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Wilhelm König

Näher zum Himmel oder Fall Karl Simpel

Schwäbischer Landroman

Saga

Narrenweisheit

 

Man zog einmal aus in einen Krieg mit großen Büchsen und mit viel Gewehren, wie denn Sitte ist. Da stand ein Narr da und fragte, was Lebens das wäre. Man antwortete, man ziehe in den Krieg. Der Narr fragte weiter: »Was tut man im Krieg?« »Man verbrennt Dörfer und gewinnt Städte und verdirbt Wein und Korn und schlägt einander tot.« Darauf der Narr:» Warum geschieht das?« »Daß man Frieden mache!« Da sagte der Narr: »Es wäre besser, man machte vorher Frieden, damit selbiger Schaden vermieden bliebe. Ich bin witziger, als eure Herren sind; ginge es nach mir, so wollt ich vor dem Schaden Frieden machen und nicht danach, so der Schaden geschehen ist.«

 

Alter Schwank

 

»Heil«

 

Es scheint, daß es auch Schicksal der Deutschen ist, durch die Jahrtausende als Barbaren gebrandmarkt zu werden . . . Seien wir uns aber darüber klar, daß wir durch die Jahrhunderte selbst Schuld daran tragen, daß uns unsere Feinde gar zu gern Barbaren nennen.

 

Jörg Lechler »5000 Jahre Deutschland«, Germanisches Leben in 700 Bildern, Curt Kabitzsch Verlag Leipzig, 1937.

I.

Ernte

Obwohl ich das besonders mag – die Bäume in Blüte (vor allem die Kirschblüten; dann Äpfel und Birnen): mehr aber wie an den Frühling, erinnere ich mich doch an den Herbst mit der Ernte: die vollen Grätten auf den Wägen, und auch die Kühe sehe ich leibhaftig vor mir – wie sie die Wägen ziehen mit den Körben, dem Heu oder dem Stroh drauf; wie sie im Heuet eingespannt sind, mit den Schwänzen schlagen und mit den Schnauzen auf dem Boden herumfahren; wie sie immer wieder den Schwanz heben und eine Krattel machen. Das war ihre ganze Arbeit. Und ziehen natürlich. Und Milch geben. Die konnten nie einfach weglaufen im Heuet oder beim Akkern wie wir Kinder, mal in eine fremde Wiese hinein und dort Äpfel und Kirschen geholt: die schmeckten doch viel besser wie die eigenen!

So war es damals und wird es in meinem Hirn auch immer so bleiben.

Freilich das Schaffen auf dem Feld war nicht immer angenehm, und manchmal hatte man auch keine Lust, wollte was anderes machen oder nur rumstrielen und etwas anstellen. Das ging schon meiner Mutter so. Die wartete auf den Regen, aber auf so einen, daß man heim mußte oder gar nicht erst raus konnte. Dadrüber hatte sie sogar ein Gedicht gemacht, das sie mir einmal vorgelesen hatte, ich habe es behalten, wie so vieles andere auch, ohne zu wissen warum. Das Gedicht lautete:

Der Regen

Ich freute mich schon als Kind darauf

wir durften dann aufhören

auf dem Acker zu arbeiten

aber vom Regen bekam auch die Erde

mit Pflanzen ihre Nahrung

Das Schönste am Regen war aber das Unterstellen, und wenn die Regentropfen auf das Dach – möglichst Blechdach – über einem hauten! Dann wünschte man sich kein anderes Wetter mehr. Und keinen anderen Ort.

Aufschreiba

Aufschreiba, hotr gsagt, aufschreiba! Aber wie soll i äbbes aufschreiba, wenne gar et schreiba kann? Ond was soll i aufschreiba, hane gfrooget.

Älles, hotr gsagt; älles, was de ghört ond gseha hoscht.

No hannen oogugget: I han aber gar niggs ghört ond niggs gseha. Jetzt komm, komm, hotr gsagt.

Gwieß wohr, Herr Kommissar; Herr Maier: i hab niggs ghört ond niggs gseha. Dees ischt älles an mir vorbeigloffa – manchmol bene dogschdanda oder schdandablieba . . .

Guat! Guat, guat, hotr gsagt: no sagsch mir halt dees, was de gseha ond ghört hoscht, wo de manchmal dogschdanda oder schdandablieba bischt! – –

Dees ischt aber et viel! Dees ischt a bißle . . .

No sagsch mir halt dees bißle.

Wenne älles bhalta hedd? . . .

Sag mir dees, was de vo dem bißle bhalta hoscht. Ond i schreibs fir di auf. Eiverschdanda?

Eiverschdanda, Herr Kommissar; Herr Maier. Ihne traue.

 

So wurde es dann auch gemacht: Rudolf Maier, Hauptkommissar am Landeskriminalamt in Stuttgart, schrieb im Sommer 1948 auf – besser ließ zunächst alles von seiner Sekretärin aufschreiben und nahm dann das Geschriebene zur Bearbeitung nach Hause –, was ihm der damals 14jährige behinderte Bub Karl Simpel aus einem schwäbischen Voralbdorf im Laufe der mehrwöchigen Verhöre und polizeilichen Ermittlungen erzählte.

Der Hauptkommissar Rudolf Maier, selbst Schwabe und mit der Landschaft, in der die Dinge spielten, von Kindheit auf vertraut, hat über diesen eigenartigen »Fall Simpel« zeitlebens geschwiegen.

Erst nach seinem überraschenden Tod Ausgang der 70er Jahre entdeckte die Familie die folgenden Aufzeichnungen. Es kann nicht festgestellt werden, ob Maier sie selbst je zur Veröffentlichung vorgesehen hatte: In Form eines Romans, in Anekdoten zum Beispiel – als sinnvolle Verkettung einzelner landes-, sprach- und volkskundlicher Geschichten um einen Doppelmord.

Eine Veröffentlichung kann aber grundsätzlich unterstellt werden. Denn Maier hat immer geschrieben; vor allem vor dem Krieg und danach sind Gedichte und Betrachtungen zur Geschichte in verschiedenen regionalen Blättern erschienen. Es hätte also durchaus sein können . . . Doch der Tod war schneller! So war es dem Gespür der Nachkommen überlassen, die Dinge ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen oder nicht. Sie entschieden sich, ohne Zögern, für das Licht. Und für die Öffentlichkeit.

