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Al Capone
– Doppelband 5 –

Al Capone

Al Cann

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74094-634-0

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Die Dillingers kommen

Roman von Cann, Al

Es geschah auf der Straße von St. Louis nach Chicago. Der D-Zug donnerte durch die Aprilnacht dem Lade Michigan zu. Eben hatte er den Bahnhof von Pontiac passiert und ratterte nordostwärts der Millionenstadt entgegen, von der ihn noch etwa fünfundachtzig Meilen trennten.

Suzan Tunney saß in einem Abteil der ersten Klasse, hatte den Kopf gegen das Fenster gelehnt und blickte in die dunkle Nacht hinaus. Der Regen zog sich in langen Fäden quer über die Scheibe, und der Wind strich pfeifend an der Außenhaut der Waggons vorbei und mischte sich in die Melodie der Räder.

Suzan warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und rechnete aus, wie lange der Zug noch brauchte. Etwas entmutigt lehnte sie sich gegen ihren Mantel an die Polster und schloß die Augen. Sie war in St. Louis gewesen, wo sie ihre Tante Mae besucht hatte. Tante Mae war eine Schwester ihrer Mutter und lebte seit einem halben Menschenalter allein in St. Louis, wohin sie ihrem Mann damals gefolgt war. Onkel Ted war vor fünfzehn Jahren gestorben, und die alt gewordene Frau fühlte sich jetzt sehr einsam drüben am Rand des Westens. Suzan hatte ihr schon so oft versprochen, sie einmal zu besuchen, und jetzt hatte sie sich ein paar Tage Zeit dazu genommen. Es war keine sonderlich erquickende Zeit gewesen; Tante Mae war wirklich alt und unduldsam geworden und außerdem auch noch schwerhörig. Suzan war froh, als sie sich wieder in den Zug setzen konnte.

Ihre Gedanken eilten der Lokomotive voraus dem fernen Chicago entgegen. Sie dachte an ihr Leben dort, an ihr schönes Haus draußen in Addison und an alles, was dazu gehörte. Nicht ganz siebenundzwanzig Jahre war sie alt an diesem Tag, an dem es geschah.

Einen Wagen dahinter saß in einem überfüllten Abteil ein schwarzhaariger junger Mann am Fenster und blickte aus kühlen pulvergrauen Augen in die gleiche Nacht hinaus. Er hatte ein hageres Gesicht, eine leicht gebogene scharfe Nase, dünne Lippen und ein kräftig ausgeprägtes Kinn. Sein Anzug wirkte kleinstädtisch, und seine unmoderne Frisur paßte dazu. Hinter ihm hing ein grauer, großkarierter Mantel, so wie man ihn eben in den Vorstädten von St. Louis trug. Der dreiundzwanzigjährige Richard Dillinger stammte aus Frontenac, einer Kleinstadt nahe dem Ostrand von St. Louis im Staate Missouri. Ebenso wenig wie die junge Frau, die im Wagen vor ihm saß, ahnte er, daß diese Fahrt entscheidend für sein Leben werden würde.

Der junge Richard Dillinger war der Sohn eines Schlossers, der in St. Louis eine eigene Werkstatt gehabt hatte. Aber der Vater war früh gestorben und hatte nichts als Schulden hinterlassen. Ric wuchs in Verhältnissen auf, die seinem Lebensbild die Form gaben. Er lernte ebenfalls das Schlosserhandwerk, hielt es aber nirgends lange aus, und vor drei Tagen hatte er bei seinem letzten Master gekündigt. Seiner verzweifelten Mutter hatte er kurz vor seiner Abfahrt erklärt, daß er nach Chicago fahren würde, wo er seinen Vetter Frank angerufen hätte. Frank hätte ihn aufgefordert, nach Chicago zu kommen; er hätte da einen besseren Job für ihn. Das war alles Lüge. Die Verbindung zu dem Vetter Frank bestand nur noch aus einer Karte, die jährlich zu Weihnachten an Richards Mutter kam. Das war alles. Gesehen hatten sich die beiden nur zweimal – und zwar beim Tod seines Vaters und an dem Frank Dillingers Eltern in Chicago nach einem tödlichen Verkehrsunfall beerdigt wurden.

Er hätte selbst nicht sagen können, wie er auf den Gedanken gekommen war, so plötzlich Hals über Kopf nach Chicago zu fahren. Das Fahrgeld hatte er von der Mutter gefordert; sonst hatte er gar nichts mitgenommen. Nicht einmal eine Zahnbürste oder ein Unterhemd.

Ein Mann ohne Hoffnung? Wer hätte das sagen können? Wer hätte ahnen können, daß mit dieser Fahrt des blutjungen Richard Dillinger der erste Schritt auf dem Weg zu der Gründung einer Bande getan wurde, die in Amerika ihresgleichen suchten sollte – wenn man einmal von der Gang Al Capones absehen will.

Wenn später behauptet wurde, Ric Dillinger hätte dies alles vorgeplant und sei nur deshalb nach Chicago gekommen, so ist das doch nichts als eine lose Vermutung.

