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Inhalt

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Titel

Impressum

Motto

Prolog Moskau, Oktober 2006, September 2007

I Ukraine, 1943–1967

II Moskau, 1967–1974

III New York, 1975–1980

IV Paris, 1980–1989

V Moskau, Charkow, Dezember 1989

VI Vukovar, Sarajewo, 1991–1992

VII Moskau, Paris, Republik Serbische Krajina, 1990–1993

VIII Moskau, Altai, 1994–2001

IX Lefortowo, Saratow, Engels, 2001–2003

Epilog Moskau, Dezember 2009

Emmanuel Carrère

LIMONOW

Aus dem Französischen
von Claudia Hamm

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Die Arbeit des Übersetzerin an diesem Buch wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Erste Auflage 2012

Copyright © der deutschen Ausgabe 2012
MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH
Göhrener Str. 7 - 10437 Berlin
info@matthes-seitz-berlin.de
Copyright © der französischen Originalausgabe 2011
P.O.L Éditeur - 33 rue Saint-André-des-Arts - 75006 Paris

Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat Martin Kölbel, Berlin
Umschlaggestaltung Falk Nordmann, Berlin
E-Book-Konvertierung: Fotosatz Amann, Aichstetten

www.matthes-seitz-berlin.de

ISBN 978-3-88221-939-5

Wer den Kommunismus wiedererrichten will,
hat keinen Verstand. Wer ihm nicht nachtrauert,
hat kein Herz.


Wladimir Putin

Prolog

Moskau,
Oktober 2006,
September 2007

1

Bevor Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006 im Treppenhaus ihres Wohnblocks abgeknallt wurde, war der Name dieser couragierten Journalistin und erklärten Gegnerin der Politik Putins nur denjenigen bekannt, die sich mit den Kriegen in Tschetschenien genauer befassten. Von einem Tag auf den anderen jedoch wurde ihr trauriges, entschlossenes Gesicht im Westen zu einer Ikone der Meinungsfreiheit. Ich hatte gerade einen Dokumentarfilm in einer kleinen russischen Stadt gedreht und hielt mich oft in Russland auf, deshalb schlug mir eine Zeitschrift nach dem Bekanntwerden dieser Nachricht vor, das nächstbeste Flugzeug nach Moskau zu nehmen. Meine Mission bestand nicht darin, den Mord an Politkowskaja zu untersuchen, sondern Leute zum Sprechen zu bringen, die sie gekannt und geliebt hatten. So verbrachte ich eine Woche in den Büros der Nowaja Gaseta, der Zeitung, deren Starreporterin sie gewesen war, aber auch in jenen von Menschenrechtsorganisationen und Verbänden von Soldatenmüttern, deren Söhne in Tschetschenien getötet oder verstümmelt worden waren. Diese Büros waren winzig, schlecht beleuchtet und mit veralteten Computern ausgestattet. Auch die Aktivisten, die mich dort empfingen, waren oft alt und auf dramatische Weise in geringer Zahl. Es war ein kleiner Kreis, in dem jeder jeden kennt und wo auch ich bald jeden kannte – und im Grunde bildet dieser Kreis allein die demokratische Opposition in Russland.

Neben einigen russischen Freunden kenne ich in Moskau einen kleinen Zirkel, der sich aus abgewanderten französischen Journalisten und Geschäftsmännern zusammensetzt, und wenn ich ihnen abends von meinen Besuchen des Tages erzählte, lächelten sie leicht bedauernd: Diese tugendhaften Demokraten und Menschenrechtsaktivisten, von denen ich berichtete, waren freilich respektable Leute, aber in Wirklichkeit scherte sich keiner einen Dreck um sie. Sie führten einen von vornherein verlorenen Kampf in einem Land, in dem man sich um Freiheiten auf dem Papier wenig sorgt, solange jeder das Recht hat, sich zu bereichern. Im Übrigen konnte nichts meine ausgewanderten Freunde so sehr amüsieren oder aufregen – je nach Charakter –, wie die in der öffentlichen Meinung Frankreichs verbreitete These, der Mord an Politkowskaja sei vom FSB – dem Sicherheitsdienst, der zu Zeiten der Sowjetunion KGB hieß – und mehr oder weniger von Putin selbst in Auftrag gegeben worden.