Lesen wir zunächst einen der Begleittexte oder Kommentare, mit denen Maier immer wieder seine Aufzeichnungen versieht. Im ersten Einschub befaßt er sich mit den Schwierigkeiten, die ihm das Ganze offenbar bereitete – oder ist es eine Rechtfertigung für sein Verfahren, persönliche Aussagen künstlerisch frei zu behandeln, ohne Rücksicht auf die Wahrheit? Freilich, es gab eine Wahrheit – einen Vorfall: ihm wollten er, Maier, und die Behörden auf die Spur kommen.

Aus den Aufzeichnungen des Kommissars Maier

Die Sprache des Buben ist oft wirr, und es bereitet mir große Schwierigkeiten, die Aussagen und Erzählungen in einen Zusammenhang zu bringen. Freilich kommt mir entgegen, daß ich selber immer gern geschrieben habe und viel lieber Schriftsteller als Polizist geworden wäre. Es gibt auch eigene Aufzeichnungen von mir aus meiner Kindheit und Jugend. Aber ich möchte sie noch nicht herausgeben: diese Geschichte des Karl Simpel, der kurz nach Kriegsende in seinem Dorf zwei Nazis erschoß, scheint mir wichtiger. Auch wenn er von früher Kindheit an – durch einen Schlittenunfall, nach dem er wochenlang bewußtlos war und wobei einige Gehirnzellen beschädigt worden sein mußtenals unzurechnungsfähig und als Dackel gilt, so reizt es mich, mögliche Motive für diese Tat herauszufinden, wenigstens dieses Leben etwas deutlicher für mich und für uns alle werden zu lassen.

Ich gestehe, daß ich nicht immer wörtlich alles übernehme, was Karl sagt: ich greife in die Schilderungen etwas ein. Aber das sollte mir erlaubt sein, schließlich habe ich diese Zeit bewußt durchlebt, habe einige Jahre in Konzentrationslagernmeiner Gesinnung wegen – verbracht. Endlich ist das kein gerichtliches Protokoll.

Ein bißchen Neugierde ist es auch, die mich beim Aufzeichnen leitet, sind doch einige schriftliche Erinnerungen verlorengegangen: man hat sie mir abgenommen, oder ich habe sie aus Furcht verbrannt.

Soviel zur Gestalt des Ganzen, auch als Erklärung für den Leser, damit er den Faden nicht verliert. Aber ich verspreche, ich bleibe weitgehend auf dem Boden der Tatsachen; ich lasse meine Fantasie nicht mit mir durchgehen.

Lassen wir nun die Fakten sprechen.

II.

Schüsse

Einige Frühkirschen – »balde Kiischa«, wie man hier sagte – waren schon zum Essen. Und der Mann, der im Juni 1948 durch die Wiesen schlich, von Baum zu Baum springend und dabei jede Deckung ausnutzend, so als sei er auf der Flucht oder scheute sich, gesehen zu werden, mochte einige schon probiert haben. Er mußte sich daran freuen, denn er stammte von hier und war von Kindheit an mit Bäumen und Kirschen umgegangen.

Da brach er kurz vor einem dicken Birnbaum zusammen: ein Schuß war gefallen aus einer großen ländlichen Stille heraus – und hatte ihn getroffen und auf der Stelle getötet.

Vom Schützen noch keine Spur. Nichts bewegte sich mehr nach dem Schuß. Die Landschaft schien den Atem anzuhalten, diese satte, fruchtbare Landschaft, die vom Krieg weitgehend verschont worden war und in der in den ganzen Jahren nur wenig Schüsse fielen – außer denen von Förstern und im Schützenverein. Davon gab es hier zwei; die mochten während des Krieges ihre Tätigkeit eingeschränkt haben – weil die aktiven Schützen im Feld waren: aber danach ging es mit doppelter Kraft weiter!

Selten wurde ein Mensch getötet. Aber jetzt. Aber heut. Drei Jahre nach Kriegsende. Und wer hatte geschossen? Ein letzter Soldat? Oder ein Feind auf einen letzten deutschen Soldaten? Tatsächlich gehörte der Tote von der Entwicklung her zu denen, die den Krieg immer noch irgendwie gewinnen wollten oder nicht wahrhaben wollten, daß er verloren war. Der Erschossene war der ehemalige Ortsgruppenleiter der NSDAP Fritz Fetz. Hier hatte ihn das Schicksal ereilt.

Vom Todesschützen nach wie vor noch keine Spur. Oder war es der da? Der zerlumpte Bub? Ja; ein Gewehr hatte er bei sich, wechselte es nun von einer Schulter auf die andere. Jetzt blieb er stehen, aber nur kurz; nun bewegte er sich langsam fort, so langsam, daß er unmöglich etwas mit diesem Fall zu tun haben konnte. Er schaute sich auch nicht mehr um, zeigte keinerlei Angst, gesehen oder verfolgt zu werden.

Es gibt keinen Zeugen für diesen Vorfall. Aber so muß man ihn sich vorstellen: so jenseitig und doch von dieser Welt. Eine Stunde später – vielleicht auch zwei, drei Stunden später; es dunkelte schon – fiel ein weiterer Schuß. Jetzt gibt es aber einen Zeugen: eine Zeugin, eine Frau – die Frau des nächsten Opfers! Sie erzählte, gesehen zu haben, wie der Bub vor der Hütte, wo ihr Mann, der Bürgermeister des Dorfes, sich noch versteckt hielt – und dem sie gerade das Essen bringen wollte –: wie der Simpel stehenblieb, sich ins Gras warf und um diese Hütte herumkroch. Unter einem Fenster, vor dem der Laden dran war, stand er auf und klopfte mit seinem Gewehr dagegen.

Er sagte kein Wort. Aber er klopfte wieder.

Die Frau hatte sich ebenfalls zu Boden geworfen; sie traute kaum zu schnaufen, so habe sie Angst gehabt, wie sonst nicht, als sie täglich ihren Mann in diesem Versteck besuchte, sagte sie später.