Die Luft in Rics Abteil war fast nicht mehr zu atmen. Ihm gegenüber saß ein alter, bäurisch gekleideter Mann, der an einem fürchterlich rußenden Zigarrenstummel saugte. Dabei schlief er immer wieder ein, und die Asche fiel auf seine grüne Hose. Neben ihm saß eine spindeldürre Frau mit spitzem, faltigem Gesicht, die eine Zigarette nach der anderen rauchte, sich jedoch über die gewaltigen Rußwolken des neben ihr sitzenden Alten mokierte. Rechts neben ihr saß ein schmalgesichtiger Jüngling, der in der Luft, die ihn umwehte, offensichtlich zu ersticken drohte; sein Gesicht hatte eine fahlgelbe Färbung angenommen. Der vierte Passagier, Ric gegenüber, war ein Mann in den Vierzigern, der eine Pfeife rauchte. Er machte einen ordentlichen Eindruck und schien ein Vertreter oder etwas Ähnliches zu sein.

Neben Ric saß ein Mann, der die Figur eines Boxers hatte; er rauchte zwar nicht, dafür aber kaute er kiloweise Äpfel. Neben ihm saß eine kleine, in sich zusammengesunkene Frau, ganz in Schwarz, die trotz ihrer Leidensmiene einen Zigarillo zwischen den Fingern hielt, an dem sie hin und wieder mit spitzen Lippen zog. Auf dem letzten Platz zum Gang hin saß ein rundlicher Mann in den Fünfzigern mit Stoppelschnitt und feisten Hängewangen. Er rauchte zwar nicht, dafür aber breitete er alle zehn Minuten geräuschvoll seinen Reiseproviant vor sich aus, der in die St. Louis Post eingewickelt war. Darin hatte er in hartem Pergamentpapier sicherlich ein Dutzend Eier und eine Unzahl dickbelegter Brote. Nicht daß er immer nur eines herausgezogen hätte, um es zu verzehren, nein, er packte sie immer einzeln der Reihe nach aus, um sie anzusehen und dann sorgfältig zu wählen. Zweifellos hatte er da Hausgemachtes mit dabei, denn ein impertinenter Geruch von Knoblauch übertraf selbst den starken Tabaksqualm und drang Ric Dillinger unangenehm in die Nase.

Ric legte die linke Hand schützend gegen das Licht ans Gesicht und brachte seinen Kopf dicht an die Scheibe. Draußen tauchten in der Dunkelheit winzige Lichter auf, die sich verstärkten, und dann wurde ein Stationsgebäude sichtbar. Aus der Dunkelheit tanzte das Schild mit der Aufschrift Pontiac plötzlich in sein Gesichtsfeld und tauchte wieder in der Dunkelheit unter. Er erhob sich, quetschte sich durch die diversen Beinpaare zur Tür, zog sie auf und blieb einen Moment aufatmend auf dem Gang stehen. Dann trat er an eines der Fenster und wollte es öffnen. Es schien verklemmt zu sein. Mißmutig ging er weiter den Gang hinunter an den Toiletten vorbei und blieb schließlich vor dem Übergang zum nächsten Wagen stehen.

Es war ihm keineswegs so wohl zumute, wie er seine Mutter glauben gemacht hatte. Nicht einmal Biggy hatte er etwas von seiner Abfahrt gesagt. Gestern abend, als er mit ihr an der alten Tankstelle ihres Vaters an der Landstraße nach Westen gestanden hatte, war er einen Augenblick versucht gewesen, es ihr zu sgen. Aber dann hatte er es doch für sich behalten. Allzuviel lag ihm ohnehin nicht an dem blassen, sommersprossigen Mädchen, wenn es sich auch viel Mühe gegeben hatte, ihn an sich zu fesseln. Trübe Vorstellung, in diesem armseligen Vorstadtnest der Schwiegersohn eines selbst darbenden Tankstellenpächters zu werden!

Sein Blick haftete auf dem Durchgang zum nächsten Wagen. Das dunkle Samtgrün, das von lasiertem Naturholz eingerahmt wurde, fesselte seinen Blick. Er griff nach der Tür zum Durchgang und betrat den nächsten Wagen.

Erste Klasse, da stand es; und die Luft, die ihm hier entgegenschlug, bewies es ihm. Es war ein feiner Duft, der von Parfüm, Leder und Tabak, Holz und Stoff gemischt zu sein schien. Ganz wenig nur war der rußige Geruch, der alle Züge erfüllte, hier zu vespüren.

Ric ging vorwärts, schob die Tür zum Gang auf und sah, daß die ersten drei Abteile leer waren. Im vierten saß ein dickleibiger Mann, der die Hände über seiner Weste zusammengefaltet hatte, das Doppelkinn auf die Brust gepreßt hielt und vor sich hin schnarchte. Neben ihm stand eine schwarze Lackledertasche, und über ihm im Gepäcknetz lag ein kleiner Koffer. Er machte einen biederen Eindruck; eigentlich nicht wie ein Mann, der hierher in dieses Abteil gehörte. Vielleicht hatte sich dieser Vogel in das leere Abteil gesetzt, ohne dafür zu zahlen. Dumm war man, daß man drüben in diesen stickigen Käfigen aushielt, wo hier alles leer war.

