wenn man somit schiffbrüchig auf einer kleinen Insel hockt und eine Horde von Galgenvögeln mit einer Galeone die Insel blockiert und spitz darauf ist, die Schiffbrüchigen zu massakrieren, dann muß man sich etwas einfallen lassen, um sich das Leben zu erhalten. Die gute Idee hatte der Kutscher, und in der Nacht wurde seine Idee von Edwin Carberry, Stenmark, Nils Larsen und Sven Nyberg in die Tat umgesetzt. Mit der kleinen Jolle der entschwundenen „Empress of Sea“ pullten sie zu der Galeone und klauten den Galgenvögeln die beiden längsseits liegenden Beiboote. Und zusätzlich säbelten Carberry und Stenmark die Ankertrosse durch und erfreuten sich an dem Anblick der davontreibenden „San Jacinto“ …

Die Hauptpersonen des Romans:

Julio Acosta – als selbsternannter Kapitän hat er ziemliche Schwierigkeiten.

Morro – ein Decksmann, der wider den Stachel löckt.

Hasard junior – hält Ausguck und glaubt, ein Gespensterschiff zu sehen.

Old O’Flynn – ist sehr glücklich und schnappt dabei ein bißchen über.

Edwin Carberry – läßt nachts mit drei anderen Seewölfen „die Kuh fliegen“.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

1.

Old Donegal Daniel O’Flynn ließ nun schon zum wiederholten Male sein meckerndes Lachen hören. Ed Carberry, der – wie die anderen – hinter einem der Uferfelsen in Deckung hockte, warf dem Alten einen grimmigen Blick zu und schüttelte verständnislos den Kopf.

„Ich sage euch, ich sage euch“, rief Old Donegal halblaut und rieb sich dabei begeistert die Hände, „bei denen da drüben gibt’s jetzt das große Heulen und Zähneklappern!“

„Warte bloß ab“, knurrte Ed Carberry. „Wenn du zu große Sprüche klopfst, heulst und klapperst du bald selber, Donegal. Schadenfreude bringt nämlich Unglück. Wußtest du das nicht?“ Der Profos zwinkerte den anderen kaum merklich mit dem linken Auge zu.

Stenmark, der ihm am nächsten kauerte, mußte sich mächtig anstrengen, um sein Grinsen zu unterdrücken. Einfacher hatte es da schon der Rest der derzeitigen „Empress“-Crew, denn sie waren durch die breiten Rücken des Profos und des blonden Schweden vor den Blicken des alten O’Flynn geschützt und konnten sich ein ausgiebiges Feixen erlauben.

„Da bist du aber im Irrtum, Mister Carberry“, sagte Old Donegal giftig. „Schadenfreude ist die schönste Freude. Aber Unglück bringt sie bestimmt nicht. Das hast du mal wieder in den falschen Hals gekriegt.“

Der Profos der „Isabella“ schluckte ruckhaft und schob das Rammkinn vor.

„Stimmt nicht“, sagte er grollend. „Das habe ich von einer einäugigen Kesselflickerin in Plymouth. Ich traf die Lady um Mitternacht vor dem Friedhofstor. Sie las mir aus der Hand und gab ein paar Lebensweisheiten von sich. Zum Beispiel, daß Schadenfreude Unglück bringe. Jawohl, das hat sie gesagt.“

Old O’Flynn starrte sekundenlang stumm auf die Bucht hinaus. Seine Miene verdüsterte sich dabei, als hätte er auf einmal keine Freude mehr an dem, was sich an diesem Morgen des 8. Juli 1595 soeben abgespielt hatte.

Ein paar Trümmer von der kleinen Jolle der „San Jacinto“ trieben noch auf der Wasseroberfläche. Und drüben auf der Galeone wurden dem einzigen Überlebenden von fünf Bootsgasten vermutlich gerade die Leviten gelesen – wenn dieser verrückte Hund von einem sogenannten Kapitän ihn nicht sogar gleich erschoß. Immerhin hatte er zwei seiner Leute einfach über den Haufen geknallt – aus schierer Wut. Der dritte Tote ging auch auf sein Konto, denn die Kanone, die wegen überhöhter Pulverladung auseinandergeflogen war, hatte er sich zuzuschreiben. Und vier Leute waren jetzt im Kugelhagel der „Empress“-Mannen mit dem kleinen Beiboot zu den Fischen gegangen.