Er schlug ein drittes Mal mit dem Gewehrkolben gegen den Fensterladen. Und nochmal – bis die Tür aufging und der Mann mit erhobenen Händen herauskam. Jetzt schrie die Frau auf. Aber da war es schon zu spät; der Schuß war schon losgegangen und hatte auch diesen Mann niedergestreckt. Er sah aus wie ein Bauer; aber kein Bauer sperrte sich in eine Hütte ein – wir lebten doch nicht mehr im Bauernkrieg! Ein Bauer brauchte nicht mit erhobenen Händen aus seinem Haus kommen. Jetzt nicht mehr. Ein richtiger Bauer wäre vielleicht mit der Mistgabel auf die Straße gesprungen, wenn man so oft an seinen Fensterladen geschlagen hätte. Oder hier aus der Hütte auf die Wiese davor.

Der Bub beachtete die Frau überhaupt nicht. Er sah sie nur kurz an – samt dem Mann im Gras –, machte auf dem Absatz kehrt und trottete das Tal hinab. Die Frau blieb bei dem Toten, weinte, schluchzte, schrie auch und blickte dem Buben hintendrein – dieser wandelnden Vogelscheuche: Pickelhaube, viel zu groß; Uniformkittel, ebenso zu groß. Sie kannte ihn. Das war ein Dackel; aber was hatte er getan! Vielleicht träumte sie das nur alles. Sie hatte mal ein Buch gelesen von einem Don Quichotte und einem Sancho Pansa und einem Pferd Rosinante – ein Pferd? Ja, vielleicht kam gleich eins um die Ecke, oder es stand da unten; die Figur schwang sich auf seinen Rücken. Vorher mußte er nur noch seine Sieben Sachen einsammeln; einen Schild – aber der hatte ja ein Gewehr! Und die Leiche da? Sancho, nein, sein Herr, der Don Quichotte, hatte wieder eine Schlacht geschlagen. Und gewonnen. Aber sie hatte alles verloren: den Mann und die Hoffnung, daß man in dieser Zeit noch mal glücklich davonkam. Aber wie hätte man – vor allem glücklich – davonkommen sollen bei so viel Elend auf Erden? Jetzt und früher?

Nun, der Vergleich mit Don Quichotte hinkt doch etwas. Eher trifft das Bild von einer wandelnden Vogelscheuche zu. Andere Bilder fallen einem ein: Waldschrat; Höhlenbewohner, jedenfalls eine Erscheinung aus einer anderen Zeit. Doch sei es, wie es wolle: die Figur ist Wirklichkeit, und sie hat einen Namen – Karl Simpel, so hieß der etwa 13–14jährige Bub. Er stammte vom Ort; er war hier bekannt und geduldet – als Vogelscheuche; als Waldschrat, als Sonderling. Nicht nur, daß er sich so kleidete und sich manchmal so benahm: er galt als Dackel – als verrückt und unzurechnungsfähig. Das war sogar amtlich.

Schon seit Jahren lief er in dieser Aufmachung herum, hatte auch immer eine Waffe bei sich – und wenn nur Pfeil und Bogen; eine Heugabel, eine zerbrochene Sense, den Säbel seines Großvaters, eines Ortspolizisten, oder einen einfachen Brügel, einen Stecken.

Damit beschäftigte er sich; so drehte er seine Runden und sorgte seiner Meinung nach für Ruhe und Ordnung. So auch heute. Doch das war offensichtlich zu viel; da war Karl Simpel zu weit gegangen, war aus seiner Idiotenrolle geschlüpft und war für einige Augenblicke »normal« geworden? Eine Frage, die es zu beantworten gilt!

Das Gewehr war ja echt; er mußte es sich irgendwo besorgt haben. Aber was heißt das: »er mußte es sich irgendwo besorgt haben?« Gewehre und andere Waffen lagen ja gleich nach Kriegsende genug in der Landschaft herum. Das ganze Freibad war voll davon: dorthin hatte man die Gewehre, Dolche, Panzerfäuste, Revolver samt Munition gebracht, nachdem sie am Rathaus abgegeben werden mußten.

Es war ein öffentliches Schauspiel: die Franzosen standen da und übernahmen die Gewehre und zerschlugen sie an der eisenbewehrten Rathausecke. Ein Haufen türmte sich sehr schnell auf – so hatte man sich ja dann auch Fotoapparate, Radiogeräte, Wäsche und so weiter bringen lassen – das eine oder andere Gewehr mußte ganz geblieben sein, oder man fand ein funktionsfähiges Gewehr im Gelände, wo es ein flüchtender Landser einfach weggeworfen hatte. Da mußte es dann in die Hände von Karl Simpel gekommen sein, des Ortsdakkels, der es zunächst seiner Sammlung einverleibte.

Karl Simpel schien die Tat – besser die Taten – auch wenig zu berühren. Denn er machte sich nun auf den Heimweg; er ging nicht schneller und nicht langsamer als sonst. Zu Hause erklärte er nichts, und seine Mutter stellte ihm auch keine Fragen. Karl Simpel lebte zusammen mit seiner Mutter und einer jüngeren Schwester. Seit einigen Monaten war auch der Vater wieder da. Doch der Frieden dauerte nicht lange; die Frau des Bürgermeisters, die die Tat beobachtet hatte, alarmierte das Dorf und brachte die Militärpolizei ins Haus. Danach kam die deutsche Polizei, und die brachte den Buben zunächst in das benachbarte Amtsgerichtsgefängnis; von hier aus wurde Karl an das Landeskriminalamt nach Stuttgart überstellt, das für solche Fälle auch besser ausgerüstet war.

Obwohl es eigentlich ein Fall für den Arzt – für Zwiefalten oder Winnenden: also für das Narrenhaus war, wollte man erst herausfinden, ob nicht doch mehr dahintersteckte. Und der es in Stuttgart ermitteln oder herausfinden sollte, hieß Rudolf Maier, ein alter erfahrener Hauptkommissar; dazu noch Antifaschist, der mehrere Jahre während des Dritten Reichs in Gefängnissen und Konzentrationslagern verbracht hatte – seiner Gesinnung wegen!

Er führte also das Verhör, ließ sich erzählen – Geschichten, Vorfälle: vielleicht kam da im Laufe der Zeit etwas zum Vorschein, eine Spur wenigstens, die näher zur Tat, näher zum Grund für die Tat führte. Näher zu Schuld oder Unschuld.