Ric setzte seinen Weg weiter fort, sah, daß die beiden nächsten Abteile ebenfalls leer waren, und verhielt auf einmal den Schritt.

Im siebten Abteil saß eine Frau. Sie hatte blondes Haar und dunkle Augen. Ihr Mund war ziemlich groß und ihr Gesicht oval geschnitten. Unter der blauen Bluse wölbte sich ein voller Busen, und die Beine, die unter dem Rock hervorblickten, waren wohlgeformt und lang. Neben ihr hing ein eleganter malvenfarbener Mantel, vor dem eine Tasche aus Krokodilleder stand. Der Koffer, der oben über ihr im Netz lag, war aus dunklem Schweinsleder.

Scharf hatte der Mann aus St. Louis seinen Blick auf die junge Frau geheftet. So etwas müßte es in Frontenac geben, dann hätte man es nicht nötig, sich mit Mädchen wie Biggy abzugeben. Die etwas aufdringliche Eleganz und die erotische Schönheit Suzan Tunneys hielten den Blick des jungen Mannes aus der Provinz fest.

Dann ging Ric weiter. Das nächste Abteil stand wieder leer, und im letzten saß ein grauhaariger katholischer Geistlicher, der mit wackelndem Kopf in sein Brevier starrte. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, und gewaltsam riß er sie auf. Wahrscheinlich war er tagsüber nicht dazu gekommen, seine Lektion herunterzubeten.

Fieberhaft jagten die Gedanken in Richard Dillingers Hirn hin und her. Er wandte sich um, ging zurück und blieb vor dem Abteil der Frau stehen. Als er sich etwas vorbeugte, konnte er ihr Profil erkennen. Es war ein weich gezeichnetes Gesicht mit einer kurzen, etwas aufwärtsstrebenden Nase, sehr vollen Lippen und einem weichen Kinn. Die Augen hatten etwas Umflortes, Lockendes, und das platinblonde Haar, das glatt auf ihre Schultern herunterfiel, vibrierte leicht mit den Erschütterungen des Waggons. Wieder haftete sein Blick auf dem vollen Busen, der sich überdeutlich vor dem Schwarz des Fensters abzeichnete.

Aber was ihn mehr interessierte als all dies, war die krokodillederne Handtasche, die neben ihrem linken Arm auf dem grünen Polster stand. Was hatte eine Frau, die so elegant gekleidet war, in einer solchen Tasche? Wahrscheinlich doch wohl Geld. Eine Frau, die nach Chicago fuhr, tat dies ganz sicher nicht ohne Geld.

Aber fuhr nicht auch er ohne Geld nach Chicago? War das Reisegeld, das die Mutter ihm wohl oder übel gegeben hatte, nicht alles, was er aus Frontenac mitgenommen hatte?

Geld! Das war es, was er brauchte.

Er warf noch einen raschen Blick zurück, und als er feststellte, daß der Gang nach beiden Seiten hin leer war, trat er auf die Tür zu, zog sie auf und warf sie hart hinter sich ins Schloß.

Suzan schrak zusammen, blickte den Mann aus erschrockenen Augen an, und ehe sie auch nur einen Laut über die Lippen bringen konnte, stürzte er sich auf sie und preßte sie in die Fensterecke zurück. Ein Schlag gegen den Kopf betäubte sie sofort.

Der Bandit nahm die Tasche an sich, schob sie unter seinen Mantel, wandte sich zur Tür und drehte sich da noch einmal um. Die Überfallene saß in sich zusammengesunken in der Ecke, und der Kopf lag seltsam verrenkt auf der rechten Schulter. Kalkige Blässe hatte ihr Gesicht überzogen.

Dillinger zog die Tür auf, warf einen forschenden Blick nach beiden Seiten in den Gang und wandte sich dann nach links.

Der Geistliche saß noch immer in seiner kerzengeraden Haltung da, hatte die Augen geschlossen, und sein Kopf wippte über dem Gebetbuch hin und her.

Ric hatte das Ende des Wagens erreicht und blieb stehen. Völlige Leere herrschte jetzt hinter seiner Stirn. Das, was da geschehen war, hatte sich in seinem Leben nicht zum erstenmal ereignet. Vor genau sechs Jahren hatte der siebzehnjährige Lehrling auf einem Volksfest in St. Louis einer Frau ebenfalls die Tasche gestohlen. Als er sich damit wegmachen wollte, brüllte die Frau wie am Spieß, und sofort kamen von allen Seiten Leute herbeigeströmt. Er hatte sich zu lange aufgehalten und wurde gegriffen. Als man ihn zum nächsten Polizeirevier schleppen wollte, gelang es ihm im allerletzten Augenblick, sich davonzumachen. Er hatte dabei zwei Männer niederschlagen müssen.

Die Frau konnte jeden Augenblick aus ihrer Ohnmacht erwachen und würde Alarm schlagen; vielleicht würde sie die Notbremse ziehen. In jedem Fall war er in höchster Gefahr – und Richard Dillinger war sich der Tragweite dessen, was er da getan hatte, voll bewußt. Er konnte sich ausrechnen, was ihm passierte, wenn sie ihn stellten.

