Magischer

 

Tigerwald

 

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Anthologie

 

 

Alle Rechte, insbesondere auf digitale Vervielfältigung, vorbehalten.

Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit Zustimmung des Verlags möglich.

 

Die Handlungen sind frei erfunden.

Evtl. Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.

 

 

www.verlag-der-schatten.de

Erste Auflage 2019

© Coverbilder: depositphotos meenstockphoto@gmail.com, studioDG,

tomert

Covergestaltung: © Shadodex – Verlag der Schatten

© Bilder: Tiere: Raubtier- und Exotenasyl Ansbach/Wallersdorf

Depositphotos anekoho (Tiger gähnend), Kantapat (Tiger auf Stein im Wasser), vladvitek (zwei Tiger), JozefKlopacka (Tiger Illustration), seawhisper (Eichhörnchen), Larisa111 (Liliensee), Majorgaine (Landschaft mit Wasserfall), zacariasdamata (Mond und Wolken), Emdaduljs (Tiger im Mondschein), mppriv (Burg im Wald), elaelo (Pfotenabdrücke)

Eva Hausmann (Waldwächter),

Patricia Rieger (Waldkleeschratz, Basiliskenphönix),

Théodore Géricault (»Horse attacked by a lion«)

 

Lektorat: Shadodex – Verlag der Schatten

© Shadodex – Verlag der Schatten, Bettina Ickelsheimer-Förster, Ruhefeld 16/1, 74594 Kressberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-946381-63-1

Magischer

Tigerwald

 

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Anthologie mit Informationen über das Raubtier- und Exotenasyl

Ansbach/Wallersdorf

 

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Vorwort

von Bianca Zimmer

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

wir vom Raubtier- und Exotenasyl e.V. freuen uns sehr, dass du den Weg zum magischen Tigerwald gefunden hast. In dieser Anthologie findest du eine Sammlung von Geschichten mit unseren Bewohnern als Protagonisten. Dabei haben sich die Autorinnen viel Mühe gegeben, nahe an den Charakteren unserer Tiere zu bleiben. Hierbei ging aber die schriftstellerische Freiheit nicht verloren. Die Tiere können sprechen, ihre Gehege verlassen und dies und das entspricht auch manchmal nicht ihrem natürlichen Verhalten. Du wirst zum Beispiel feststellen, dass die Großkatzen unsere Frettchen und Affen nicht fressen.

Unsere Tiere wirst du im Folgenden kennenlernen – mit ein bisschen Magie versehen.

 

Aber wer sind wir – das Raubtier- und Exotenasyl?

Wir sind ein gemeinnütziger Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, illegal oder schlecht gehaltene Tiere (vor allem Großkatzen) bei uns aufzunehmen. Wir sind die letzte Chance für diese Tiere. Leider ist es viel schwerer, ein neues Zuhause für einen Tiger zu finden als für eine Hauskatze, weshalb wir bisher nur zwei Tiere vermitteln konnten. So ein Tiger frisst auch mehr als eine kleine Katze, weshalb wir im Monat circa neuntausend Euro für die laufenden Kosten (Futter, Tierarzt, Strom …) brauchen.

Das alles finanzieren wir über die Spenden tierlieber Menschen und Unterstützer. Zum Beispiel über Mitgliedschaften, Patenschaften, Veranstaltungen wie Fototage, Kindergeburtstage … Und auch du unterstützt uns gerade! Denn der Erlös aus dem Verkauf dieses Buches, das du gerade in den Händen hältst, geht direkt an unsere Tiere. Vielen Dank!

 

Und wenn du deine Lieblingscharaktere mal live erleben möchtest, geht das ganz einfach: Komm bei uns vorbei und wir stellen dir Boris, Anubis und Co. vor. Jeden ersten Sonntag im Monat ist geöffnet. Oder du rufst an und machst einen privaten Termin aus. Bis dahin wünschen wir alle dir viel Spaß beim Lesen!

 

Dein Team vom

Raubtier- und Exotenasyl & Bewohner

 

Weitere Informationen findet ihr

am Ende des E-Books.

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»Es ist ein magischer Ort, an dem einfach alles möglich ist.«

 

 

Seit einer Weile schon können die Tiere des Raubtier- und Exotenasyls Ansbach/Wallersdorf ihre Käfige verlassen und das angrenzende Wäldchen betreten.

Bis heute wussten ihre Pfleger nichts davon.

Jetzt werden sie es erfahren.

 

Und auch ihr werdet gleich lesen können, welche spannenden Abenteuer die Raubtiere dort erlebt haben.

Selbst der Waldwächter, der in Form eines kleinen, schillernden Tannenbaums dieses Waldgebiet beschützt, wird vorgestellt. Seit jeher verhindert er, dass Menschen jenes magische Fleckchen Erde betreten können. Manchmal macht er aber auch Ausnahmen …

 

Genau deshalb dürft ihr nun unserem Luchspärchen Anubis und Rokko folgen, die euch humorvoll durch die Anthologie leiten werden.

 

»Magischer Tigerwald« ist eine Kurzgeschichtensammlung, deren Erlöse dem Raubtier- und Exotenasyl Ansbach/Wallersdorf zugutekommen.

Sie enthält spannende, aber auch lustige Geschichten für die jüngere Leserschaft sowie Erzählungen in Erinnerung an die Pumadame Pünktchen und den Tigervater Tiger.

