Die Katze im Haus

Als man Paris gegen drei Uhr verließ, schien eine kühle Herbstsonne, und auf den Straßen herrschte reges Leben. Kurz vor Mantes gingen dann die Lampen im Abteil an. Ab Évreux war draußen alles dunkel. Und jetzt sah man durch die beschlagenen, tropfnassen Scheiben dichten Nebel, der den Schein der vorübergleitenden Lichter dämpfte.

Maigret saß behaglich in seiner Ecke, den Kopf angelehnt, und beobachtete mit halb geschlossenen Augen unablässig die beiden ungleichen Menschen, die ihm gegenübersaßen.

Kapitän Joris schlief. Die Perücke auf seinem berühmten Schädel war verrutscht, sein Anzug zerknittert, während Julie, beide Hände auf der Tasche aus falschem Krokodilleder, ins Leere starrte und trotz ihrer Müdigkeit ein nachdenkliches Gesicht zu machen versuchte.

Joris! Julie!

Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei war es gewohnt, Leute plötzlich in sein Leben

Das Rattern der Räder skandierte seine Gedanken, die gleichen wie zu Beginn jeder Untersuchung. Würde diese hier aufregend, banal, widerlich oder tragisch sein?

Maigret betrachtete Joris, und ein vages Lächeln huschte über seine Lippen. Ein merkwürdiger Mann! Fünf Tage lang hatte man ihn am Quai des Orfèvres »den Mann« genannt, da man seinen Namen nicht kannte.

Man hatte ihn auf den Boulevards aufgegriffen, weil er wie ein Irrer zwischen den Bussen und Autos herumgelaufen war. Man verhört ihn auf Französisch. Keine Antwort. Man versucht es mit sieben oder acht anderen Sprachen. Nichts. Auch auf die Taubstummensprache reagiert er nicht.

Ein Verrückter? Er wird in Maigrets Büro untersucht. Anzug neu, Wäsche neu, Schuhe neu. Alle Etiketten herausgetrennt. Keine Papiere. Keine Brieftasche. Fünf Tausendfrancscheine in einer seiner Taschen.

Recherchen im Strafregister, in den Meldekarteien. Telegramme innerhalb Frankreichs und ins Ausland. Und »der Mann« lächelt liebenswürdig von morgens bis abends, trotz der anstrengenden Verhöre!

Amnesie? Eine Perücke rutschte ihm vom Kopf, und man stellt fest, dass vor höchstens zwei Monaten eine Kugel in seinen Schädel eingedrungen ist. Die Ärzte bewundern die gelungene Operation. Selten haben sie dergleichen gesehen.

Wieder Telegramme, an Krankenhäuser in Frankreich, Belgien, Deutschland, Holland.

Fünf volle Tage penibler Nachforschungen. Analysen der Flecke an den Kleidungsstücken und der Staubteilchen in den Taschen ergeben kümmerliche Resultate.

Man findet Reste von Fischrogen, das heißt getrocknete und pulverisierte Kabeljaueier, die man im Norden Norwegens als Köder beim Sardinenfang einsetzt.

Kommt »der Mann« von da? Ist er Skandinavier? Indizien weisen darauf hin, dass er eine lange Zugfahrt hinter sich hat. Aber wie hat er allein reisen können, ohne den Mund aufzutun, mit dieser verstörten Miene, durch die er sofort auffällt?

Sein Foto erscheint in den Zeitungen, und bald darauf trifft ein Telegramm aus Ouistreham ein: Unbekannter identifiziert.

Eine Frau folgt dem Telegramm, ein Mädchen

Allerdings ist er jetzt nicht mehr »der Mann«. Er hat einen Namen und einen Beruf: Yves Joris, früher Kapitän der Handelsmarine, Hafenmeister von Ouistreham.

Julie weint. Julie versteht das alles nicht. Julie fleht ihn an zu reden. Er blickt sie sanft und freundlich an, wie er alle anblickt.