Nochmal Schüsse

Um auf die Schüsse in den Wiesen unterhalb des Waldes zurückzukommen: hier irrt Maier! In dieser Gegend – in dieser Landschaft; in diesem Tal, in diesem Ort – sind mehrere Schüsse gefallen, ausgelöst nicht nur von Förstern und von Schützen in Vereinen, seien sie noch so groß oder noch so klein. Schüsse sind hier sowohl vor dem Krieg als auch danach und während des Krieges gefallen: und sie haben Menschen getötet!

Es ist aber richtig: Zerstörungen durch Bomben, durch Flugzeuge, so wie in den großen Städten dieses Landes, wie Stuttgart, Heilbronn, Mannheim, Ulm und Reutlingen, sind nicht vorgekommen. Nur ein einziges Mal hat ein Blindgänger in die Außenmauer eines Fabrikgeländes – eines Fabrikgebäudes mit vorschriftsmäßiger Tarnfarbe – eingeschlagen. Aber er hat keinen größeren Schaden angerichtet, und er konnte auch ohne Gefahr für Arbeiter und Umgebung entfernt werden.

Unvergessen ist aber ein Schuß – nein, es müssen mehrere Schüsse gewesen sein; aber wer weiß das schon so genau, hat es behalten in der allgemeinen Aufregung? Unvergessen ist ein Schuß, der gleich nach dem Einmarsch der Amerikaner, die den Franzosen voraussiegten, auf der gleichen Talseite des Dorfes gefallen ist. Es war schon Ausgangssperre angeordnet. Aber die junge Frau und Mutter hat geglaubt, das Schicksal um ein paar Minuten bescheißen zu können. Das wäre vielleicht gegangen, wenn der Wachposten nicht gewesen wäre. Sie war auf dem Heimweg und ist aus einem Häuserwinkel heraus und in den anderen hineingehuscht – aber dem Wachposten ist sie aufgefallen! Der hat sie vielleicht für einen der Nazis gehalten, die in diesen Tagen in den Wäldern der Umgebung noch in Massen verschlupft waren. Und er hat gerufen: »Halt! Stehenbleiben!« Es war ihm später nichts vorzuwerfen; er habe zwei-, dreimal gerufen. Aber die Frau hat gemeint, sie könnte diese paar Meter bis zu ihrem Haus noch packen. Doch dann fiel der Schuß – oder waren es mehrere Schüsse; das ist doch jetzt auch egal: jedenfalls die Frau fiel zu Boden und stand nie mehr auf, und die Kinder waren fortan allein. Natürlich gab das Aufruhr im Dorf, wurde der Wachposten verhört und alles genauestens untersucht. Denn es kam ja sonst nichts vor, gab es sonst keinen Widerstand gegen die Sieger; die Panzersperren in den Straßen oben und unten vom Dorf wurden von den Alten, die sie gebaut hatten, zum Teil noch selber weggeräumt, und es flatterten auch rechtzeitig weiße Fahnen – nein, Leintücher waren es ja! Deshalb war es ungerecht, daß die Frau sterben mußte. Aber sie hätte halt hören sollen. Nur auf das Kommando. Sonst vorerst auf nichts.

Immer wieder Schüsse

Wer schwätzt jetzt noch von den Schüssen, die vor dem Krieg in den Schlachten zwischen Kommunisten und Nazionalsozialisten gefallen waren: wer weiß das noch? Besonders vor der »Traube« oder der »Linde«? Und in der Langen Gasse; in der Schneidergasse – und wo nicht noch überall? Auch im Gelände; auf der Straße? Die Toten hat keiner gezählt. Schon gar nicht die Beleidigten . . .

III.

Der Pistol oder Simpel erzählt

Aber das gab dann eine Aufregung. Ein Schuß war gefallen. Die Nachbarn hatten ihn gehört. Der Polizist hatte, so hieß es, seinen Pistol gereinigt, dann war ein Schuß losgegangen, und der traf sein Weib. Sie war nicht sofort tot. Aber bald danach. Vielleicht fiel deshalb die Strafe auch so milde aus. Und man glaubte ihm auch, weil er ein tüchtiger Kerle – und in der Partei war, und früher schon sich für die Sache eingesetzt hatte: also ein »Alter Kämpfer« war er wie mein Vater ja auch. War das ein schönes Weib, so erzählte man, und die beiden hatten sich schon in der Schule gefunden, und nachher waren sie zusammengeblieben. Es gab viele, die sie wollten, aber nur der Jakob behielt die Oberhand: nur ihn ließ sie »ran«, wie die Kerle sagten. Ich konnte mir darunter zwar nichts vorstellen. Aber ich meinte auch: wenn ich zu einem Hund Zutrauen hatte, dann konnte er zu mir in die Stube, konnte an mich heran. Sonst hätte ich ihm schon eins gegeben.

Frieda habe sie geheißen; ich habe sie nicht nähers gekannt. Wir haben nie miteinander geschwätzt. Ich habe sie schon mal auf der Straße gesehen – die Leute wohnten ja ganz in der Nähe. Und dann schaffte sie schon mal im Garten, hängte Wäsche auf. Wir grüßten uns nicht. Es interessierte mich auch nicht, was sie machten, und ob er Polizist war oder Schuhmacher. Mir konnte er nichts wollen. Andere hatten vielleicht Angst vor ihm; ich nicht. Mein Ähne war ja auch das gleiche gewesen und er war noch mehr. Also mußte ich ihn gar nicht kennen. Und ein Feldschütz war sowieso gefährlicher; er konnte auch schneller sauen. Ein Polizist hatte sein Motorrad; das war schon gemein – mit dem war man ja schneller als mit dem Fahrrad.

Brot

Wenn ich nur das Wort Brot höre, denke ich gleich an Kommißbrot. Diesen Geschmack habe ich heute noch im Mund. Das kommt von der Einquartierung, die wir im Krieg bei uns hatten.

Es waren deutsche Soldaten, die unterwegs zum Truppenübungsplatz nach Münsingen auf der Schwäbischen Alb waren – oder von dort kamen, oder die eben hier unten im Tal und in den Wäldern darüber ihre Übungen machten. Es mochte vielleicht ein Dutzend gewesen sein. Sie hatten auch Gäule und Gewehre dabei.