Anubis und Rokko stellen sich vor

 

Anubis: »Hallo! Ich bin Anubis

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Rokko: »Und ich bin Rokko

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Anubis: »Wir leben zusammen mit den Protagonisten der folgenden Geschichten im Raubtier- und Exotenasyl Ansbach/Wallersdorf.«

Rokko: »Ja, und wir werden euch durch die Anthologie führen, indem wir euch vor jeder Story noch ein bisschen was erzählen.«

Anubis: »Bevor wir damit aber beginnen, möchten wir euch den Waldwächter vorstellen, denn dieses schillernde Tannenbäumchen spielt eine große – wenn nicht sogar die zentrale – Rolle in dieser Kurzgeschichtensammlung.«

Rokko: »Genau! Ohne unseren Waldwächter wären die Autorinnen niemals auf all diese großartigen Ideen gekommen.«

Anubis: »Du sagst es, mein Lieber. Hier also das Geheimnis des Waldwächters für euch. Rokko, möchtest du?«

Rokko: »Aber gern, meine Liebe. … Seit jeher – also eigentlich seit Anbeginn der Zeit – herrscht der Waldwächter über das kleine Fleckchen Erde, das an unser Raubtierasyl grenzt. Er beschützt es und verhindert, dass Menschen diesen Wald betreten können, denn dieser kleine Forst ist etwas ganz Besonderes. Es ist ein magischer Ort, an dem einfach alles möglich ist.«

Anubis: »Richtig, alles ist möglich in diesem Wald.«

Rokko: »Was? … Ihr könnt euch das nicht vorstellen?«

Anubis: »Dann passt mal gut auf und lest die folgenden Geschichten. Ihr werdet bald merken, was wir meinen.«

Rokko: »Natürlich müssen wir hierzu das Geheimnis des magischen Waldes, den wir Tiere des Asyls ›Tigerwald‹ nennen, lüften. Aber ihr habt es einfach verdient, die Wahrheit zu erfahren.«

Anubis: »Viel Spaß beim Lesen wünschen euch Anubis …«

Rokko: »… und Rokko

Inhalt

 

Teil 1

 

»Vier auf Rettungsmission«

von Monika Grasl

 

»Das verschwundene Wasser«

von P. C. Thomas

 

»Spuren im Schnee«

von Heike Westendorf

 

»Der Schatz des Römers«

von Albertine Gaul

 

»Komm vom Schlafbaum«

von Rega Kerner

 

»Der Liliensee«

von Eva von Kalm

 

Teil 2 - In Erinnerung an Pünktchen und Tiger

 

»Auf dem Weg des Mutes«

von Sarah Drews

 

»Die Pumadame und das Sternenland«

von Margo Wendt

 

»Wieder zu Hause«

von Stefanie Guckes

 

»Arbolus«

von Eve Grass

 

»Tigermond«

von Julia Annina Jorges

 

»Feuerschlangenmond«

von Patricia Rieger

 

Bonus

 

»Der Burgherr im magischen Wald«

von Nora Olsen

 

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Teil

 

1

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Anubis: »In der ersten Geschichte ›Vier auf Rettungsmission‹ von Monika Grasl geht es um unser Schneeaffenmädchen Nala. Sie ist, nach einem Streit mit ihrem Gefährten Tayo, in den Wald geflüchtet. Tayo hat die Tigerin Kiara, die Polarfüchsin Finja und das Frettchen Berry – das mal wieder nicht weiß, worum es geht – mobilisiert, ihm bei der Suche zu helfen. Und das tun sie natürlich auch.«

 

Rokko: »Da wir ja wissen, dass es bei Tayo und Nala des Öfteren mal etwas lauter zugeht, wäre es weniger schlimm gewesen. Aber diesmal ist sie tatsächlich abgehauen und nicht mehr zurückgekommen. Da stimmte also etwas nicht. Wir waren leider nicht dabei, bei dieser Rettungsmission, aber ich kann mir gut vorstellen, wie es den vier Gefährten auf ihrer Suche nach Nala erging.«

 

Anubis: »Das stimmt. Wir hätten uns allerdings nie vorstellen können, auf wen oder was sie da im Wald trafen. Und ihr werdet sicher auch staunen, denn im magischen Wald ist nun einmal alles möglich. … Liebe Grüße an dieser Stelle übrigens an Gor, den ihr auch gleich kennenlernen werdet.«

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»Vier auf Rettungsmission«

von Monika Grasl

 

Meterhohe Bäume erstreckten sich rund um das Tigerweibchen Kiara, den Schneeaffen Tayo, die Polarfüchsin Finja und das Frettchen Berry. Letzterer genoss die Aussicht, da er auf Kiaras Kopf saß.

Der Herbstwind bauschte die Felle der Tiere auf. Tayo sah dadurch irgendwie ähnlich wuschelig aus wie Finjas buschiger Schwanz. Zudem verfingen sich einige bunte Blätter darin. Ein größeres Blatt traf Berry mitten im Gesicht. Es störte ihn nicht. Er lehnte sich einfach nach hinten, um es über sein Gesicht hinwegfliegen zu lassen. Dadurch verlor er aber das Gleichgewicht, sodass er vom Kopf der Tigerin auf deren Rücken rollte.

»Was treibst du da oben, Berry?«, murrte Kiara und schüttelte den Kopf.