Kapitän Joris verschwindet am 16. September aus Ouistreham, einem Hafenstädtchen zwischen Trouville und Cherbourg, und jetzt ist es Ende Oktober.

Was hat er in den sechs Wochen gemacht?

»Er hat wie gewöhnlich abends bei Flut an der Schleuse Dienst getan. Ich bin schlafen gegangen. Am nächsten Morgen war er nicht in seinem Zimmer.«

Erst hat man geglaubt, Joris sei ins Wasser gefallen, weil er im Nebel nichts sah. Man hat ihn mit Stangen gesucht. Dann hat man angenommen, er sei abgehauen.

»Lisieux … Drei Minuten Halt.«

Maigret vertrat sich die Beine auf dem Bahnsteig und stopfte sich eine neue Pfeife. Er hatte seit Paris so viel geraucht, dass das Abteil ganz verqualmt war.

Julie hatte inzwischen ihre Nasenspitze mit der Puderquaste betupft. Ihre Augen waren vom Weinen noch ein wenig rot.

Es war seltsam, manchmal wirkte sie hübsch, beinahe vornehm, dann wieder spürte man, ohne genau zu wissen, warum, das kleine, einfältige Bauernmädchen in ihr.

Sie rückte die Perücke des Kapitäns zurecht, »ihres Herrn«, wie sie sagte, und sah Maigret mit einer Miene an, als wollte sie sagen: »Ist doch wohl mein gutes Recht, mich um ihn zu kümmern.«

Denn Joris hatte keine Angehörigen. Er lebte seit Jahren allein mit Julie, die er seine Wirtschafterin nannte.

»Er hat mich immer wie seine Tochter behandelt …«

Und er hatte keine Feinde, keine Abenteuer, keine Liebschaften!

Nachdem er dreißig Jahre lang zur See gefahren war, konnte er sich nicht in den Müßiggang schicken. Trotz Pensionierung bewarb er sich um den Posten des Hafenmeisters in Ouistreham und ließ sich dort ein kleines Haus bauen.

Und eines schönen Abends, am 16. September, ist er von der Bildfläche verschwunden und dann sechs Wochen später in Paris in diesem Zustand wieder aufgetaucht.

Sie war nervös und verlegen. Jedes Mal, wenn sie den Kapitän anblickte, drückte ihr Gesicht zugleich Rührung und eine vage Furcht aus, eine unüberwindliche Angst. Aber er war es wirklich, es war wirklich »ihr Herr«. Und doch war er nicht mehr ganz derselbe.

»Er wird wieder gesund werden, nicht wahr? Ich werde ihn pflegen.«

In dicken Tropfen rann das Wasser an den beschlagenen Scheiben herab. Sanft schaukelte Maigrets Kopf im Rhythmus des Zugs hin und her. Er saß behaglich da und beobachtete unverwandt die beiden: Julie, die ihm gesagt hatte, man hätte ebenso gut dritter Klasse fahren können, wie sie es gewohnt war, und Joris, der erwachte, aber nur blinzelnd um sich blickte.

Die nächste Station war Caen, dann kam Ouistreham.

»Ein Dorf mit tausend Einwohnern«, hatte ein aus der Gegend stammender Kollege zu Maigret gesagt. »Der Hafen ist klein, aber bedeutend wegen des Kanals, der ihn mit Caen verbindet und auf dem Schiffe von fünftausend Tonnen und mehr fahren können.«

Maigret versuchte nicht, sich ein Bild von dem

Ehe Kapitän Joris verschwunden war, hatte er dichtes dunkelbraunes Haar gehabt, das nur an den Schläfen leicht ergraut war, ein weiterer Grund zur Verzweiflung für Julie. Sie wollte diesen kahlen Schädel nicht sehen. Jedes Mal, wenn die Perücke verrutschte, rückte sie sie hastig wieder zurecht.