Wir mußten die Scheuer ausräumen, Heu und Stroh vom Bahrn herunterlassen. Darauf schliefen sie. Zum Essen kamen sie in die Stube rauf, da hatte ihnen meine Mutter den Tisch gerichtet. Doch das Essen kochten sie sich selber in einem Kessel vor dem Haus. Nur Wasser und Most erhielten sie von uns. Es war eine lustige Truppe. Sie lud mich ein, hieß mich immer Platz nehmen und gab mir das Brot. Damals wußte ich noch nicht, daß es Kommißbrot hieß. Sie sagten es mir, und es schmeckte mir gleich, so daß ich jedesmal vielleicht einen halben Laib wegputzte. Ohne Butter, trocken, manchmal mit etwas Wurst dazu – und einem Glas Most.

Es war ja nicht so, daß ich Hunger leiden mußte, obwohl Krieg war und allgemeine Not herrschte. Wir betrieben selbst eine kleine Landwirtschaft mit einer Kuh, mit Hühnern. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, hatte noch mehr Acker und Wiesen und zwei Kühe in dem viel kleineren und höhergelegenen, etwa drei Kilometer entfernten Ort, wo ich einen Teil meiner Kindheit verbrachte und eigentlich auch das Bauernhandwerk erlernte.

Meine Mutter backte das Brot selber in einem der vielen Backhäuser im Dorf. Wir bauten Weizen an, mähten, machten Garben und brachten die Garben in die Drescherei. Das Korn wurde zur Mühle gefahren, dafür bekam meine Mutter das Mehl, und daraus backte sie die Laibe – meistens in dem Backhaus am Kanal, weil das für uns am nächsten war. Und dieses Brot meiner Mutter und meiner Großmutter schmeckte natürlich auch.

Aber nicht so wie das Kommißbrot der Soldaten.

Ich weiß nicht, woher sie es hatten: ob sie es auch selber backten oder es von jemand bekamen. Jedenfalls hatten sie immer genug davon.

Sie hatten auch genug Fleisch. Und Fett. Und Haber für ihre Gäule – den hatten wir nicht, weil weder wir noch mein Großvater Gäule hatten oder je gehabt haben. Den bekamen sie vielleicht vom Bürgermeister, der sich den Haber von den Bauern holte, die Haber und Gäule hatten. Es waren nicht viele im Dorf.

Nicht nur die Soldaten hatten ihren Spaß an mir. Ich hatte genauso meinen Spaß mit ihnen.

So haben mir gleich ihre Gewehre gefallen: die hatten sie im Kreis gegeneinander aufgestellt wie zu einem Indianerzelt, und ich war versucht, darunterzukriechen. Doch ich ließ es sein. Statt dessen holte ich mein Holzgewehr von der Bühne, das mir einmal ein Onkel geschnitzt hatte, und stellte es dazu. Die Soldaten lachten.

Du gibst einen Soldaten ab, sagten sie, wie dein Vater.

Und wie dein Großvater, sagte ein anderer.

Ich hatte mir die Pickelhaube meines Großvaters aufgesetzt, die ich auf der Bühne neben dem Verschlag, wo ich schlief, gefunden hatte. Ich mochte sie sehr gern, so wie das Holzgewehr. Ich setzte sie mir oft auf, und so ging ich auch auf die Gasse. Die Leute lachten, aber das machte mir nichts aus. Ich nahm nun mein Gewehr wieder von den anderen weg und stellte mich in Positur.

Nein, mein Großvater war Landjäger.

Die Soldaten lachten noch mehr.

Mir lief die Nase. Da ich nie ein Sacktuch einstecken hatte, wischte ich einfach mit dem Ärmel drüber. Das machte den Männern noch mehr Spaß. Jetzt marschierte ich mit durchgedrücktem Kreuz durch die Scheuer – vorher und nachher auch in der Stube, während die Soldaten am Tisch saßen. Die Männer kugelten sich, und ich hatte meine Freude daran, daß ihnen gefiel, was ich machte.

Da war einer unter den Soldaten, dem folgten die anderen; der sagte auch immer, wann genug gegessen und getrunken war und sie wieder an die Arbeit – an das Krieg üben – öder aufs Stroh neben die Gäule in der Scheuer gehen sollten.

Der hatte auch eine schöne Mütze, aber eine andere, keine mit einer Spitze auf dem Dach, so wie die von meinem Großvater, dem Landjäger. Sondern da war ein schwarzes Dach über den Augen.

Er kam jetzt mit dieser Mütze auf mich zu – ich glaube es war sogar in der Scheuer, oder in der Stube nach dem Vesper –, nahm mir freundlich meine Pickelhaube ab und setzte mir dafür seine Kappe auf. Die war noch größer als die Pickelhaube, und ich konnte zunächst nichts mehr sehen. Aber dann hob ich den Schild über den Augen an und sah, daß der Soldat meine Pickelhaube auf hatte – jetzt kannte der Jubel keine Grenzen mehr, sogar meine Mutter mußte mitlachen.

Es ist uns also noch ganz gut gegangen in der Zeit, wo die Soldaten im Haus waren. Und besonders ich hatte meine Unterhaltung.

Ich mochte damals vielleicht neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Zur Schule brauchte ich nicht. Das hätte für mich keinen Zweck, ich solle nur auf mich aufpassen und meinem Vater und meiner Mutter folgen, sagten sie im Krankenhaus.

Das tat ich dann auch, auf mich aufpassen und meinem Vater und meiner Mutter folgen, das heißt ich folgte mehr meiner Mutter, weil die mehr zu Hause war. Mein Vater war im Krieg – in Frankreich, in Belgien und Holland: er war beim Nachschub. Aber er kam immer wieder zum Urlaub heim: zweimal vierzehn Tage im Jahr. Und einmal hatte er vierzehn Tage Sonderurlaub wegen einer leichten Verwundung. Er trug den rechten Arm in der Schlinge, aber sonst fehlte ihm nichts.