Das graubraune Frettchen mit dem dunklen Streifen über den Augen kletterte zurück auf ihren Kopf, während es erwiderte: »Gar nichts.«

 

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Die kleinen Krallen schlugen sich fester in das Fell, um nicht erneut auf dem Rücken der Tigerin zu landen.

»Sollen wir wirklich weitergehen?«, fragte Tayo indes mit einem Anflug von Furcht in der Stimme.

Kiara stieß ein Knurren aus, ehe sie erwiderte: »Wir haben das Raubtier- und Exotenasyl nicht grundlos verlassen, Tayo. Du hast mich um Hilfe gebeten, und ich habe sie dir versprochen. Außerdem haben wir den Waldwächter von unserem Vorhaben überzeugen können. Ich sage: Wir gehen weiter! Umkehren kommt nicht infrage.«

Finja nickte, ebenso wie Berry.

Für das Frettchen war das alles ein großes Abenteuer, egal, wo es hinging. Hauptsache er kam ab und zu von seiner Gruppe fort. Die liebte er zwar, aber es gab Tage, da war ihm der bunte Haufen Frettchen einfach zu viel. Und da diese Mission von äußerster Wichtigkeit war, wollte er einfach dabei sein.

Wie gut, dass Nala es mit einem kleinen Trick immer wieder schaffte, an den Generalschlüssel für die Türen zu kommen. Seitdem büxten sie regelmäßig aus ihren Gehegen aus und genossen die Freiheit innerhalb des Geländes, wenn niemand da war.

Tayo schielte zurück zur Baumgrenze. Irgendwo da zwischen den Stämmen musste sie sein. Dort, wo der schmale Lichtstreifen auszumachen war, befand sich das Raubtier- und Exotenasyl.

»Willst du zurück?«, fragte ihn Berry, während er sich mit der Pfote die Schnauze putzte.

Deutlich war Tayo die Unsicherheit ins Gesicht geschrieben. Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Nein.«

»Dann auf, Kiara. Los!«, rief Berry voller Begeisterung.

Die Tigerin aber bewegte sich keine Pfotenbreite von der Stelle. Das veranlasste Berry dazu, sich vorzulehnen, bis er Kiara verkehrt herum in die bernsteinfarbenen Augen blicken konnte.

»Nicht los?«, fragte er nach.

Kiara hob die Pranke und scheuchte Berry von ihrem Kopf herunter. Das Frettchen rettete sich flink auf einen Stein, streckte der Tigerin beleidigt die Zunge entgegen und putzte sich neuerlich das Gesicht.

»Albern bis ins Letzte«, hörte er Finja murmeln.

Die nahezu weiße Polarfüchsin marschierte ebenso an ihm vorbei wie Kiara und letztlich Tayo. Berry hoffte darauf, dass sie auf ihn warten würden. Doch als er daran dachte, was der kleine, schillernde Tannenbaum vor dem Betreten des Waldes gesagt hatte, rannte er flink der Truppe hinterher. Sie durften sich nämlich keinesfalls trennen.

Das Laub raschelte, bedingt durch die Schritte der vier. Von Zeit zu Zeit stieß Tayo einen Ruf aus und verfiel gleich darauf in Schweigen. Es machte auf Berry den Eindruck, als würde Tayo auf eine Antwort warten. Vielleicht bildete er es sich nur ein, doch auch Kiara und Finja verharrten immer wieder und bewegten die Ohren.

Als er sich vorhin der Truppe angeschlossen hatte, war ihm nicht in den Sinn gekommen, nach dem Grund für diese Wanderschaft zu fragen. Sollte er es vielleicht mal ansprechen?

Ehe sich die Gelegenheit dazu ergab, knackte es über ihren Köpfen. Tayo war an einem Baumstamm nach oben geklettert und verschwand gerade in dem Gewirr aus Ästen. Kiara und Finja blickten voller Erwartung hinauf. Berry hingegen setzte sich auf einen Stein und kratzte sich den Bauch.

»Nichts!«, erschallte wenige Herzschläge später Tayos Ruf von oben herab.

»Mist«, murmelte Finja und schüttelte das Fell. »Ich hatte gehofft, wir finden sie eher.«

Berry sah die Gelegenheit gekommen und fragte: »Finden? Wen denn?«

Zwei Augenpaare wandten sich ihm zu. Kiara sagte nichts, während Finja erwiderte: »Du weißt doch, warum wir hier sind, Berry

»Sollte ich?«

»Wir haben es doch dem Waldwächter gesagt.«

»Haben wir?« Berry konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Zugegeben, er war durch die Schnecken abgelenkt gewesen, die sich unendlich langsam über den Waldboden geschoben hatten. Außerdem hatte Kiara vor dem schillernden Tannenbaum so viel gesprochen, dass er allein vom Klang ihrer Stimme beinahe eingeschlafen wäre.

»Hörst du überhaupt mal zu?«, murrte die Tigerin.

Berry fuhr zusammen und blinzelte, wobei er den Kopf schüttelte.

»Das merkt man«, entgegnete Kiara. »Ist dir vielleicht auch entgangen, dass Nala und Tayo gestern einen Riesenzirkus aufgeführt haben?«

»Ach, bei denen ist es doch ständig laut«, hielt Berry dagegen. Aber jetzt, da sie es ansprach … Heute Morgen hatte Berry Nala nicht gesehen, dabei ließ sie keine Gelegenheit aus, sich mit ihm zu unterhalten und über dieses oder jenes Frettchen zu lästern.