»Hör mal zu«, sagte Pawel zu mir, ein französisch-russischer Akademiker, der sich aufs Geschäftemachen verlegt hatte, »langsam reicht’s mit diesem Blödsinn. Weißt du, was ich gelesen habe – ich glaube im Nouvel Observateur? Es sei doch seltsam, dass Politkowskaja sich ausgerechnet an Putins Geburtstag habe kaltmachen lassen. Ausgerechnet! Ist dir klar, wie blöd einer sein muss, um da schwarz auf weiß dieses ausgerechnet hinzuschreiben? Was ergibt denn das für eine Szene? Krisenversammlung beim FSB. Der Chef sagt: Leute, wir müssen uns mal die Köpfe zerbrechen. Wladimir Wladimirowitsch hat bald Geburtstag, und wir müssen uns ein Geschenk einfallen lassen, das ihm Freude macht. Hat jemand eine Idee? Allgemeines Grübeln, dann erhebt sich eine Stimme: Und wenn wir ihm den Kopf von Anna Politkowskaja bringen, dieser Erbsenzählerin, die ihn immerzu kritisiert? Zustimmendes Murmeln in der Runde. Da ist sie, die gute Idee! An die Arbeit, Jungs, ihr habt freie Hand. Entschuldige«, sagt Pawel, »aber diese Szene kaufe ich nicht ab. Vielleicht in einem russischen Remake von Mein Onkel, der Gangster. Aber nicht in Wirklichkeit. Und weißt du was? Die Wirklichkeit ist das, was Putin gesagt hat und was die guten Seelen im Westen so dermaßen schockiert: Der Mord an Anna Politkowskaja und das ganze Heckmeck, das darum gemacht wird, schaden dem Kreml doch viel mehr als die Artikel, die sie zu Lebzeiten in ihrer Zeitung geschrieben und die keiner gelesen hat.«

Ich hörte Pawel und seinen Freunden zu, wie sie in einem dieser schönen Apartments, die Leute wie sie für ein Vermögen im Stadtzentrum von Moskau mieten, mit dem Argument die Macht verteidigten, dass erstens die Dinge tausendmal schlimmer stehen könnten und dass sich zweitens die Russen damit abfänden – in wessen Namen sollte man sie also schulmeistern? Aber ich hörte auch die traurigen, verlebten Frauen an, die mir den ganzen Tag lang Geschichten von nächtlichen Verschleppungen in Fahrzeugen ohne Nummernschilder erzählten, von Soldaten, die gefoltert wurden, aber nicht von ihren Feinden, sondern ihren eigenen Vorgesetzten, und vor allem von Rechtsverweigerung. Letzteres kehrte im Gespräch ständig wieder. Dass Polizei oder Armee korrupt sind, liegt in der Ordnung der Dinge. Dass ein menschliches Leben wenig wert ist, gehört zur russischen Tradition. Aber die Arroganz und Brutalität der Machtrepräsentanten, wenn einfache Bürger es wagten, sie um Rechenschaft zu bitten, und ihre absolute Gewissheit, straffrei zu bleiben, die ertrugen weder die Mütter der Soldaten noch die der Kinder, die in der Schule von Beslan im Kaukasus massakriert worden waren, noch die Angehörigen der Opfer aus dem Dubrowka-Theater.

Erinnern Sie sich, es war im Oktober 2002. Drei Tage lang zeigten sämtliche Fernsehstationen der Welt nichts anderes als das: Tschetschenische Terroristen hatten während einer Vorstellung des Musicals Nord-Ost das gesamte Theaterpublikum als Geisel genommen. Die Spezialeinheiten, die jede Verhandlung verweigerten, lösten das Problem, indem sie die Geiselnehmer vergasten und dabei die Geiseln gleich mit – und zwar mit einer Entschlossenheit, zu der Präsident Putin sie ausdrücklich beglückwünschte. Die Zahl der zivilen Opfer ist umstritten, sie liegt bei etwa einhundertfünfzig, und ihre Angehörigen werden als Komplizen der Terroristen angesehen, wenn sie fragen, ob man dabei nicht anders hätte vorgehen können, oder wenn sie darum bitten, man möge sie und ihre Trauer mit etwas weniger Achtlosigkeit behandeln. Seither treffen sie sich jedes Jahr zu einer Gedenkfeier, welche die Polizei zwar nicht ganz zu verbieten wagt, dafür aber überwacht wie eine Versammlung von Aufständischen – wozu sie auch wirklich inzwischen geworden ist.

Ich bin zu einer dieser Feiern hingegangen. Ich schätze, es waren zwei-, dreihundert Menschen auf dem Platz vor dem Theater und rings um sie herum noch einmal genauso viele Angehörige des OMON, des russischen Äquivalents zu unserer Bereitschaftspolizei CRS und wie diese mit Helmen, Schutzschilden und Schlagstöcken bewaffnet. Es begann zu regnen. Regenschirme öffneten sich über Kerzen, die mich mit ihren Papierkrausen zum Schutz der Finger vor dem heißen Wachs an die orthodoxen Feiern erinnerten, zu denen man mich früher als Kind zu Ostern mitnahm. Statt der Ikonen prangten Schilder mit den Fotos und Namen der Toten. Die Menschen, die diese Schilder und Kerzen trugen, waren Waisen, Witwen und Witwer oder Eltern, die ein Kind verloren hatten – wofür das Russische so wenig wie das Französische ein eigenes Wort besitzt. Nicht ein einziger staatlicher Repräsentant war gekommen, wie ein Vertreter der Familien mit kaltem Zorn unterstrich, der ein paar öffentliche Worte formulierte – die einzigen während der gesamten Veranstaltung. Keine Reden, keine Slogans, keine Gesänge. Man begnügte sich damit, schweigend mit der Kerze in der Hand dazustehen oder leise in kleinen Grüppchen zu sprechen, umzingelt von einer Mauer von OMON-Einheiten. Ich blickte mich um und erkannte einige Gesichter wieder: Außer den trauernden Familien waren die Großen und Kleinen dieser überschaubaren Welt von Oppositionellen gekommen, in der ich seit einer Woche unterwegs war, und hier und da nickten wir uns mit der angemessenen Trauer im Blick zu.