Kurz entschlossen stieß er die Wagentür auf der rechten Seite zur Fahrtrichtung auf, nahm die Handtasche unterm Mantel hervor und schob den Bügel über den linken Arm. Dann griff er mit der linken Hand nach dem Haltegriff draußen, und schon erfaßte ihn der Fahrtwind und trieb ihm das Haar hoch, zerrte an seinem Mantel, an seinen Hosenbeinen und drang eisig bis auf seine Haut. Der Regen war scharf und schmerzte an den Augen. Er wollte die Tür hinter sich zuwerfen, aber das war ungeheuer schwer, da sie vom Fahrtwind wie ein Segel zurückgedrückt wurde. Mit einer Gewaltanstrengung gelang es ihm schließlich. Immer noch hatte er die Linke um den rußigen eisernen Haltegriff gespannt und starrte mit zusammengekniffenen Augen ins Dunkel.

Allmächtiger! Wo war denn der Boden! Er blickte durch das stählerne Gerüst einer Brücke und sah unten in der Tiefe Wasser schimmern. Jetzt wuchsen die stählernen Verstrebungen vor ihm auf, veränderten das Geräusch des Fahrtwindes und schienen ihm wie drohende Gespenster entgegenzuspringen. Endlich war die Brücke passiert. Ein kleiner Bahnwärterschuppen flog vorbei, und dann kam die dunkle Nacht mit dem schwarzen Land. Unter ihm schimmerte feucht der Schotter des Bahndamms.

Es hatte keinen Zweck zu warten, er mußte springen. Jeden Moment konnte jemand über ihm am Fenster auftauchen oder von einem der Fenster aus seine Gestalt bemerken. Er starrte noch einmal mit weit aufgerissenen Augen nach vorn, sah den schwarzen Abhang des Bahndammes, über den die Lichtstreifen der Fenster wie Geisterfinger eines wild gewordenen Pianisten dahinflogen – dann schloß er die Augen und schnellte sich wie ein Tier in die Dunkelheit.

Hart schlug er mit dem linken Oberschenkel auf – glücklicherweise nur mit dem Oberschenkel –, überschlug sich drei-, vier-, fünfmal und blieb schließlich halb betäubt in einer Bodenmulde hängen. Über ihm ratterte der Zug mit seinen Lichtern dahin, zitterte das Schienenband und dröhnten die hölzernen Schwellen. Dann war sie vorüber, die schmale, lichterfüllte Welt, die dem fernen Chicago entgegenflog. Immer winziger wurden die Lichter, endlich verschwanden sie in der Dunkelheit. Auch das Geräusch verebbte bald, und dann umgab den Mann, der am Fuß des Bahndamms im kniehohen nassen Gras lag, Finsternis.

Er mußte seine Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen. Dann sah er neben sich die Konturen der hohen Gräser haarscharf wie Lanzen im Schwarzgrau des Himmels. Der Regen fiel weich in sein Gesicht.

Als er im Zug gesessen hatte, war es ihm so vorgekommen, als würde der Regen vom Sturm nur so gepeitscht. Aber es herrschte gar kein Sturm; es war windstill, die Nacht ruhig, und der Regen fiel nur in fadendünnen Strichen nieder.

Der Mann aus dem Westen richtete sich in sitzende Stellung auf, erhob sich dann und stellte fest, daß er den Sprung und den nachfolgenden Sturz unverletzt überstanden hatte.

Zwar verspürte er Schmerzen im linken Oberschenkel und einen dumpfen Schmerz im Kopf. Aber was bedeutete das schon?

Er machte ein paar Schritte vorwärts und stand auf einem schmalen Trampelpfad, der am Bahndamm entlangführte.

Gern wäre er auf den Damm hinaufgestiegen, da er von dort aus besser nach einer Landstraße hätte Ausschau halten können. Aber sie sollten seine Spur nicht so leicht finden. Wenn sie feststellten, wo der Überfall ungefähr stattgefunden hatte, dann würden sie vielleicht auch darauf kommen, daß er aus dem Zug gesprungen war. Sie würden sogar sehr sicher darauf kommen, und dann sollten sie seine Fährte nicht finden.

Durch den weiten Sprung über den Schotter und das Gras hinweg bis dicht an den Trampelpfad heran, würden sie Mühe haben, eine Spur zu entdecken. Der Regen würde die Gräser, die er beim Abrollen niedergedrückt hatte, in wenigen Stunden wieder aufgerichtet haben.

Da bemerkte er auf einmal Steinstufen vor sich, die zum Damm hinaufführten. Er stieg hinauf und sah weit drüben im Osten die Scheinwerfer eines Wagens.

Da also war die Straße. Er blieb noch eine Weile auf dem Schienenstrang, lief stolpernd über den Schotter und verließ den Damm erst, als er wieder Stufen fand, die auf der anderen Seite hinunterführten.

Unten blieb er ein Stück auf dem schmalen Pfad und bog dann in einen Feldweg ein, der nach Osten hinüberführte. Der Weg war naß und voller Pfützen; er zog sich mitten durch nachtschwarze Felder der Straße entgegen.