»Kurz, man hat ihn töten wollen …«

Ja, man hatte auf ihn geschossen. Das stand fest. Aber man hatte auch alles getan, um ihn am Leben zu erhalten.

Er war ohne Geld fortgegangen, und man hatte ihn mit fünftausend Franc in der Tasche aufgegriffen.

Plötzlich öffnete Julie ihre Handtasche.

»Ich hab ganz vergessen, dass ich die Post des Herrn mitgebracht habe.«

Kaum etwas von Belang. Prospekte von Firmen, die mit Schiffszubehör handeln, eine Beitragsquittung der Kapitänsgewerkschaft der Handelsmarine, Postkarten von Freunden, die noch im Dienst waren, darunter eine aus Punta Arenas.

Ein Brief der Banque de Normandie in Caen. Ein Vordruck, die Lücken mit Maschinenschrift gefüllt:

Und dabei hatte Julie mindestens zehnmal versichert, der Kapitän sei nicht reich. Maigret blickte die beiden abwechselnd an. Der Kabeljaurogen … Hamburg … Die in Deutschland hergestellten Schuhe …

Und Joris, der als Einziger Licht in die Sache bringen konnte! Joris, der liebenswürdig lächelte, als er merkte, dass Maigret ihn musterte.

»Caen! Der Zug fährt nach Cherbourg weiter. Reisende nach Ouistreham, Lion-sur-Mer, Luc …«

Es war sieben Uhr und der Nebel so dicht, dass der Schein der Lampen auf dem Bahnsteig kaum den milchigen Schleier durchdrang.

»Wie kommen wir jetzt weiter?«, fragte Maigret Julie.

»Es gibt keinen Anschluss mehr. Im Winter fährt die Kleinbahn nur zweimal täglich.«

Vor dem Bahnhof standen Taxis. Maigret hatte Hunger. Da er nicht wusste, ob es in Ouistreham ein Lokal gab, wollte er im Bahnhofsbuffet essen.

Kapitän Joris war gleichbleibend fügsam. Er aß, was man ihm auftischte, wie ein Kind, das denen

»Ist das nicht der Hafenmeister von Ouistreham?«

Und er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Nachdem Maigret genickt hatte, ging er befriedigt davon. Julie versuchte ihre Nervosität zu überwinden, indem sie sich an Äußerlichkeiten klammerte.

»Zwölf Franc für so ein Essen, und nicht mal mit Butter gekocht! Wir hätten doch zu Hause etwas essen können …«

Im selben Augenblick dachte Maigret:

»Eine Kugel in den Kopf … Dreihunderttausend Franc …«

Das Taxi, das sie nahmen, war ein ehemaliger Privatwagen mit durchgesessenen Polstern und knarrenden Achsen. Die drei saßen zusammengedrängt im Fond, denn die Klappsitze waren entfernt. Julie zwischen den beiden Männern.

»Ich frage mich gerade, ob ich das Gartentor abgeschlossen habe?«

Je näher man dem Ziel kam, desto mehr wurde sie wieder die besorgte Hausfrau.

Als sie aus der Stadt herausfuhren, stießen sie gegen eine Nebelwand. Kaum zwei Meter entfernt tauchten mit einem Mal ein Pferd und ein Karren

Der Fahrer drosselte die Geschwindigkeit. Sie fuhren kaum hundert Stundenkilometer, und doch schoss unvermittelt ein Radfahrer aus dem Nebel, streifte einen Kotflügel. Sie hielten an. Er war nicht verletzt.

Sie fuhren durch das Dorf Ouistreham. Julie schob die Scheibe zur Seite.

»Fahren Sie bis zum Hafen und dann über die Drehbrücke. Halten Sie vor dem Haus beim Leuchtturm.«

Zwischen dem Dorf und dem Hafen war ein etwa ein Kilometer langes Stück Straße, auf das das blasse Licht der Gaslaternen fiel. Vor der Brücke ein erleuchtetes Fenster und Lärm.