»Mag ja sein«, gab die Tigerin zurück. »Aber seit gestern Abend ist Nala verschwunden. Tayo sah sie in den Wald laufen. Und du hast den Wächter gehört: Niemand sollte hier allein unterwegs sein. Genau darum sind wir hier, damit Tayo nicht allein ist und wir Nala finden.«

»Also ist das eine Rettungsmission für Nala«, stellte Berry geistreich fest.

»Jetzt hat er es begriffen«, murmelte Finja und schielte zur Baumkrone hoch. Tayo brach eben daraus hervor. Sein Atem ging hektisch. »Hast du etwas gesehen?«, fragte die Polarfüchsin sofort.

»Nein, aber ich habe Geräusche vernommen. Vielleicht ist es ja Nala, die ängstlich irgendwo in einem Baum sitzt.«

»Dann solltest du oben weitersuchen und wir unten«, schlug Kiara vor.

»Und die Worte des Waldwächters?«, fragte Berry.

»Was soll damit sein?«, wollte die Tigerin wissen.

»Er sagte, wir sollen uns nicht trennen.«

»Berry hat nicht unrecht«, warf Finja ein.

Kiara begann unruhig über den Boden zu trotten. Erst nach einer Weile hielt sie inne und erklärte: »Wenn Tayo Berry mit nach oben nimmt, dann trennen wir uns ja nicht.«

»Au ja!«, rief Berry sogleich begeistert. Das hörte sich ganz nach Spaß an.

Tayo nickte und griff bereits nach ihm. In der nächsten Sekunde stürmte der Schneeaffe den Baumstamm erneut hoch.

»Lass Berry nur bitte nicht fallen!«, hörten sie Kiara noch rufen, bevor sie sich zusammen von Baum zu Baum, von Ast zu Ast schwangen.

Berry krallte sich in das graue Fell des Schneeaffen. Bei jedem neuerlichen Sprung jauchzte er begeistert und verfiel in ein anhaltendes Lachen. So konnten die beiden am Boden sie auch nicht überhören.

»Sei still, Berry. Ich höre sonst nichts außer deinem Geschrei«, wies Tayo ihn irgendwann zurecht.

Ja, beinahe hätte er vergessen, worum es hier ging. Sie suchten nach Nala!

»Warum hattest du denn Streit mit ihr?«, fragte er plötzlich.

Tayo setzte bereits zum nächsten Sprung an und griff zielsicher nach einem Ast, als er antwortete: »Das geht dich nichts an, Berry

Betrübt, dass der Schneeaffe ihm nicht vertraute, ließ er den kleinen Kopf hängen und ersparte Tayo und sich den nächsten Freudenschrei.

Nala sprach mit ihm stets über alles. Sie schätzte zudem seine Scherze und sein offenes Wesen. Berry war schließlich niemand, der sich vor irgendwem versteckte. Na gut, einzig bei Igor ließ er den Scherzbold nicht allzu offen raushängen. Das hing aber damit zusammen, dass der Tiger überhaupt nicht über seine Witze lachen wollte.

»Du kannst es mir durchaus erzählen«, bot Berry leise an.

»Nicht jetzt«, wisperte Tayo und verharrte auf einem Ast.

Berry bemerkte, dass der Schneeaffe etwas in unmittelbarer Nähe entdeckt haben musste, denn Tayo starrte gebannt auf einen Punkt zwischen dem Blattwerk.

»Siehst du was?«, fragte er leise nach.

Ein Zischen kam über Tayos Lippen, und Berry ließ sich aus dem Fell des Kumpels fallen. Leider hatte er vergessen, wo er war, und landete nicht wie sonst sogleich auf seinen Pfoten, sondern verfehlte den Ast, auf welchem Tayo saß. Seine Krallen schrammten über die Baumrinde hinweg. Der Hilferuf blieb ihm im Hals stecken. Über sich vernahm er Tayos entsetztes Kreischen, während sein Fall an Geschwindigkeit zulegte. An jedem Ast versuchte er sich festzukrallen, aber die Schwerkraft zog ihn unaufhaltsam hinab. Der Erdboden raste auf ihn zu. Ihm wurde bewusst, dass es keine Rettung für ihn gab, und er schloss die Augen.

Da endete sein Fall abrupt.

Zuerst traute er sich nicht, die Augen zu öffnen, aber er spürte, dass er auf einem knorrigen Untergrund lag, und er vernahm ganz deutlich ein Ächzen. Da Berry von Natur aus ein neugieriges Tierchen war, blinzelte er nun doch und starrte plötzlich in ein runzeliges Baumrindengesicht. Zwei grüne Augen betrachteten ihn. Zudem sah er eine knubbelige Nase und einen breiten Mund, der sich jetzt öffnete.

Fasziniert verfolgte Berry, wie eine Taube dort herausflog. Im Inneren des Baumes erblickte er ein unfertiges Nest.

»Wer bist denn du?«, fragte Berry.

»Hmmmm, mir scheint, ich sollte dies fragen«, kam es mit tiefer Stimme zurück. »Wer bist du, hmmmm?«

»Ich bin Berry. Und jetzt du.« Seine Furcht war wie weggewischt. Würde ihm sein Gegenüber ein Leid antun wollen, hätte er ihn nicht vor dem Aufprall auf den Boden bewahrt.

»Mein Name ist Gor.«

»Gor? Das ist ja ein seltsamer Name.«

Statt etwas darauf zu sagen, bewegte sich der Baum von einer Seite zur anderen.