Unterm Dach

Ich hauste unter dem Dach auf der Bühne: da war ein Bett hinter einem Verschlag aufgestellt, in dem noch Jahre nach der Heirat meiner Eltern die jüngste Schwester meines Vaters schlief, bis sie dann selber einen Mann fand und auszog.

Bis dahin stand mein Bett in der Schlafkammer meiner Eltern, in die kam man nur von der Stube aus, aber sie hatte zwei Fenster: das eine ging auf den großen Garten mit der Gärtnerei und den Gewächshäusern darunter, das andere auf das Nachbarhaus mit der Schlosserwerkstatt nach unserer Seite. An unserem Haus war noch ein Schopf angebaut, dessen Dach bis unter dieses Fenster reichte; wie oft öffnete ich das Fenster, stieg hinaus und spazierte über das Dach. Das tat ich auch wegen der Birnen, die von dem Baum in Nachbars Garten zu uns herüberhingen.

Zwischen dem Zaun der Schlosserwerkstatt und unserem Schopf war nur ein schmales Wegle freigeblieben, durch das man laufen oder noch mit einem kleinen Leiterwägele hindurchfahren konnte. Es war aber ein wichtiger Weg, vor allem für die Leute, die hinter dem unseren einen Garten hatten und die ihn nur über diesen Winkel erreichen konnten. Auch wir mußten da gehen, wenn wir hinter das Haus kommen und nicht durch die Scheuer wollten. Oder durch die Haustür. Auf der Bühne gefiel es mir sehr gut, und ich hatte auf den Tag gewartet, an dem die Tante uns endlich verließ und ich mich unter dem Dach einquartieren konnte. Natürlich war ich auch schon vorher ständig oben, wußte, mit und ohne Wissen der Tante, wußte genau, welche Schätze – und welcher Gruuschd hier lagen. Das meiste stammte noch vom Ähne, der Polizist und Gemeindeschreiber hier war. Ganz bestimmt wollte mein Vater sein Nachfolger werden; aber es ist dann nichts daraus geworden: ein anderer, vielleicht ein Schulkamerad, ist ihm zuvorgekommen.

Ich habe meinen Großvater, den Vater meines Vaters, leider nicht mehr gesehen, und er mich auch nicht, denn er ist kurz vor meiner Geburt gestorben. Dabei habe er sich so auf mich gefreut, den Stammhalter und ersten männlichen Nachfolger in der Familie. Wir hätten aneinander sicher großen Spaß gehabt. Jetzt hatte ich nur noch das, was von ihm übrig war, und das war sehr viel: die Pickelhaube, ein Gürtel und ein Haufen Papiere, Briefe und Strafzettel; die Strafzettel waren aber auf meinen Vater ausgestellt – und mein Großvater hatte sie bezahlt – für die Streiche in seiner Jugendzeit.

An den Bälken hingen oder lagen auf dem Bretterboden allerhand ausgestopfte Tiere; die soll nicht mein Vater, sondern dessen jüngerer Bruder, mein Onkel Ernst, geschossen haben, der eine Metzgerei auf der Schwäbischen Alb hatte. Ich habe keine freundliche Erinnerung an ihn, das heißt ich habe überhaupt keine Erinnerung an ihn: er zog aus dem elterlichen Haus aus und kam nie mehr oder doch nur so selten, daß ich die Besuche vergaß.

Ich weiß auch von keinen Ausflügen, die wir zu ihm auf die Schwäbische Alb und in sein Haus mit der Metzgerei gemacht haben.

Da war auch einmal eine Menge Zinnsoldaten auf der Bühne gewesen, aber bevor ich richtig gucken konnte, war sie weg; vielleicht gehörte sie meinem Onkel Ernst oder der Tante Frieda. Dabei hätte ich so gerne mit ihnen gespielt. Unter dem verstaubten Fenster stand der Mehlkasten; wenn man auch nicht dauernd Mäuse herumspringen sah, so sah man doch den Mäusedreck im Mehl, weshalb es auch immer vor dem Backen gesiebt werden mußte. Aus diesem Grund – aus dem Mäusegrund – standen auch überall Fallen herum, und wenn einmal eine Maus in der Falle hing, so nahm ich sie am Schwanz heraus, lupfte eine Dachplatte und ließ sie das Dach hinunter in die Dachrinne oder auf die Straße rollen. Dort holte sie dann Nachbars Katze.

Wir selber hatten keine Katze und keinen Hund im Haus, was ich sehr schad fand. Dabei muß es hier einmal einen Hund gegeben haben, einen Spitzer oder sowas. Mein Vater erzählte mir, daß er mit ihm immer zur Oberen Mühle gegangen sei; da hatte es viele Ratten, und auch andere Buben trafen sich hier mit ihren Hunden.

Aber der Hund – Spitzer oder was er war – meines Vaters oder meines Großvaters war der beste: er packte die Ratte im Genick, schüttelte einmal kurz und warf sie wieder tot zu Boden.

Das sei schon eine Leistung gewesen, denn die Ratten hätten manchen Hund in die Flucht geschlagen oder ihm die Schnauze verkratzt.

Ja, so einen Spitzer hätte ich gut gebrauchen können.

Oder eine rechte Katze, die ist ja so stark wie ein Hund gegenüber Ratten, manchmal noch stärker.

Gärten und Felder

Gärten gab es auch, wenn man auf der Straße, die an unserem Haus vorüberführte, weiterging: nach vierzig Metern bog sie rechts ab und hieß Friedensstraße. Geradeaus kam man zwischen Äcker und Felder.

Auch wir hätten da ein Feld mit Kartoffeln, Gurken, Bohnen, Salat, Träubleshecken und herrlichen Breschtlingen. Viel besser schmeckten aber die Erdbeeren und Himbeeren im Nachbargarten – und noch mehr in dem eingezäunten Grundstück weiter oben.

Zweimal habe ich es riskiert und bin drübergestiegen – einmal wurde ich erwischt! Herr Ostertag schleifte mich gleich zu meiner Mutter, und von der bekam ich dann den Ranzen voll, was nicht oft geschah. Aber dieses Mal hatte ich es verdient – da wir ja diese Sachen alle selber hätten und ich sie niemand stehlen brauchte!