Damit hatte der Verrückte auf der spanischen Galeone nur noch fünfzehn Mann.

Und kein einziges Beiboot mehr.

Dagegen verfügten Old Donegal und seine Gefährten immerhin über drei handfeste Jollen – nämlich zwei von der gegnerischen Galeone, die da vor der Westseite der Bucht lag, und ihre eigene von der verschwundenen „Empress of Sea II.“.

„Wer ist denn hier schadenfroh?“ erkundigte sich der Alte unvermittelt. „Ich doch nicht! Das hast du gesagt, Mister Carberry! Verdammt, du willst mir was unter die Weste jubeln. Behauptest Sachen, die überhaupt keiner nachprüfen kann. Wie willst du denn beweisen, daß ich schadenfroh bin? He, wie denn?“

Ed Carberry sah den alten Zausel noch einen Moment grinsend an. Dann setzte er plötzlich eine überlegene Miene auf und hob das wüste Rammkinn noch ein Stück höher.

„Ich verstehe, Mister O’Flynn. Du gibst es also zu!“

„Was?“ Old Donegal war drauf und dran, hinter seiner Deckung aufzuspringen. Nur mit Mühe bezwang er seinen aufwallenden Zorn. „Was soll ich zugeben?“

„Daß du daran glaubst“, entgegnete Ed Carberry.

„An was, zum Teufel, soll ich glauben?“

„Daran, daß Schadenfreude Unglück bringt – so, wie ein Freitag, der dreizehnte, Unglück bringt, oder ein schwarzes Katzenvieh, das einem …“

„Jetzt reicht es!“ schrie der Alte. „Du willst mir das Wort im Mund umdrehen! Das habe ich nicht gesagt! Nie im Leben! Dafür gibt es schließlich Zeugen. Ich habe genau das Gegenteil erklärt.“

„Hast du nicht. Du hast erklärt, daß man dir die Schadenfreude erst nachweisen müßte. Damit hast du mehr oder weniger zugegeben, vor was du Angst hast. Nämlich davor, daß du dich ins Unglück stürzt, weil du in Wirklichkeit doch schadenfroh bist. Meine einäugige Lady vom Friedhofstor hatte nämlich doch recht. Das weißt du ganz genau. Nur wenn dir einer mal überlegen ist, was die Schwarzseherei angeht, dann kannst du’s nicht ertragen, was, wie?“

„Das ist keine Schwarzseherei“, entgegnete Old Donegal wütend. „Ich habe das Zweite Gesicht. So etwas nennt man einen Seher. Jawohl, ich habe die Fähigkeiten eines Sehers!“

Carberry holte tief Luft, war so richtig in seinem Element und genoß es offenbar, den Alten langsam, aber sicher auf die Palme zu bringen.

Der Kutscher räusperte sich laut und verhinderte, daß der Profos seinen bärbeißigen Kontrahenten erneut aufstachelte.

„Wenn ich die Gentlemen höflichst bitten darf, das neue Diskussionsthema über seherische Fähigkeiten auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben! Ich denke, wir haben im Augenblick höchst realistische Probleme zu bewältigen, bei denen uns ein Zweites Gesicht nicht sehr viel helfen kann. Ich bitte zu bedenken, daß wir uns auf den nächsten Angriff vorbereiten sollten, der mit Sicherheit nicht lange auf sich warten lassen wird. Waffenreinigen, Munitionsvorräte ergänzen und dergleichen. Zu tun gibt es wahrhaftig genug.“

Die anderen brummten beifällig. Nils Larsen und Sven Nyberg hatten bereits begonnen, die Läufe ihrer Musketen mit den Putzstöcken zu bearbeiten. Martin Correa nickte und fing damit an, die Pulverflaschen einzusammeln, um den Inhalt zu ergänzen.