Berry lauschte auf das entstehende Geräusch und fing ein beständiges »Gor« bei jeder Regung auf. »Ah, na das erklärt alles.«

Da Gor harmlos zu sein schien, lief Berry auf der knorrigen Handfläche des Baumes herum, zwischen deren Astfinger einige bunte Blätter hervorschielten. Die Herbstluft fegte hier nicht ganz so stark durch sein glattes Fell wie in den Baumkronen.

»Berry!«, erschallte da Tayos Stimme plötzlich von oben.

»Ist das ein Freund von dir?«, fragte Gor und stieß ein Ächzen aus.

»Ja. Wir sind auf der Suche nach einer von uns.«

»Und was bist du?«

Berry setzte sich auf die Hinterbeine, rümpfte das Näschen und antwortete: »Das sieht man doch. Ich bin ein Frettchen. Und wenn wir schon dabei sind … Du bist ein Baum. Warum kannst du reden?«

»Ihr habt doch den kleinen, schillernden Tannenbaum getroffen, nicht wahr?«, fragte Gor.

»Ja und?«

»Nun, wir Bäume hier können alle sprechen. Sogar das Wasser vermag es.«

»Das Wasser spricht?«, wunderte sich Berry.

»Natürlich. Das ist ein magischer Wald. Wieso sonst sollte ich dich verstehen, kleines Frettchen. Aber du bist der Erste deiner Art, der mir hier begegnet.«

In Gors Blattwerk raschelte es. Zur gleichen Zeit tauchte die Taube mit einem dünnen Zweig im Schnabel wieder auf. Gor öffnete den Mund und ließ den Vogel hineinfliegen. Berry schielte indes hoch.

Tayos rosafarbenes Gesicht schaute jäh durch das Laub. Der Schneeaffe hatte ihn also nicht zurückgelassen.

»Berry, geht es dir gu…?« Tayo brach ab, als er sich auf die Asthand zu Berry schwang und in das Gesicht des Baumes starrte.

»Das ist Gor«, stellte Berry den Laubbaum vor. Und an Gor gewandt sagte er: »Das ist Tayo

Gor neigte langsam und unter einem beständigen »Gor« den Kopf zur Seite, bis aus seinem Inneren ein protestierender Laut ertönte. Die Taube war mit der Bewegung eindeutig nicht einverstanden.

»Gor ist ein magischer Baum«, klärte Berry den Schneeaffen auf. »Genauso wie der kleine, schillernde Tannenbaum. Und Gor sagt, dass sogar das Wasser in diesem Wald spricht.«

»Das ist sehr schön, Berry, aber wir müssen weiter«, drängte Tayo.

»Vielleicht kann Gor uns ja bei der Suche helfen. … Das kannst du doch, oder?«, fragte er an den Baum gewandt, der noch immer damit beschäftigt war, Tayo abschätzend anzuschauen.

»So einen wie dich habe ich hier schon gesehen«, murmelte Gor und stieß gleich darauf ein Ächzen aus. Sein zweiter Astarm hob sich und deutete tiefer in den Wald hinein.

Tayo begann bei den Worten aufgeregt auf der knorrigen Handfläche zu hüpfen. »Wirklich? Wann?«

»Heute Morgen. Lief tiefer in den Wald hinein. Und dann hoch in die Baumkronen. Hat dabei sehr geschimpft. Ich glaube sogar, dass dein Name ein paarmal gefallen ist.«

»Da hast du aber ordentlich was angestellt, Tayo«, grinste Berry.

»Kannst du uns dorthin bringen?«, bat der Schneeaffe. »Ich muss mit Nala sprechen und mich entschuldigen.«

»Ui, so schlimm?« Berry konnte sich die Frage nicht verkneifen.

»Jetzt sei endlich still, Berry«, murrte Tayo, während er weiterhin den Baum anblickte.

Die grünen Augen blinzelten einige Male, ehe der Baum nickte. Aus seinem Inneren ertönte neuerlich Protest. Gor ignorierte den Laut, denn etwas anderes hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Der Kopf neigte sich jäh tiefer hinab. »Was kratzt da so heftig an mir?«

Die Frage stimmte Berry neugierig. Er huschte an den Rand der knorrigen Handfläche und kniff die Lider zusammen, um besser sehen zu können. Keine Sekunde später riss er sie erstaunt auf.

»Sag mal, ist das Kiara?«, ertönte es neben ihm.

Tayo konnte also auch nicht glauben, was er sah.

Kiara kletterte an Gor hoch, während Finja seine Wurzeln anfauchte.

»Glaubst du, die wollen uns retten?«, fragte Berry.

»Ich würde eher sagen, Kiara sucht eine bessere Aussicht und Finja ist erschrocken, weil Gor sich bewegte«, vermutete Tayo.

»Ich glaube trotzdem, sie wollen uns retten.«

Tayo stieß ein Seufzen aus, bevor er nach unten rief: »Kiara, warte, wir kommen runter!«

»Tayo?«, brüllte die Tigerin.

»Ja, klettere wieder hin…«

»Zu spät«, unterbrach Berry den Schneeaffen.

Von ihrem Platz aus verfolgten sie, wie Gor die Tigerin im Nacken packte und in die Höhe hielt. Eingehend betrachtete der Baum sie.

»Tu ihr nichts, Gor!«, rief Berry. »Sie ist unsere Freundin!«

»Sie hat aber heftig an meiner Rinde gekratzt«, beschwerte sich Gor.