*

Als Suzan Tunney die Augen wieder aufschlug, blickte sie in das Gesicht eines Mannes.

Es war ein markantes männliches Gesicht, das von einem blauen Augenpaar beherrscht wurde.

Diese Augen waren von einem dichten Kranz langer schwarzer Wimpern umgeben und lagen unter hohen Brauenbögen. Der Mann hatte helles Haar, das kurz geschnitten war.

Es war etwas Zwingendes in diesen Augen und hielt den Angstschrei, der von ihren Lippen kommen wollte, in ihrer Kehle zurück.

Dennoch sprang die Angst sie wieder an, als sie sich ihrer Lage plötzlich bewußt wurde. Sie lehnte zusammengesunken in der Abteilecke, sah über sich das bläulich schimmernde, zitternde Licht an der Decke, drüben das Koffernetz, die gewölbte Abteildecke und vor sich den Mann.

Was war geschehen?

Da öffneten sich die Lippen des Mannes, und sie sah eine ebenmäßig gewachsene perlweiße Zahnreihe blitzen.

»Na, geht’s wieder besser?« Seine Stimme hatte einen sonoren Klang, der ihr durch und durch ging. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und griff sich dann mt der Linken an die schmerzende Stirn.

Der Fremde hatte sich aufgerichtet und stand jetzt vor ihr.

Suzan blickte verstohlen unter der Hand zu ihm auf.

Mein Gott, das war ja ein Riese!

Er trug einen graubraunen Trenchcoat, und in der linken Hand hielt er seinen Hut.

»Entschuldigen Sie«, sagte er, »daß ich hereingekommen bin. Ich kam durch den Gang und sah Sie so merkwürdig zusammengesunken hier liegen. Als ich dann den Blutfaden in Ihrem linken Mundwinkel entdeckte, bin ich nähergetreten.«

»Was ist – passiert?« stammelte die Frau.

»Ich weiß es ja nicht. Überlegen Sie mal, ob Sie es nicht vielleicht selbst wissen? Saßen Sie die ganze Zeit allein hier?«

Da kam die Erinnerung plötzlich wieder wie ein böses Phantom. Jäher Schreck ließ sie hochzucken. Sie wich bis zum Fenster zurück, preßte die Hände gegen die kühle Scheibe und starrte den Fremden aus weit geöffneten Augen an.

»Ein Mann«, stotterte sie, »kleiner als Sie, schmaler, mit einem hageren Gesicht und grauen Augen. Er kam plötzlich herein und – er stürzte sich auf mich. Dann weiß ich nichts mehr.«

Der Fremde warf einen forschenden Blick durchs Abteil.

»Haben Sie keine Handtasche?«

Suzan blickte auf den Platz neben sich und zuckte zusammen.

»Um Himmels willen! Sie ist verschwunden!«

»Ist das Ihr Koffer da oben?«

Sie nickte.

»Darf ich ihn herunterholen?«

Wieder nickte sie.

Der Fremde nahm den schweren Koffer aus dem Gepäcknetz, als wäre er gewichtslos, und stellte ihn neben sie hin.

»Vielleicht sollten Sie einen Blick hineinwerfen.«

»Ich habe den Schlüssel nicht bei mir. Aber warten Sie. Ich glaube, meine Tante hat ihn gar nicht abgeschlossen.«

Da beugte sich der Mann nieder, griff nach den Schloßkappen und ließ sie hochspringen.

Suzan hob mit zitternder Hand den Deckel, griff nach ihrem roten Pullover, der obenauf lag, hob die Wäschestücke an, betastete den Schuhbeutel und schüttelte dann den Kopf. Langsam ließ sie den Deckel zurückgleiten.

»Es ist alles da.«

Da schloß der Mann den Koffer, nahm ihn in die Rechte und ging zur Tür.

»Kommen Sie mit, rasch.«

Suzan Tunney folgte ihm, ohne zu überlegen. Es war etwas so Zwingendes in seinem Blick und auch in seiner Stimme, das keine Ablehnung in ihr aufkommen ließ. Sie folgte ihm auf den Gang. Er machte ein paar Schritte vorwärts, blieb dann an dem Abteil stehen, in dem der Geistliche saß und öffnete die Tür.

»Entschuldigen Sie bitte, würden Sie der Dame einen Augenblick Gesellschaft leisten? Sie ist ein Abteil weiter überfallen und beraubt worden.«

Der neunundsechzigjährige Thomas Alberts erhob sich sofort, nickte bereitwillig und deutete auf die Sitze ihm gegenüber.

»Aber selbstverständlich. Bitte, nehmen Sie Platz, meine Dame.«

Der Fremde schob den Koffer über Suzan ins Gepäcknetz und fragte sie dann:

»Wissen Sie, was er anhatte?«

»Ich glaube, einen karierten Mantel. Aber ich kann es nicht sicher sagen.«

»Trug er einen Hut?«

Suzan schüttelte den Kopf.

Schon war der Fremde draußen.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis er wieder auftauchte.

»Im hinteren Teil des Zuges ist er nicht. Ich werde jetzt die beiden vorderen Waggons absuchen.«

Aber auch da fand er keinen Mann, auf den die Beschreibung gepaßt hätte. Er kam ins Abteil zurück, nahm seinen Hut ab und ließ sich neben Suzan nieder.