Dort auf diesen Feldern, die an unser Haus angrenzten, und unmittelbar dahinter ließ ich in jedem Jahr auch meinen Drachen steigen. Nicht nur ich, sondern alle Kinder in dieser Gegend. Den Drachen hatte ich selber gemacht; die Holzleisten hatte ich mir in einer Schreinerei geholt und sie zu einem Gerüst zusammengenagelt. Darauf spannte ich Packpapier oder Stoff. Genauso wichtig war natürlich die Schnur, an der man den Drachen hinaufließ und dann oben in der Luft führte. Da hatte ich auch immer Glück: die Schnur war lang und der Wind gut. Jeder Absturz war vorherzusehen und fiel also nicht so schlimm aus.

Weiter hinten wurden diese Felder – dort mehr Wiesen mit Bäumen; Äpfel-, Kirsch-, Birnen- und Zwetschgenbäumen – von einem Wassergraben zerschnitten. Es war ein ziemlich wilder Graben von unterschiedlicher Breite und wechselndem Wasserstand; einmal war er links und rechts von Erlen und Eschen eingesäumt und eine Brücke oder ein Steg führte darüber, dann sah man wieder kaum den genauen Verlauf in der sumpfigen Wiese.

Ich interessierte mich für jeden Abschnitt, kannte alle seine Kurven und Tiefen bis hinauf in den Wald, wo er als kleiner Wasserstrahl – im Frühjahr stärker als im Sommer – aus dem Boden drückte, und dann unterwegs zum großen Bach im Ort flossen immer mehr Quellen und Rinnsale hinzu.

Wie die anderen Kinder hatte ich mein besonderes Revier, das ich verteidigte und das man mir ließ.

Hier baute ich meine Gumpen, indem ich das Wasser mit Steinen, Holz und Letten staute.

In diesem Bereich schälte ich im Frühjahr auch die Haut von den Eschen und drehte sie zu sogenannten Dudelsäcken zusammen: so nannten wir die Röhren, die vorne ganz dünn anfingen und nach hinten immer weiter wurden. Auch das Mundstück klopfte ich mir selber mit dem Griff meines Taschenmessers von einem Zweig ab.

So hatte ich immer Arbeit, und es mangelte mir an nichts; was mir fehlte, das holte ich mir im Wald oder am Bach und machte es daheim vollends fertig.

Meine Schwester

Meine Schwester kam auf die Welt, als ich fünf Jahre alt war. Zum Glück hatte ich nicht viel Geschäft mir ihr, da meine Mutter eine Kindsmagd für sie hielt. Eigentlich mehrere hintereinander.

Meine Mutter hatte auch eine Frau, die ihr die Wäsche machte, und zwei Männer, die bei Feld- und Gartenarbeiten mithalfen. Später bekam sie von der Gemeinde auch Gefangene zugeteilt – Russen, Franzosen –, die sie nach Bedarf bei der Arbeit im Haus oder auf dem Feld einsetzen konnte. Die mußte sie morgens im Vereinshaus abholen – meistens ging ich natürlich mit – und abends um fünf Uhr zurückbringen. Denn schließlich hatte sie eine gewisse Verantwortung für sie. Da gab es sehr unterschiedliche Leute darunter, dankbare und anspruchsvolle; einige, die froh waren, herauszukommen, und andere, die meine Mutter ausnutzten.

Natürlich mußte ich auch mal ran und den Kinderwagen schieben. Das ging dann so:

Gleich nach unserem Haus in Richtung Flecken fiel die Straße oder Gasse gleich stark ab; da bekam man dann Schwung. Ich schob den Kinderwagen ganz ruhig vom Haus weg und wartete, bis meine Mutter nicht mehr herschaute. Dann stieß ich den Kinderwagen an und rannte, was ich rennen konnte, die Gasse hinunter und wartete unten in der Straße, in die unsere Gasse einmündete, auf ihn. Manchmal mußte ich auch wieder zurückrennen, weil der Wagen nicht gerade lief.

Aber das war nur am Anfang.

Mit der Zeit bekam ich den Dreh heraus, so daß der Wagen genau in der Mitte der Gasse mir entgegenrollte. Meine Schwester im Wagen merkte nichts; aber sie merkte auch nichts, wenn ich mal stehenblieb oder sie vor einem anderen Haus abstellte, um meinen eigenen Vergnügungen nachzugehen. Schreien tat sie sowieso. Als ich aber eine gewisse Perfektion im Umgang mit dem Kinderwagen entwickelt hatte – und die Nachbarn ins Haus kamen, um sich bei meiner Mutter über mich zu beklagen –, da durfte ich schon nicht mehr damit fort.

Auch wenn es nie einen Unfall gegeben hatte und der Wagen nie umgestürzt war.

Es sei einfach zu gefährlich. Und unverantwortlich von meiner Mutter. Es tat mir schon leid.

So mußte ich mich ganz mit meinem Rennwagen – auch Seifenkiste genannt – begnügen. Der war neu. Ich hatte endlich vier neue Kinderwagenräder und die Achsen dazu aufgetrieben. Darauf legte ich ein Brett, das ich bei uns im Schopf fand; vorher ließ ich mir von einem Schlosser die Achsen links und rechts durchbohren, damit konnte ich sie auf das Brett aufnageln und brauchte nicht mehr die Nägel um die Achsen herum krummschlagen. Das gab der ganzen Sache mehr Stabilität – und weniger Nägel brauchte man auch! Helfen bei dieser Arbeit tat mir mein Deede, der jüngste Bruder meiner Mutter und Sohn meines lebenden Großvaters in dem viel kleineren und höhergelegenen, etwa drei Kilometer entfernten Ort.

Er wurde auch zum Militär eingezogen; nur noch während des Urlaubs konnte er mir helfen.

Mein Rennwagen hatte ein richtiges Lenkrad, eine Vorderund eine Hinterradbremse.

Diese Seifenkiste hob sich von allen anderen in unserem Dorf ab.

Jeder wollte damit fahren. Aber da war ich wählerisch: ich ließ mich lieber von den anderen schieben. Daran hatte mein Deede auch gedacht. Er hatte hinten auf das Sitzbrett eine Latte genagelt, in der Mitte sägte er eine Ecke heraus: dahinein mußte man zum Schieben die Stange stecken. Und ich ließ mich schieben, freute mich königlich, daß ich den andern einmal etwas voraushatte. Und sie bauten meinen Rennwagen nach und ließen sich von ihren Freunden schieben. Das machte mir aber nichts mehr aus, Hauptsache ich war einmal schneller und besser gewesen. Danach mochten sie wieder machen, was sie wollten.

