cover
Alfred Bekker

Zwischen den Jahren: Ein Lesebuch zwischen Weihnachten und Neujahr

Erzählungen





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Ein großer Künstler

Seine feingliedrigen Hände verrieten den Orgel-Virtuosen; zwei Hände, die zu einem Namen gehörten, der auf Dutzenden von Plattencovers zu sehen war.

Oft genug übrigens in viel größeren Lettern, als die Namen jener, die die Musik komponiert hatten!

Stets trug einen eleganten Zwirn, fast so, als müßte er jederzeit bereit dazu sein, sich auf einer Bühne vor einem tausendköpfigen Publikum zu präsentieren. Von Paris bis New York hatte ihm das Publikum Ovationen entgegengebracht und die Kritiker waren zu Lobeshymnen verführt worden, wenn er seine schnellen Finger elegant über die Tasten fliegen ließ.

Ein großer, geradezu genialer Künstler - darin war man sich sich einig. Die kleine, verwitterte Dorfkirche, in der der Orgel-Virtuose gemeinsam mit seiner Frau Platz genommen hatte, gehörte ganz bestimmt nicht zu den Orten, an denen dieser Künstler üblicherweise auftrat. Und so hatte sein Besuch in diesem Ort auch ausschließlich familiäre Gründe: Die Eltern seiner Frau stammten aus dieser Gegend und wegen seines dichtgedrängten Terminkalenders war er ihnen schon seit lan-gem einen Besuch schuldig geblieben.

Jetzt saßen sie hier in der leeren Kirche und ließen den Raum auf sich wirken. Für den Orgel-Virtuosen bedeutete dieser Raum nichts, aber seine Frau verband mit ihm alte Erinnerungen. Und deshalb waren sie hier her gekommen.

Plötzlich hörten sie ein Geräusch. Ein Rumpeln. Sie drehten sich herum.

"Was war das?" fragte die Frau.

 

"In diesem alten Gemäuer gibt es bestimmt Mäuse!" erwiderte ihr Mann. Aber es waren keine Mäuse, sondern ein Orgelspieler, der kräftig in die Tasten griff und offensichtlich ein paar Kirchenlieder übte.

"Schauderhaft!" murmelte der Virtuose flüsternd vor sich hin. Seine sensible Künstlerseele litt jedesmal unsagbare Qualen, wenn der Dorforganist das Tempo verschleppte und plötzlich stockte, um dann um so schneller fortzufahren. Wie man nur einen derart unbegabten Menschen an eine Orgel setzen konnte, das war dem Virtuosen schleierhaft.

Während sich sein Gesicht auf Grund der zahlreichen Mißtöne qualvoll verzog, bemerkte er plötzlich das Lächeln in den Zügen seiner Frau.

"Ich kenne den Orgelspieler!" sagte sie. "Er hat hier schon den Gottsdienst begleitet, als ich noch klein war... Das der immer noch spielt..."

Der Virtuose zuckte mit den Schultern. "Vielleicht hätte er sich früher zur Ruhe setzen sollen. Hat er eigentlich immer schon so schlecht gespielt?"

In diesem Moment war es völlig still geworden. Der Orgelspieler hatte aufgehört zu üben und blickte jetzt von der Empore herab ins Kirchenschiff.

"Dann habe ich mich ja doch nicht verhört!" meinte er. Und als er die Frau erkannte, lächelte er. Der Virtuose hingegen bemerkte das Hörgerät am Ohr des Orgelspielers und dachte: Mein Gott, das darf doch nicht wahr sein!

Unglücklicherweise erzählte die Frau des Virtuosen, daß ihr Mann ebenfalls Organist sei, und so kam es von der Empore herab: "Kommen Sie doch herauf! Es macht immer Freude, sich mit einem Kollegen zu unterhalten!"

 

*

Der Virtuose und seine Frau wollten bis Sonntag nachmittag im Dorf bleiben, um sich dann auf den Heimweg zu machen.

Sie hatten am Sonntag noch nichteinmal gefrühstückt, da erreichte sie der Anruf des Orgelspielers. Er habe sich die rechte Hand verstaucht und könne unmöglich im Gottesdienst spielen. Umständlich und in aller gebotener Ehfurcht fragte er an, ob nicht der große Virtuose sich ausnahmsweise herablassen könnte, ein paar Choräle zu begleiten.

Erst wollte dieser nicht, aber seiner Frau zu Liebe sagte er schließlich doch ja.

"Ich würde Ihnen empfehlen, etwas früher in die Kirche zu gehen, damit Sie sich an die Orgel gewöhnen können!" empfahl der Alte, während der Virtuose nur ein gepreßtes "Danke!"

über die Lippen brachte. Auf einen solchen Ratschlag konnte er verzichten! Und so saß er wenig später an der Orgel. Der Gottesdienst fing an und der Virtuose griff in die Tasten.

Eine Choralbegleitung war für nichteinmal eine Fingerübung.

Aber schon nach den ersten Akkorden stockte er plötzlich -

und mit ihm die Gemeinde, die mitsang und sich wohl oder übel nach ihm richten mußte. Es fiel dem Virtuosen wie Schuppen von Augen: Eine ganze Reihe von Tasten brachte nichts weiter als ein dumpfes Ächszen hervor, andere blieben völlig stumm, wenn sie betätigt wurden. In diesem Moment, als es völlig still in der Kirche war und die Gemeinde darauf wartete, weitersingen zu können, da empfand der Virtuose tatsächlich soetwas wie professionelle Hochachtung für den alten Orgelspieler, der es Sonntag für Sonntag geschafft hatte, seine Choräle ausschließlich mit jenen Tasten zu spielen, die noch funktionierten.