»Das macht die immer und bei allem, was irgendwie verpackt ist«, erwiderte Berry schnell.

»Hmmmm, na gut.« Gor setzte die Tigerin neben Finja auf den Erdboden. Unmittelbar darauf senkte er auch die andere Hand. Berry und Tayo kletterten hinunter, wobei Berry sich sogleich flink auf Kiaras Kopf schwang.

Diesmal gab die Tigerin ein erfreutes Schnurren von sich.

»Ich wusste doch, dass du mich lieb hast.« Berry konnte sich den Kommentar einfach nicht verkneifen und tätschelte ihr Haupt.

»Nicht übertreiben, Berry. Außerdem, wer ist denn dein neuer Freund da?«

»Das ist Gor. Er weiß vielleicht, wo sich Nala aufhält.«

»Tatsächlich? Dann sollte er uns hinbringen«, sagte Finja, die es aufgegeben hatte, seine Wurzeln anzufauchen.

»Kannst du das?«, fragte Berry und sah zu dem Baum hoch.

»Hmmmm, nun gut. Kommt mit!«

Gemeinsam trottete die bunte Truppe durch den Wald. Die Bäume standen immer dichter, je weiter sie gingen. Nebel hüllte die Tiere und Gor irgendwann ein. Berry klammerte sich in das orangene, mit schwarzen Steifen durchzogene Fell der Tigerin, die von Zeit zu Zeit den mächtigen Kopf schüttelte. Hier und da drang Vogelgezwitscher durch den Dunst. Aufgeregtes Vogelgezwitscher und ein beständiges Ächzen.

»Ihr habt euch einen schönen Tag für euer Vorhaben ausgesucht«, durchbrach Gor die Stille unter ihnen.

»Weshalb sagst du das?«

»Es ist das alljährliche Nesten. An diesem Tag suchen sich die Vögel des Waldes ihre Brutplätze für den kommenden Frühling. Je aufgeregter die Vögel werden, umso näher werden wir eurer Freundin sein. Sie mögen bei solcherlei Arbeit keine Störung.«

Ein Klopfen aus Gors Innerstem ließ diesen den Mund ganz weit öffnen. Er gab damit die Taube frei, die aufgeregt vor ihm herumflatterte. Berry konnte sich nicht helfen. Der Anblick erinnerte ihn an den Streit eines alten Ehepaars. Und das brachte ihn zum Lachen.

»Was ist so lustig, kleines Frettchen?«, wollte Gor wissen.

»Ach nichts«, winkte Berry schnell ab und fragte stattdessen im nächsten Moment: »Du, Gor, warum soll man den Wald eigentlich nicht allein betreten?«

»Hat der Waldwächter euch das nicht erzählt?«

Unwissend zuckte Berry mit den Schultern, während die anderen die Köpfe schüttelten.

»Hmmmm, soll ich es euch sagen? Ich denke, es kann nicht schaden«, murmelte der Baum. »Nun, meistens sind die Tiere, die diesen Wald allein betreten, von Traurigkeit erfüllt, weil sie niemand mag, sie nirgends dazugehören und deshalb einsam sind. Das stimmt auch uns Bäume traurig. Wir fangen dann an zu weinen, und der Wind trägt unser leises Klagen hinaus aus dem Wald. Wenn sich die Geräusche treffen, blitzt es auf und unser Weinen wird zum Donnergrollen.«

»Also seid ihr für Blitz und Donner verantwortlich? Das ist ja krass!«, sagte Kiara.

»So ist es«, bestätigte Gor. »Und damit es nicht jeden Tag blitzt und donnert, gilt das Gesetz: Betretet den Wald gemeinsam und verlasst ihn auch wieder gemeinsam. Der Wächter wird niemanden am Verlassen des Waldes hindern, aber er wird seine Missbilligung mit einem heftigen Sturm deutlich machen, wenn jemand zurückbleibt oder keiner nach demjenigen sucht.«

»Dann ist es ja gut, dass wir Nala finden wollen«, murmelte Finja.

»Eurer Freundin geht es übrigens prima. Ich kann das Bächlein, an dem sie sitzt, bereits lachen hören«, erwiderte Gor.

»Wirklich?«, fragte Berry nach und spitzte die Ohren.

Ein beständiges Rauschen drang an seine Lauscher. Kiaras Ohren bewegten sich ebenso unablässig wie Finjas, um einen Laut einzufangen. Tayo hingegen war seit dem Aufbruch in ein anhaltendes Schweigen verfallen.

»Da ist was«, rief Berry plötzlich erfreut.

Es klang tatsächlich wie Gelächter. Ein Kreischen mischte sich dazu, welches sofort Tayos Aufmerksamkeit erweckte. Bisher am Ende des Zuges trottend drängte er sich nun nach vorn und verharrte auf der Stelle.

»Das ist sie! Das ist Nala!« Das Schneeaffenmännchen stieß sogleich einen hohen Laut aus.

Unverhofft verstummten die Geräusche in der Ferne, bis ein ebenso hoher Ruf antwortete.

Tayo rannte los. Kiara und Finja folgten ihm, während Gor gemächlich hinter ihnen herschlich, bis sie eine unebene Lichtung erreichten.

»Hey, der da sieht genauso aus wie du«, ertönte es just von dort.