Mein Name ist Ness. Ich bin von der Polizei. Wenn Sie in irgendeiner Weise meine Hilfe brauchen sollten: hier ist meine Telefonnummer. Ich nehme an, Sie wollen doch nach Chicago?«

Suzan Tunney nickte.

»Ja, ich wohne da.«

»Ihre Fahrkarte ist natürlich auch weg?«

Sie schüttelte den Kopf und öffnete die linke Hand. Halb zerdrückt kam ihr Ticket zum Vorschein.

»Ein Glück«, meinte er, »aber wir hätten Sie auch so durch die Kontrolle gebracht. – Vielleicht können Sie sich noch an weitere Einzelheiten erinnern? Könnten Sie sagen, wie groß der Mann war?«

»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht einsachtzig?«

»War er kräftig oder eher schlank?«

»Schwach sah er nicht aus. Aber ich möchte doch sagen, daß er sehr schlank war. Der karierte Mantel ließ ihn breiter erscheinen, als er wahrscheinlich war. Sein Gesicht war sehr hager und – es tut mir leid, aber ich kann mich wirklich an nichts weiter erinnern. Es ging alles so furchtbar schnell.«

»Tun Sie mir einen Gefallen, Miß…«

»Tunney, Mrs. Suzan Tunney.«

»Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, Mrs. Tunney, dann bleiben Sie wenigstens noch fünf Minuten, nachdem der Zug angekommen ist, hier im Abteil.«

»Aber ist das nicht gefährlich?«

»Keineswegs. Ich möchte nämlich den Herrn hier bitten, ebenfalls so lange bei Ihnen auszuharren.«

»Aber selbstverständlich. Ich bleibe auf jeden Fall bei ihr«, erklärte der Geistliche, dessen Stimme leise zitterte.

»Was haben Sie vor?« fragte das Mädchen.

»Ich werde draußen am Perron in der Nähe der Sperre nach dem Mann Ausschau halten. Wenn sämtliche Passagiere herausgekommen sind, und er war nicht dabei, dann werde ich Ihnen ein Zeichen geben.«

Die beiden nickten.

Der Fremde erhob sich, verließ das Abeil und nahm seinen Weg durch die Gänge der Waggons wieder auf.

Suzan, die ihm nachgeblickt hatte, ahnte ebenso wenig wie der Geistliche, daß dieser Mann nicht irgendein Polizist war, sondern der berühmteste Polizei-Offizier, den die Vereinigten Staaten jemals gehabt haben. Der einunddreißigjährige Eliot Ness war vor Jahresfrist vom besten Boß des FBI dazu bestimmt worden, das Amt des Chef-Inspektors der Spezial-Abteilung des Federal Bureau of Investigation in Chicago zu übernehmen. Man hatte sich damals nicht nur in Washington darüber gewundert, daß Edgar Hoover ausgerechnet für diesen wichtigsten Posten aller FBI-Stellen einen so jungen und verhältnismäßig unerfahrenen Mann ausgewählt hatte. Denn Chicago hatte sich zu einem wahren Brennpunkt des Verbrechens entwickelt. Nirgends in Amerika – ja überhaupt nirgends auf der ganzen Welt – gab es noch eine solche Zusammenballung des Verbrechertums wie gerade in dieser Stadt. Im Amt A I in Washington und auch an anderen Stellen hatte man versucht, sich gegen diese Nominierung zu wehren. Aber es hatte nichts genutzt, Hoover hatte auf seiner Wahl bestanden. Niemand wußte, was den großen Mann in Washington zu seinem Entschluß bewogen haben mochte. Auch Pinkas Cassedy, der schwergewichtige FBI-Inspektor aus New York, der von Hoover nach Chicago zum Stellvertreter des jungen Eliot Ness bestellt worden war, wunderte sich sehr über den »jungen Mann«, den man ihm da als Boß vor die Nase setzte. Sie waren gleichzeitig nach Chicago gekommen, der junge Ness und der um einige Jahre ältere Pinkas Cassedy. Aber so befremdet der dicke Inspektor über Edgar Hoovers Wahl gewesen war, so schnell sollte sich seine Ansicht über den jungen Mann ins Gegenteil umkehren. Cassedy war einer der ersten, die den Entscheid Hoovers geradezu bewundern mußten. Bewies doch dieser junge Abkömmlung einer norwegischen Auswandererfamilie ein ganz außerordentliches Talent zum Kriminalisten. Ja, man konnte sogar behaupten, daß der »Norweger«, wie er bald in Chicago insgeheim genannt wurde, ein Genie auf dem Gebiet der Kriminalistik war. Niemals vor ihm und auch niemals später wieder hat Amerika einen so hochbegabten Polizei-Offizier besessen. Sein nur kurzes, aber so überaus ereignisreiches Leben dürfte in der Geschichte des amerikanischen Bundeskriminalamtes unerreicht bleiben.