»Die Seemannskneipe«, sagte Julie. »Da sind die vom Hafen die meiste Zeit.«

Jenseits der Brücke hörte die Straße eigentlich auf. Sie verlor sich in den Sümpfen, die die Ufer der Orne bilden.

Hier standen nur der Leuchtturm und ein zweistöckiges Haus, umgeben von einem Garten. Das Auto hielt an. Maigret beobachtete den Kapitän, der wie selbstverständlich ausstieg und auf das Tor zuging.

»Haben Sie gesehen, Herr Kommissar?«, sagte

Und sie steckte den Schlüssel ins Schloss, stieß das quietschende Tor auf und ging auf dem Kiesweg zum Haus. Maigret bezahlte den Fahrer und folgte den beiden dann rasch. Nachdem das Auto abgefahren war, sah man nichts mehr.

»Könnten Sie vielleicht ein Streichholz anzünden? Ich finde das Schloss nicht.«

Eine kleine Flamme. Die Tür wurde aufgestoßen, und etwas Dunkles glitt vorüber, streifte Maigrets Beine. Schon knipste Julie im Hausflur die Lampe an, blickte erstaunt zu Boden und murmelte:

»Das war die Katze, die da gerade hinausgelaufen ist, nicht wahr?«

Während sie das sagte, legte sie Hut und Mantel ab, hängte beides an den Garderobenständer, öffnete die Tür zur Küche, machte dort Licht und wies so unbewusst darauf hin, dass sich in diesem Raum für gewöhnlich die Gäste des Hauses aufhielten.

Eine helle Küche mit gekachelten Wänden, ein großer gescheuerter Holztisch, funkelndes Kupfergeschirr. Der Kapitän setzte sich sofort in seinen Korbsessel beim Ofen.

»Dabei habe ich doch bestimmt wie immer die Katze hinausgelassen, als ich wegfuhr.«

»Ja, ganz sicher. Alle Türen waren abgeschlossen. Sagen Sie, Herr Kommissar, würden Sie einmal mit mir durchs Haus gehen? Ich habe Angst.«

Sie hatte solche Angst, dass sie sich kaum traute vorauszugehen. Sie öffnete die Tür zum Esszimmer. Die tadellose Ordnung, die glänzenden Dielen und Möbel zeigten, dass es nie benutzt wurde.

»Sehen Sie bitte einmal hinter die Vorhänge.«

Ein Klavier, Kunstgegenstände aus Chinalack und Porzellanfiguren, die der Kapitän gewiss aus dem Fernen Osten mitgebracht hatte.

Dann das Wohnzimmer, ebenso ordentlich, die Möbel in einem Zustand, als stünden sie noch im Schaufenster des Geschäfts, wo man sie gekauft hatte. Der Kapitän folgte den beiden zufrieden, ja geradezu glücklich. Sie gingen die Treppe hinauf, die mit einem roten Läufer belegt war. Oben gab es drei Schlafzimmer, von denen eines unbenutzt war.

Und alles blitzsauber, überall mustergültige Ordnung, ein milder Geruch von Ländlichkeit und Küchendüften.

Niemand hielt sich versteckt. Die Fenster waren fest geschlossen. Die Tür zum Garten war ebenfalls geschlossen, aber der Schlüssel steckte draußen.

»Die Katze wird durch ein Kellerfenster hereingekommen sein«, sagte Maigret.

»Es gibt keins.«

»Darf ich Ihnen einen Gläschen anbieten?«

Und während sie die winzigen, mit Blumen bemalten Gläser füllte, wurde ihr jäh ihr ganzes Elend bewusst, und sie brach in Tränen aus.

Sie blickte verstohlen zu dem Kapitän hin, der wieder in seinem Sessel saß. Dieser Anblick war ihr so unerträglich, dass sie den Kopf abwandte, und um sich auf andere Gedanken zu bringen, stammelte sie:

»Ich werde Ihnen das Gästezimmer zurechtmachen.«

Wieder schluchzte sie. Sie nahm eine weiße Schürze von einem Haken an der Wand und wischte sich die Augen.