„Unser Pfannenschwenker trifft mal wieder den Belegnagel auf den Kopf“, sagte Carberry anerkennend. „Und wie schön er das ausdrückt! Wußte gar nicht, daß ich so was kann – an einer Diskussion teilnehmen.“

„Bist ja bloß froh“, sagte Old Donegal zischelnd, „daß du dich elegant aus der Affäre ziehen kannst.“ Er hob die Stimme, als der Profos aufbrausen wollte. „Der Kutscher hat recht. Wir richten uns nach seinem Vorschlag. Hasard und Philip, ihr beiden betätigt euch als Pulveraffen.“

Carberry wandte sich zu den Söhnen des Seewolfs um.

„Wenn ihr oben in der Höhle seid, könnt ihr gleich mal nachsehen, wie es dem kleinen Sir John geht. In Ordnung?“

„Kommt nicht in Frage!“ rief Old Donegal bissig. „Die Nebelkrähe ist absolute Nebensache. Laßt euch nicht erwischen, daß ihr mit dem Mistvieh eure Zeit verplempert. Ihr habt Pulver zu holen und sonst nichts!“

Der Kutscher gab den Jungen mit einer Kopfbewegung zu verstehen, einfach loszumarschieren. Old Donegal zeterte ohnehin noch, als sie längst die Jakobsleiter erreicht hatten, die zum Höhleneingang hinaufführte.

Spätestens seit dem ersten Licht dieses neuen Tages gab es für die Dons an Bord der „San Jacinto“ ein Rätsel weniger. Die Jakobsleiter, die da aus der vier Yards hohen Höhlenöffnung in der Steilwand baumelte, war die Lösung all dessen, worüber sich die Goldgierigen in den letzten Stunden vermutlich den Kopf zerbrochen hatten.

Und trotzdem war ein weiteres Rätsel noch immer ungelöst: Woher, in aller Welt, nahmen die Unbekannten, denen der zweisprachige Papagei gehörte, bloß ihre Energie? Wie hatten sie die unvorstellbare Strapaze bewältigt, eine ganze Schiffsladung von Goldkisten in diese winzige Höhlenöffnung zu wuchten, die noch dazu so hoch über dem Erdboden lag?

„Ein bißchen mulmig ist mir doch“, sagte Hasard junior, als er mit seinem Bruder das untere Ende der Jakobsleiter erreichte. Die Felswand über ihnen war wie ein vorspringendes Dach, denn der Überhang hoch über der Grottenöffnung neigte sich ein beträchtliches Stück nach vorn, der Bucht zu.

„Wieso?“ fragte Philip begriffsstutzig. „Meinst du, Sir John ist in seiner Kiste erstickt?“

„Unsinn! Ich rede von den Spaniern.“ Hasard deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Die haben doch bestimmt Stielaugen, seit sie sehen, was es mit der Jakobsleiter auf sich hat. Stell dir vor, die versuchen es mit einer weittragenden Muskete, wenn wir auf entern.“

Philip wandte sich um und blickte zu der Galeone, die vor den westlichen Riffs ankerte.

„Die Amigos werden sich hüten, sage ich. Die haben noch genüg von der Kanone, die ihnen um die Ohren geflogen ist. Ich würde jedenfalls keine Muskete abfeuern, die eine zu starke Ladung im Rohr hat. Außerdem werden sie sich jetzt erst mal zusammenreimen, was sich hier abgespielt hat.“

Hasard nickte. „Hoffen wir, daß du recht hast.“

„Los, beeil dich“, drängte sein Bruder. „Mister O’Flynn bringt es fertig, uns höchstpersönlich Dampf unter dem Hintern zu machen, wenn wir nicht schnell genug sind. Und dann haben wir nicht genug Zeit für Sir John.“

Hasard brummte zustimmend und begann, aufzuentern. Jeden Moment rechnete er mit einer Kugel, die haarscharf neben ihm auf den Felsen prallte, sich abplattete und als handtellergroßer Bleipfannkuchen in den Sand fiel. Doch nichts dergleichen geschah.

Gefahrlos bewältigte Hasard junior als erster den Aufstieg zum Felsenloch. Sein Bruder folgte ihm mit zügig-kraftvollen Bewegungen.