Ich richtete mich auch nicht nach ihnen, wie sollten die sich nach mir richten?

So lebten wir in Frieden miteinander, die Kinder des Dorfes und ich: jeder hatte, was er brauchte oder bekam mit der Zeit doch das, was in diesen Jahren möglich war.

Hunde

Nein, einen Hund haben wir nicht mehr gehabt seit dem Spitzer, den ich ja nicht mehr gesehen hab. Aber ich mochte Hunde sehr gern, und sie mochten wohl mich. Vielleicht hatte ich deshalb keine Angst vor ihnen – auch nicht vor den schärfsten und größten!

Auch nicht vor dem Schäferhund, der mal auf unsere Schlitten- und Schibahn am Bettelsteg gerannt war. Er gehörte dem Schäfer, der hier in der Nähe wohnte und jetzt heimgekommen war, seinen Hund aber einfach zwischen den Kindern herumrennen ließ.

Alle stoben sie schreiend auseinander. Ich aber blieb stehen und schlug mit dem Stock nach ihm, zuerst mit dem einen und dann mit dem andern; dann schnallte ich mir meine Faßdaugen ab und warf sie nacheinander nach dem Hund, der nicht gleich aufgeben wollte, sondern sich mir stellte.

Als ich auch die zweite Faßdauge nach ihm geworfen hatte, hob ich wieder den ersten und dann den zweiten Stock vom Schnee auf: so verjagte ich den Hund von der Bahn und trieb ihn noch am Bach entlang bis in seinen Hof hinein.

Das gab einen Aufruhr, und endlich tauchte auch der Schäfer auf; der schimpfte aber weniger mit dem Hund als mit mir, weil ich so grob gegen ihn vorgegangen sei.

Aber ich blieb hartnäckig: Der solle mir nur nochmal kommen, sagte ich.

Ich werde schon sehen, sagte der Schäfer, der Hund werde es sich merken und mich schon nochmal packen.

Und die Leute, die jetzt aus den Häusern gekommen waren und herumstanden, zusammen mit den Kindern, die sich nun wieder auf die Bahn trauten, glaubten das auch.

Ja, ja, sagte ich nur.

Aber der Hund machte nichts; er ging mir immer aus dem Weg, wenn er mich nur kommen sah.

Ich hab auch, ehrlich gesagt, nichts anderes erwartet; mit den bloßen Händen wäre ich ihm an die Gurgel gefahren.

Ich mochte ja Hunde gern, aber nicht solche, die gegen mich oder andere Kinder gingen. Da wird sich auch nichts ändern. Einige Jahre später habe ich mit einem solchen Schäferhund oder Wolfshund regelrecht Freundschaft geschlossen. Das war auf einem Hof in Oberschwaben, auf einem sehr großen Hof, so wie es bei uns im mittleren Württemberg keine gab, wo wir meinen Vater nach dem Krieg besucht haben. Er mußte hier als Knecht arbeiten in der Zeit, in der ihn die Franzosen gefangengesetzt hatten. Eigentlich waren es drei Hunde; der eine an der Haupteinfahrt von der Straße her, der andere hinten heraus zum Teich, und der dritte rechts bei den Pferdeställen und den Knechtwohnungen darüber.

Ich verstand mich mit allen dreien, aber am besten mit dem an der Haupteinfahrt. Er war in einem großen Käfig drin und sprang sofort zähnefletschend am Gitter hoch, wenn sich ein Fremder ihm nur näherte.

Das machte mich natürlich neugierig.

Nicht, daß ich ihn reizen oder herausfordern wollte: der Hund gefiel mir halt. Es war auch ein schönes Tier.

Schon am Morgen, gleich nach dem Kaffee, ging ich raus und stellte mich vor den Käfig und sprach mit ihm. Am zweiten Tag bellte er schon nicht mehr, wenn ich kam, knurrte nur noch und drehte sich weg. Schließlich gab er auch das Knurren auf und blieb stehen und drehte sich nicht mehr von mir weg.

Dann fragte ich den Bauern, ob ich mit dem Hund Spazierengehen dürfte – ich meine mit dem Harras, mit dem im Käfig an der Hauptein- und -ausfahrt? Ja, sagte er, wenn ich meinte; der Hund brauche schon wieder einmal Bewegung. Ich solle aber vorher nochmal mit ihm schwätzen, das heißt ihn füttern und so Sachen. Das tat ich auch; und jetzt winselte Harras schon, wenn er mich kommen sah. Ich ließ mir den Schlüssel zum Schloß an der Tür des Hundekäfigs geben und führte ihn heraus, und der Hund folgte mir, so als kannten wir uns schon ewig.

Ich rannte mit ihm über Äcker und Wiesen, an hohen Maisfeldern vorbei; ich warf einen Stock voraus und hetzte ihn hintendrein. Wir kamen auch zu dem Teich hinter dem Hof; das Wasser war nicht sauber. Trotzdem spuckte ich auf meinen Briegel, Harras sprang hinein und brachte ihn mir wieder – er war batschnaß, und ich wurde in diesen Tagen, wo wir meinen Vater auf dem Hof besuchten, auch nicht mehr sauber.

Es waren schöne Tage in Oberschwaben. Nicht nur wegen Harras. Auch wegen dem Essen und wegen der Milch, die es da gab: mehr als wir in dieser Zeit zu Hause hatten.

Mein Vater mußte auch Kühe melken und misten. Ich stand mit ihm in aller Herrgottsfrühe auf, half ihm oder schaute ihm nur zu. Dann melkte er einen steinernen Literkrug warmer Kuhmilch voll; ich setzte an und trank, bis mir der Bauch platzen wollte. Aber mein Vater sagte: trink nur.

Beim Essen am Tisch sagte meine Mutter: iß, und ich aß. Da saßen meine Mutter und ich allein mit dem Bauern und seiner Familie zusammen. Mein Vater mußte bei den anderen Gefangenen, den Knechten und Mägden bleiben.