»Ich möchte lieber im Hotel wohnen. Es gibt hier doch ein Hotel, oder?«

Sie sah auf eine kleine Porzellanuhr, eine von denen, die man auf Jahrmärkten gewinnt. Ihr Ticken gehörte zur Atmosphäre dieses Hauses.

»Ja. Da ist bestimmt noch jemand auf. Es ist auf der anderen Seite der Schleuse, gleich hinter der Kneipe, die Sie gesehen haben.«

Dennoch war sie nahe daran, ihn zurückzuhalten. Sie schien sich davor zu fürchten, mit dem Kapitän allein zu bleiben, zu dem sie nicht mehr hinzusehen wagte.

»Sie haben sich ja selbst davon überzeugt.«

»Kommen Sie morgen früh wieder?«

Sie begleitete ihn zur Tür, die sie schnell hinter ihm schloss. Und Maigret stand draußen in so dichtem Nebel, dass er nicht mehr sah, wohin er die Füße setzte. Trotzdem fand er das Tor. Er spürte Gras unter seinen Füßen, dann Kies. Gleichzeitig hörte er ein Geräusch in der Ferne. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, was es war.

Es klang wie das Brüllen einer Kuh, nur trostloser, verzweifelter.

»Dummkopf«, brummte er vor sich hin. »Ist doch bloß das Nebelhorn …«

Er fand sich nur mit Mühe zurecht. Gleich unter seinen Füßen sah er Wasser, das zu dampfen schien. Er stand auf der Schleusenmauer. Irgendwo quietschten Kurbeln. Er erinnerte sich nicht mehr an die Stelle, wo er im Auto das Wasser überquert hatte. Als er einen Steg erblickte, ging er darauf zu.

»Vorsicht!«

Es war unheimlich, denn die Stimme kam aus nächster Nähe. Obwohl er das Gefühl vollständiger Einsamkeit hatte, war drei Meter von ihm entfernt ein Mensch, von dem er, selbst wenn er genau hinblickte, kaum die Umrisse sah.

Er verstand die Warnung sofort. Der Steg

Ein Schiff fuhr dicht am Kommissar vorüber. Eine Trosse fiel neben ihm zu Boden, und jemand ergriff sie, trug sie zu einem Poller und machte sie fest.

»Zurück! Vorsicht!«, rief eine Stimme oben auf der Kommandobrücke.

Noch vor einigen Sekunden hatte alles tot und verlassen gewirkt, doch jetzt, da Maigret an der Schleuse entlangging, bemerkte er die vielen menschlichen Gestalten im Nebel. Jemand drehte eine Kurbel. Ein anderer kam mit einer zweiten Trosse angelaufen. Zöllner warteten darauf, dass der Steg ausgelegt wurde, damit sie an Bord gehen konnten.

All das, ohne wirklich etwas zu sehen, in dieser feuchten Wolke, die nasse Perlen auf den Bärten der Männer hinterließ.

»Wollen Sie hinüber?«

Die Stimme kam aus nächster Nähe.

Ein weiteres Schleusentor.

»Machen Sie schnell, sonst müssen Sie eine Viertelstunde warten …«

Sich am Geländer festhaltend, ging er hinüber,

Der Fischer bedachte ihn mit einem gleichgültigen Blick und begann kleine Fische zu verlesen, die er in einen Korb warf.

Rings um das Schiff wurde der Nebel heller, sodass man nun sehen konnte, was dort vor sich ging. Auf Deck sprach man Englisch. Ein Mann mit Offiziersmütze stand am Rand des Quais und prüfte Papiere.

Der Hafenmeister! Die Vertretung von Kapitän Joris.

Auch er war klein, aber magerer und behänder, und er scherzte mit den Schiffsoffizieren.