Kiara blieb stehen und sah sich nach allen Seiten um. Nala war nirgends zu sehen. Und es war auch nicht ihre Stimme.

Berry aber ahnte bereits, wer der Sprecher war, und deutete zu dem Bächlein, das einen Hügel hinabfloss. »Gor hat gesagt, dass das Wasser reden kann.«

»Das Wasser?«, wunderte sich Finja.

Bekräftigend nickte Berry. »Alles hier kann sprechen.«

»Hmmmm, der Waldwächter hat diesem Bach das Sprechen beigebracht«, meldete sich Gor zu Wort. »Da wir sein Wasser trinken, lernten auch wir einst die Sprache kennen. So musste der Wächter nicht jeden einzelnen Baum unterrichten. Selten erlebt man das Bächlein übrigens schlecht gelaunt. Am liebsten fließt es den ganzen Tag vor sich hin und singt Lieder, mit denen es die Vögel erfreut.«

»Was für ein sonderbarer Ort«, flüsterte Finja.

»Nun, alles hier erscheint einem Fremden sonderbar.«

Keiner von ihnen erwiderte etwas auf Gors Worte, da sie endlich Nala gefunden hatten. Sie hatte sich auf einen Laubbaum zurückgezogen.

Unbeeindruckt von Tayos Gegenwart untersuchte sie ihr Fell und würdigte das Schneeaffenmännchen keines Blickes.

»Nala, wir wollen dich nach Hause holen«, sagte Finja. »Schau, Tayo ist auch hier. Er hat sich Sorgen um dich gemacht.«

»Mir geht es gut«, erwiderte Nala und blickte nun doch auf. Dabei sah sie jeden von ihnen an, bis auf Tayo.

»Wir haben doch darüber gesprochen, kleines Schneeaffenmädchen«, mischte sich der Bach mit einem rauschenden Laut ein. »Du musst ihm schon sagen, was dich stört.«

Obwohl Gor unmöglich wissen konnte, worum es bei dem Streit gegangen war, verfolgte Berry, wie der Baum nickte.

»Das ist das Wichtigste überhaupt: Dass man offen sagen kann, was einem nicht passt, hmmmm.«

Tayo schwang sich zu Nala auf den Ast. Die Schneeaffendame wich auf einen höheren aus und musterte ihn dann von oben herab.

»Nala, ich …« Das Affenmännchen unterbrach sich schnell selbst, schielte zu den anderen und sagte: »Wir müssen allein reden.«

Kiara nickte sogleich verständnisvoll. »Wir warten dann da drüben.«

»Und wie sollen wir dann wissen, worum es bei dem Streit ging?«, beschwerte sich Berry. Aber Kiara trat mit Finja und Gor schon etwas von den beiden weg.

»Ich möchte dir danken, Gor«, sprach die Tigerin jäh. »Du hast uns zu Nala gebracht.«

»Hmmmm, nun, es freut mich, wenn Freunde wieder zusammenfinden. Ihr scheint mir überhaupt eine bunte und lustige Truppe zu sein. Vor allem er«, erwiderte Gor und deutete auf Berry.

»Ja, er ist eben Berry«, antwortete Kiara. »Und er …«

»Das war aber meine Banane!«, kreischte Nala plötzlich und unterbrach damit Kiaras Rede.

Verwundert drehte Berry sich zu den Schneeaffen um. Von Kiaras und Finjas Seite vernahm er ein einhelliges Seufzen. Die hatten demnach gewusst, worum es bei dem Streit gegangen war. Kein Wunder, dass Tayo darüber nicht hatte reden wollen.

»Der ganze Ärger wegen einer Banane? Ich fasse es nicht«, murmelte Berry.

»Du sollst doch nicht lauschen!«, fauchte die Tigerin.

»Als ob man da weghören könnte«, erwiderte er, sprang von Kiaras Kopf und auf die beiden Streitaffen zu. Er konnte nicht mehr anders und musste sich jetzt einmischen.

In der Zwischenzeit fragte Finja neugierig an Gor gewandt: »Redet ihr mit den Menschen eigentlich auch?«

»Menschen kommen nicht in diesen Wald«, antwortete Gor und schaukelte seine Krone hin und her.

»Wieso nicht?«, wollte Kiara wissen.

»Hmmmm«, brummte Gor. »Die Menschen können diesen magischen Wald nicht betreten. Der Waldwächter gewährt nämlich in der Regel nur Tieren den Einlass. Ihr könnt übrigens gern jederzeit wiederkommen. Aber bitte nicht allein.«

»Das werden wir machen«, rief Berry plötzlich von hinten, sprang an dem lebenden Baum vorbei und zurück auf Kiaras Kopf. »Mach’s gut, Gor, wir werden jetzt aufbrechen. Nala hat sich wieder beruhigt. Also, auf nach Hause!« Die anderen werden staunen, wenn wir ihnen von dir erzählen.« Er ließ sich auf den Hintern fallen, krallte sich in das kurze Kopffell der Tigerin und rief: »Los, Kiara

Kiara stieß ein leises Knurren aus. Berry rechnete schon damit, dass sie ihn gleich wieder von ihrem Kopf fegen würde, doch es kam anders. Die Tigerin setzte zum Sprung an und rannte los, dicht gefolgt von Finja und hinter ihnen die beiden Schneeaffen.