Die beiden Jungen waren sich voll und ganz der Tatsache bewußt, was sie den Spaniern an Bord der „San Jacinto“ verdeutlichten. Eben jenen Umstand nämlich, der seit Tagesanbruch offenkundig geworden war. In der Nacht hatten die „Räuber“ des Goldschatzes ihre sichere Höhle verlassen und sich bis an die Zähne bewaffnet hinter den Uferfelsen postiert.

Philip junior erreichte gleichfalls den Grotteneingang. Einen Moment blickten die Brüder zum Strand hinunter, wo die Männer vom Bund der Korsaren in Deckung lagen und die Galeone aufmerksam beobachteten.

Es war die logische Folgerung gewesen, die Höhle zu verlassen und dort unten in Stellung zu gehen. Nachdem man die beiden großen Jollen der „San Jacinto“ gekapert hatte, waren die Voraussetzungen für die Dons ungleich schlechter geworden. Und wenn sie es dennoch mit der kleinen Jolle versuchten, konnte man ihnen nur vom Strand aus einen gebührenden heißen Empfang auf breiter Front bereiten – wie geschehen.

Auf die Heimlichtuerei hatte man so oder so verzichten können. Denn die Voraussetzungen für die Verteidigung waren ungleich besser geworden. Dieser hirnrissige Bursche von einem Kapitän mußte sich schon etwas einfallen lassen, wenn er mit seinen fünfzehn Mann noch etwas ausrichten wollte.

„Hurtig, hurtig“, sagte Hasard und ahmte dabei den Tonfall des Profos nach. „Bewegen wir uns, sonst erstickt der arme Sir John womöglich noch.“

Philip nickte nur. Gemeinsam eilten sie los, in den hinteren, sich erweiternden Bereich der Grotte, wo die Goldkisten, die Proviantvorräte und die Ausrüstungsgegenstände von der „Viento Este“ lagerten. Die beiden Jungen arbeiteten rasch und zielstrebig. Innerhalb von wenigen Minuten hatten sie sechs Pulverfäßchen und ein Dutzend lederne Kugelbeutel zur Felsenöffnung geschleppt.

Hasard deutete auf das gestapelte Segeltuch und die Taurollen.

„Den Ladebaum haben wir zwar nicht mehr zur Verfügung, aber ich denke, wir kriegen den ganzen Kram trotzdem auf einmal nach unten.“

„Eine Persenning und ein Tau“, entgegnete Philip und nickte. Dann hieb er seinem Bruder begeistert auf die Schulter. „Klar! Damit haben wir noch mehr Zeit gewonnen.“

Gemeinsam schleppten sie in aller Eile einen Tuchballen und eine Taurolle nach vorn. Dann kehrten sie in den hinteren Bereich zurück, wo auf einem Felsvorsprung eine einsam blakende Laterne stand.

Behutsam zogen sie die Proviantkiste, in der Ed Carberry den vorlauten Vogel verstaut hatte, zwischen den Goldkisten hervor. Die Jungen runzelten die Stirn, als sie die Kiste auf den Boden stellten und begannen, die seitlichen Verzurrungen zu öffnen. Zwar war es einerseits vorteilhaft, daß Sir John in seinem Verlies kein freudiges Gezeter anstimmte – was letzten Endes verräterisch gewesen wäre. Andererseits war die totale Stille in der Kiste aber auch besorgniserregend.

„Vielleicht ist er beleidigt“, sagte Hasard, als er den Kistendeckel öffnete.

„Zuzutrauen wär’s ihm.“

Im nächsten Moment erstarrten die Brüder und rissen den Mund vor Schreck weit auf.

Der karmesinrote Papagei lag auf der Seite, regungslos, die Knopfaugen weit geöffnet und stumpf.

„Um Himmels willen!“ hauchte Hasard. „Vorhin haben wir gespottet, und jetzt ist es tatsächlich passiert!“

„Der arme Kerl“, flüsterte Philip und strich über die Schwingenfedern Sir Johns. Tränen standen in den Augen des Jungen. „Das hat er nun wirklich nicht verdient.“