Die Welt war bloß nicht mehr als ein wenige Quadratmeter großer heller Fleck in einem gewaltigen schwarzen Loch aus Land und Wasser. Vorne links rauschte leise das Meer.

War nicht an so einem Abend Joris verschwunden? Er prüfte Papiere wie sein Kollege. Scherzte wohl auch. Er überwachte die Durchschleusung, die Manöver. Er brauchte nicht hinzusehen. Einige

Maigret, der sich eine Pfeife angesteckt hatte, runzelte die Stirn. Er ärgerte sich über seine eigene Hilflosigkeit.

Die Schleusentore öffneten sich. Das Schiff fuhr in den Kanal ein, der nur etwas schmaler war als die Seine in Paris.

»Verzeihung, sind Sie der Hafenmeister? … Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei. Ich habe soeben Ihren Kollegen zurückgebracht.«

»Joris ist hier? Es stimmt also? Man hat mir heute Morgen davon berichtet. Aber ist es wahr, dass er …«

Er tippte sich an die Stirn.

»Im Augenblick ja. Verbringen Sie die ganze Nacht im Hafen?«

»Nie länger als fünf Stunden am Stück. Die Flut dauert fünf Stunden, und dann haben die Schiffe genug Wasser, um in den Kanal einzufahren oder hinaus aufs Meer … Die Uhrzeit ist jeden Tag anders. Heute haben wir gerade begonnen. Bis drei Uhr morgens werden wir zu tun haben.«

Ein zugänglicher Mann. Er behandelte Maigret als Kollegen. Schließlich war er selbst Beamter!

»Erlauben Sie?«

Er blickte zum Meer hin, wo man nichts sah. Und trotzdem sagte er:

»Werden Ihnen die Schiffe gemeldet?«

»Meistens. Vor allem die Dampfer. Die verkehren fast alle regelmäßig, kommen mit Kohle aus England und fahren mit Erz aus Caen zurück.«

»Wie wäre es, wenn wir etwas trinken gehen?«, fragte Maigret.

»Bis zum Ende der Flut muss ich hierbleiben.«

Und er rief unsichtbaren Männern, von denen er genau wusste, wo sie sich befanden, Befehle zu.

»Sind Sie mit einer Untersuchung betraut?«

Schritte vom Dorf her. Ein Mann überquerte eins der Schleusentore, und als der Schein einer der Lampen auf ihn fiel, sah man den Lauf eines Gewehrs.

»Wer ist das?«

»Der Bürgermeister. Er geht auf Entenjagd. Er hat eine Hütte an der Orne. Sein Gehilfe ist wohl schon da, um alles für die Nacht vorzubereiten.«

»Glauben Sie, dass das Hotel noch offen ist?«

»Das Univers. Ja, bestimmt. Aber beeilen Sie sich … Der Wirt wird mit seinem Kartenspiel bald fertig sein und schlafen gehen … Und wenn er erst mal im Bett liegt, steht er um keinen Preis der Welt wieder auf …«

»Bis morgen«, sagte Maigret.

»Ja, ab zehn, bei der nächsten Flut, bin ich wieder am Hafen.«

Unheimlich war es eigentlich nicht, vielmehr wurde man von einem vagen, bedrückenden Gefühl der Unruhe, der Angst erfasst in dieser unbekannten Welt, zu der man nicht gehörte und die ihren eigenen Regeln folgte.

Unsichtbare Menschen bevölkerten die Finsternis. Zum Beispiel dieser Segler, der ganz in der Nähe darauf wartete, dass die Reihe an ihm war.

Maigret kam wieder an dem Fischer vorbei, der reglos unter seiner Laterne hockte. Er wollte irgendetwas sagen.

»Und? Beißen sie an?«

Aber der andere spuckte nur ins Wasser, und Maigret ging weiter, verärgert über seine dumme Bemerkung.