Es war mehr als ein Zufall, daß Eliot Ness in dieser Nacht in dem Zug saß, der von St Louis nach Chicago fuhr. Er war in Springfield gewesen, wo er der Fährte eines Gangsters gefolgt war, der zur Capone-Gang gehören sollte. Sein Name war Astor Waverly. Der Inspektor hatte die Spur Waverlys in einer Vorstadtstraße Springfields aufgespürt – und fand den Gesuchten in einem Garagenschuppen. Tot. Erschossen. Von seinem Mörder keine Spur. Es stand für den FBI-Agenten fest, daß Waverly von den Mitgliedern der Capone-Gang nach Springfield gelockt und dort erschossen worden war. Sie hatten es sehr geschickt angestellt, die Gangster, denn die Mordkommission fand nicht einen Hauch von Spuren. Die Untersuchungen waren indessen noch im Gange, und Eliot Ness hatte die Rückfahrt nach Chicago angetreten, da dort ein ganzer Berg Arbeit auf ihn wartete. Es war immer dasselbe, wenn es um die Machenschaften des Alfonso Capone ging. Nichts, aber auch gar nichts war diesem gerissenen Gangsterchef nachzuweisen. Er kannte jeden Trick, jede Polizeimethode ganz genau, er vermochte sich auf alles einzustellen, was seine Verfolger versuchten. Eliot Ness hatte einen so cleveren Verbrecher niemals zuvor erlebt. Der Gedanke an Al Capone bereitete ihm ein irritierendes Unbehagen.

Als sie Chicago endlich erreicht hatten, postierte sich der Polizei-Offizier unweit der beiden Sperren vor einer Säule und tat, als wolle er dort die Ankunftszeiten studieren.

Die Fahrgäste strömten auf den Perron, überfluteten ihn und zwängten sich durch die Sperren. Sieben Passagiere trugen einen karierten Mantel. Aber sie waren alle wenigstens doppelt so alt, wie der Mann, den Mrs. Tunney ihm beschrieben hatte.

Als sich der Bahnsteig endlich geleert hatte, lief er noch einmal durch den Zug und gab der Frau und dem Geistlichen schließlich das Zeichen.

Draußen in der Bahnhofshalle bat er sie in das Office der Bahnpolizei.

Hier gab Suzan Tunney noch einmal eine Schilderung des Überfalls, soweit sie sich überhaupt daran erinnern konnte.

Als Eliot Ness erfahren hatte, daß sie in ihrem Koffer noch eine kleine Brieftasche mit etwas Geld hatte, wußte er, daß sie ohne Hilfe nach Hause kommen konnte, und verabschiedete sich.

»Und vergessen Sie nicht«, sagte er draußen in der Halle noch zu ihr, »wenn Sie Rat oder Hilfe in der Sache brauchen sollten, rufen Sie nur diese Nummer an.«

Mit raschen Schritten verließ er die Bahnhofshalle und nahm ein Taxi, das ihn auf dem schnellsten Weg zum Oakwoods Cemetery brachte, zu jenem unfreundlichen Bau, in dem die Spezial-Abteilung des FBI untergebracht war.

*

Nachdem Richard Dillinger die Felder zwei Meilen weit durchquert hatte, erklomm er endlich die Böschung zur Landstraße.

Oben zischte gerade ein schwerer Laster vorüber. Es kamen mehrere Wagen von Nordosten herunter – und erst nach einer ganzen Weile wieder einer von Süden herauf. Ric winkte ihm, aber der Wagen fuhr vorüber. Ebenso zwei weitere. Dann hielt eine Limousine federnd am Straßenrand.

Ric lief hinter ihr her und wollte schon nach dem Türgriff greifen, als der Wagen plötzlich wieder anzog und weiterschoß. Offenbar hatte der Fahrer plötzlich die Angst gepackt, als er den Mann aus dem Dunkel kommen sah.

Der Verkehr erstarb um diese Nachtstunde meist bis etwa gegen drei Uhr am Morgen fast völlig. Dann wurde er sowohl von als auch nach der Millionenstadt Chicago wieder stärker, um sich zu einem ständig in beiden Richtungen fließenden Strom zu steigern.

Sieben Meilen hatte der Bandit zu gehen, bis er in der Ferne Licht aufblitzen sah.

Es war eine Garage, eine Tankstelle mit einem Wohntrakt.

Dillinger stahl sich vorsichtig heran und sah vor den Garagenschuppen einen alten Oldsmobile stehen. Er griff nach der Tür. Unverschlossen. Sogar der Schlüssel steckte!

Ein Leichtsinn ohnegleichen.

Dillinger drehte den Zündschlüssel vorsichtig nach rechts, ohne den Wagen anzulassen und warf einen raschen Blick auf die Benzinuhr.

Noch zu einem Drittel gefüllt.

Das mußte reichen.

Er drehte den Schlüssel mit einem Ruck weiter nach rechts. Hart sägte das Geräusch des Anlassers durch die Nacht. Der Stromkreis schloß sich, aber die Zündung funktionierte offensichtlich nicht.