Ein Blick über die Schulter genügte, um Gor neben dem rauschenden Bach auszumachen. Der Laubbaum winkte ihnen zum Abschied zu und bog sich dabei von einer Seite zur anderen. Berry erwiderte die Geste für einen kurzen Moment. Im nächsten Augenblick jauchzte er begeistert, als Kiara über einen Baumstamm sprang, obwohl er einige Mühe hatte, sich im Fell der Tigerin zu halten. Doch sie würde ihn nicht verlieren. Und wenn, dann würde sie ihn bestimmt nicht vergessen und hier im Wald zurücklassen. Nein, er hatte nämlich etwas, das jeder brauchte: Freunde, die füreinander da waren und einander nicht im Stich ließen.

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Rokko: »In ›Das verschwundene Wasser‹ von P. C. Thomas geht es um … Nein, das darf ich gar nicht sagen, sonst verrate ich schon zu viel. … Obwohl, ich kann natürlich sagen, dass irgendjemand das Wasser, das durch den magischen Wald fließt, gestohlen hat. … Ihr fragt euch, wie man Wasser stehlen kann? Oh, das ist durchaus möglich. Ihr werdet es im Laufe der Geschichte erfahren.«

 

Anubis: »So ist es. Man kann das Wasser aus einem Bach nämlich nicht so einfach in Eimern wegtragen. Das weiß auch das Eichhörnchen, auf welches unsere Protagonisten im Wald treffen. Wie denn auch, es fließt ja immer wieder nach. Das wäre also etwas zu simpel. Wie kommt es aber dann, dass das Wasser plötzlich weg ist, der Bach austrocknet und die Pflanzen und Tiere nichts mehr zu trinken haben? Kann man Wasser wirklich stehlen? Weißt du es,

Rokko?«

 

Rokko: »Keine Ahnung, ich habe aber die Befürchtung, dass es bei dem Verschwinden des Wassers nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Irgendetwas muss doch dafür verantwortlich sein. Nur wer oder was? Denn dass irgendwer den Bach leergesoffen hat, kann ich kaum glauben.«

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»Das verschwundene Wasser«

von P. C. Thomas

 

»Offen«, sagte Kalaharia. Sie war eine hübsche Wüstenluchsdame mit dem hellen Pelz und den riesigen Ohren.

Vorsichtig stieß sie mit der Schnauze gegen die Gittertür ihres Käfigs. Tatsächlich! Die Tür schwang lautlos auf.

»Das habe ich dir doch gesagt.« Polarfüchsin Finja schmunzelte. »Schließlich stehe ich bereits vor deinem Käfig.«

Kalaharia trat ins Freie. Sie war neugierig auf die Welt außerhalb ihres Geheges, aber sie hatte auch etwas Angst. Bisher war sie noch nie draußen gewesen.

»Nun kommt schon, Mädels, ich möchte den Wald erkunden«, meldete sich Rotfuchs Leo ungeduldig zu Wort. »Ich spüre, dass ich dorthin gehöre.«

Die drei Freunde machten sich auf den Weg. Ein paar Meter von ihnen entfernt sahen sie die fünf Tiger, die ebenfalls im Raubtier- und Exotenasyl lebten. Gerade verschwanden sie zwischen den Bäumen.

»Wir sind anscheinend nicht die Einzigen, die heute frei herumlaufen dürfen«, stellte Leo fest.

Nach wenigen Schritten erreichten auch sie den Waldrand.

»Halt!«, befahl eine Stimme. Ein kleiner Tannenbaum erschien plötzlich wie aus dem Nichts am Wegesrand. Er leuchtete und funkelte in den verschiedensten Farben.

Die Füchse sprangen mit einem Aufschrei einen Schritt zurück. Kalaharia versteckte sich hinter einem Strauch mit rosafarbenen Blüten. Vorsichtig blickte sie um die Ecke.

»Keine Angst, ich tu euch nichts«, sprach der kleine Baum. »Ich bin der Wächter. Seit vielen tausend Jahren bewache und beschütze ich diesen Wald. Kein Unbefugter darf ihn betreten.« Bekümmert neigte das Tannenbäumchen seine Spitze. »Ich will aber ehrlich zu euch sein. Seit einigen Wochen geschehen seltsame Dinge in meinem Wald. Der Bach führt kein Wasser mehr, der See trocknet immer mehr aus. Ich habe drei fliegende Berater, die täglich für mich in der gesamten Umgebung unterwegs sind. Sie sagten, dass die Tiere fliehen, weil sie durstig sind. Das letzte Mal waren sie jedoch vor drei Tagen bei mir. Wir Bäume können uns zwar etwas bewegen, aber den Wald nicht verlassen. Wenn nicht bald jemand herausfindet, was mit dem Wasser geschehen ist, wird es uns in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Ihr zwei seid Füchse. Man sagt euch nach, dass ihr sehr schlau seid. Vielleicht könnt ihr aufdecken, was mit unserem Wasser geschehen ist, und es für uns zurückholen. Wir brauchen dringend eure Hilfe. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass eure Käfige und Gehege geöffnet werden.«

»Ich hoffe nur, niemand bemerkt, dass wir draußen sind. Das gäbe sicher Ärger«, sagte Finja besorgt.

»Das wird nicht passieren«, beruhigte das Tannenbäumchen sie. »Ich habe auch dafür gesorgt, dass eure Pfleger nichts bemerken. Wenn es euch gelingt, uns zu retten, verspreche ich euch aber, dass ihr in Zukunft häufiger unbemerkt den Wald besuchen könnt.«

Leo