Bevor er das Hotel betrat, hörte er noch, wie die Läden im ersten Stock von Kapitän Joris’ Haus geschlossen wurden.

Julie, die Angst hatte! Die Katze, die in dem Augenblick aus dem Haus geschlüpft war, als sie hineingegangen waren.

»Wird das Nebelhorn die ganze Nacht heulen?«, brummte Maigret nervös, als er vor dem Wirt des Hotels stand.

 

Er schlief unruhig, so, wie wenn einem etwas schwer im Magen liegt oder wenn man als Kind auf ein großes Ereignis wartet. Zweimal stand er auf, presste das Gesicht an die kalte Scheibe, sah aber nichts als die menschenleere Straße und den sich drehenden Strahl des Leuchtturms, der eine Wolke durchbohren zu wollen schien. Und immer wieder hörte er das Heulen des Nebelhorns, jetzt noch lauter und aggressiver.

Beim zweiten Aufstehen sah er auf die Uhr. Es war vier, und Fischer mit einem Korb auf dem Rücken gingen mit laut klappernden Holzpantinen zum Hafen.

Fast unmittelbar darauf klopfte es heftig an seine Tür. Noch ehe er »Herein« rufen konnte, öffnete sie sich, und er sah das bestürzte Gesicht des Wirts.

Es musste viel Zeit vergangen sein, denn durch das Fenster schien die Sonne herein. Noch immer aber mahnte das Nebelhorn.

»Schnell! Der Kapitän liegt im Sterben …«

»Was für ein Kapitän?«

»Kapitän Joris. Julie war eben am Hafen und hat gebeten, Sie zu benachrichtigen und einen Arzt zu holen.«

Maigret, dessen Haar ganz zerzaust war, streifte

»Wollen Sie nichts zu sich nehmen, ehe Sie gehen? Eine Tasse Kaffee? Ein Glas Rum?«

Nein, dafür hatte er keine Zeit. Obwohl die Sonne schien, war es draußen recht frisch. Die Straße war noch feucht vom Tau.

Als er die Schleuse überquerte, sah der Kommissar das blassblaue glatte Meer, aber es war nur ein winziger Streifen, denn weiter draußen verhüllte ein dichter Nebelschleier den Horizont.

Auf der Brücke rief ihm jemand zu:

»Sind Sie der Kommissar aus Paris? Ich bin hier der Dorfpolizist … Freut mich … Sie wissen schon Bescheid?«

»Was?«

»Es muss furchtbar sein! Ach, da kommt schon der Wagen vom Arzt.«

Im Außenhafen schaukelten Fischerboote, rot und grün spiegelten sie sich im Wasser. Die Segel mit den schwarzen Nummern waren gehisst, vermutlich zum Trocknen.

Zwei oder drei Frauen standen vor dem kleinen Haus des Kapitäns neben dem Leuchtturm. Die Tür stand offen. Das Auto des Arztes fuhr an Maigret und dem Dorfpolizisten vorüber, der sich an ihn hängte.

Als Maigret das Haus betrat, kam Julie gerade die Treppe herunter, weinend, mit geschwollenen Lidern, geröteten Wangen. Man hatte sie aus dem Zimmer hinausgeschickt, wo der Arzt den Sterbenden untersuchte.

Unter dem Mantel, den sie sich hastig übergeworfen hatte, trug sie noch ihr weißes Nachthemd, und ihre bloßen Füße steckten in Pantoffeln.

»Es ist entsetzlich, Herr Kommissar! Sie können sich nicht vorstellen, wie entsetzlich! Gehen Sie schnell hinauf. Vielleicht …«

Maigret ging in das Schlafzimmer. Der Arzt richtete sich gerade wieder auf. Sein Gesicht sagte deutlich, dass es keine Rettung mehr gab.

»Polizei …«

»Ah, gut … Es geht zu Ende … Vielleicht noch zwei, drei Minuten … Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist er mit Strychnin vergiftet worden.«