Noch zweimal mußte er den Anlasser betätigen. Dann sprang der Wagen tuckernd an. Das Geräusch war so unsauber, daß Dillinger befürchtete, der Wagen könnte sich überhaupt nicht mehr von der Stelle bewegen. Möglicherweise ein Reparaturstück, das man über Nacht hier hatte stehenlassen. Aber als er dann den Gang eingeworfen hatte, fraß sich das Gas seine Bahn sauberer durch die Zylinderköpfe. Die Zündung funktionierte besser, und schließlich, als der Dieb in die Landstraße einbog und in den dritten Gang kam, rauschte der alte Motor voll und kräftig.

Mit Vollgas preschte der Bandit nordwärts der Stadt entgegen.

Sie hatten in der Garage nicht einmal das Geräusch des abfahrenden Wagens vernommen.

Die Spur des Bahnräubes war vollkommen verwischt. Der Regen, der im letzten Drittel der Nacht stärker fiel, richtete die Gräser draußen am Bahndamm, an dem der Bandit nach seinem Sprung aufgekommen war, wieder hoch und löschte auch auf dem Feldweg seine Fährte aus. An der Garage hatte ihn niemand bemerkt, und das einzige, was gesucht wurde, war der alte, klapprige Wagen, den Dillinger im Süden der Stadt in der Nähe des Summit Parks in einer Seitenstraße der Harlem Avenue stehenließ. Er ging zu Fuß über die Harlem Avenue nach Norden hinauf, passierte den Sanitary Canal und kam schließlich nach Stickney. Hier wohnte in der Nähe der Slums der 38. Straße sein Vetter Frank.

Es war eine graue Mietskaserne, elfgeschossig, düster, mit schmalen Fensterlöchern. Sie wirkte um diese Nachtstunde armselig und abstoßend.

Ric schob die Tür auf und verzog das Gesicht, als ihm der Geruch von Kohl, feuchtem Stein und Unsauberkeit entgegenschlug.

Frank wohnte auf der dritten Etage. Er hatte damals die Wohnung behalten können, die seine Eltern innegehabt hatten. Eine kleine, armselige Bleibe aus der Zeit der Jahrhundertwende.

Ric setzte den linken Zeigefinger auf die Klingel.

Er mußte dreimal klingeln, ehe er hinter den Milchglasscheiben Licht aufflammen sah. Ein schlurfender Schritt näherte sich der Tür.

»Wer ist denn da?« hörte er eine mürrische Männerstimme.

»He, Frank, bist du’s?«

Die Tür wurde geöffnet und von der Sperrkette wieder aufgefangen.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie um diese Zeit?«

»Mensch, Frank, ich bin’s, Ric.«

»Ric…?«

Da wischte sich Frank Dillinger durch sein blasses, faltiges Gesicht, schloß die Tür, zog die Kette zurück und öffnete dem Vetter.

Ric blickte in einen schmalen, düsteren Korridor und sah dann auf seinen Vetter.

Frank Dillinger war dreiunddreißig Jahre alt, nur mittelgroß, hatte eine schmale, leicht vornübergebeugte Gestalt und kurzgeschorenes schwarzes Haar.

»Mensch, Ric«, meinte er, während er seinen abgetragenen, verwaschenen grünen Bademantel am Hals zusammenhielt, »wo kommst du denn jetzt her?«

»Na, woher schon, aus dem Wilden Westen, du weißt es doch.«

»Aber was willst du denn hier?«

Richard nahm seine Zigaretten heraus, schob sich eine zwischen die Zähne und riß ein Zündholz unter der Schuhsolhe an; genauso wie man es drüben im Westen hielt.

Frank betrachtete ihn von oben bis unten und schüttelte den Kopf.

»Mensch, das ist wirklich eine Überraschung«, meinte er und grinste. »Komm mit«, sagte er dann, schlurfte auf seinen Pantinen voran, öffnete am Ende des Flures eine Tür und knipste das Licht in der Wohnstube an. Eine 25er Sparbirne.

Armseligkeit auch hier, genau wie daheim in St. Louis, dachte der Ankömmling und ließ sich in einen der drei abgeschabten Plüschsessel fallen.

»Verdammt, wie spät ist es denn?« meinte Frank und warf einen Blick auf die Wanduhr. Sie war stehengeblieben.

»Tja, ich muß sagen, ich bin wirklich überrascht.« Frank ließ sich nieder, erhob sich dann sofort wieder, ging zum Schrank und nahm eine Flasche mit Whisky heraus. Etwas Whisky besaß jeder Mann in dieser Stadt, auch der ärmste. Zu allen Zeiten.

»Ich denke, wir werden erst einmal einen Drink nehmen.«

»Nichts dagegen.«

Sie saßen zwei Stunden da und sprachen über die alten Zeiten, die sie eigentlich gar nicht miteinander erlebt hatten. Sie sprachen über unwichtige Dinge, und schließlich meinte Frank, den die Müdigkeit gewaltig gepackt hatte:

»Jetzt werde ich dir erst einmal ein Bett machen, und morgen früh sprechen wir weiter. Okay?«

Ric nickte, erhob sich und trat ans Fenster. Er war immer noch im Mantel, und unter dem linken Arm hielt er den Gegenstand eingeklemmt, den er im Zug von St. Louis nach Chicago erbeutet hatte: die krokodillederne Damenhandtasche.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-86377-374-8