Oberhalb der Stufen, vor den geschlossenen Pforten des Theaters, sah ich eine Gestalt, die mir entfernt bekannt vorkam, aber es gelang mir nicht, sie zu identifizieren. Es war ein Mann in schwarzem Mantel, der wie alle anderen eine Kerze in der Hand hielt und von mehreren Personen umringt war, mit denen er halblaut sprach. Wie er so in der Mitte eines Kreises oberhalb der Menge stand, abseits und doch die Blicke auf sich ziehend, machte er einen wichtigen Eindruck, und merkwürdigerweise dachte ich an den Chef einer Gang, der von seinen Bodyguards umgeben dem Begräbnis eines seiner Männer beiwohnt. Ich sah nur sein abgewandtes Profil; aus dem hochgeschlagenen Kragen seines Mantels stand ein kleiner Spitzbart heraus. Eine Frau neben mir hatte ihn auch entdeckt und sagte zu ihrer Nachbarin: »Eduard ist da, das ist gut.« Er wandte den Kopf in unsere Richtung, als habe er sie trotz der Entfernung gehört. Die Flamme seiner Kerze höhlte die Züge seines Gesichts aus.

Ich erkannte Limonow.

2

Wie lange schon hatte ich nicht mehr an ihn gedacht? Ich hatte ihn Anfang der Achtzigerjahre kennengelernt, als er bekränzt vom Erfolg seines Skandalromans Fuck off, Amerika nach Paris gezogen war. Darin erzählte er von dem armseligen und glamourösen Leben, das er in New York geführt hatte, nachdem er aus der Sowjetunion emigriert war: von Gelegenheitsjobs, seinem Leben als Tagedieb in einer heruntergekommenen Absteige und zuweilen auch auf der Straße, hetero- und homosexuellen Bettgeschichten, Besäufnissen, Diebstählen und Prügeleien – was die Gewalt und Wut betrifft, konnte es an die nächtlichen Streifzüge von Robert De Niro in Taxi Driver denken lassen, im Hinblick auf seinen Lebensdrang an die Romane von Henry Miller, mit dem Limonow die Dickhäutigkeit und die innere Ruhe eines Kannibalen teilte. Das Buch hatte etwas, und sein Autor enttäuschte nicht, wenn man ihm begegnete. Sowjetische Dissidenten waren damals für gewöhnlich schwere, schlecht gekleidete Bartträger, die in kleinen, mit Büchern und Ikonen vollgestopften Wohnungen lebten, wo sie nächtelang vom Heil der Welt durch die Orthodoxie redeten –stattdessen fand man sich vor einem durchtriebenen, witzigen, anziehenden Typen wieder, der die Aura eines Matrosen auf Landgang und gleichzeitig die eines Rockstars hatte. Es war die große Zeit des Punks, sein erklärter Held war Johnny Rotten, der Leader der Sex Pistols, und er hatte keine Hemmungen, Solschenizyn als altes Arschloch zu bezeichnen. Sein new wave-artiges Dissidententum war erfrischend, und bei seiner Ankunft war Limonow der Liebling der kleinen literarischen Welt von Paris – in der ich selbst schüchtern debütierte. Limonow war kein fiktionaler Autor, er konnte nur von seinem Leben erzählen, aber sein Leben war faszinierend, und er erzählte gut davon, in einem einfachen, plastischen Stil ohne literarisches Getue und mit der Energie eines russischen Jack London. Nach seinen Chroniken aus der Emigration veröffentlichte er Erinnerungen an seine Kindheit in der Vorstadt von Charkow in der Ukraine, an die Zeit als jugendlicher Kleinkrimineller und schließlich als Avantgarde-Dichter im Moskau unter Breschnew. Er schilderte die Sowjetunion und diese Epoche mit spöttischer Nostalgie als ein Paradies für pfiffige Hooligans, und nicht selten hielt er am Ende eines Abendessens, wenn alle außer ihm betrunken waren – denn er selbst hält dem Alkohol wundersam stand –, ein Loblied auf Stalin, was man seiner Lust an der Provokation zuschrieb. Traf man ihn im Palace, trug er das Segelhemd eines Rote Armee-Offiziers zur Schau. Er schrieb im L’Idiot international, der Zeitung von Jean-Edern Hallier, die keine ideologischen Schwarz-Weiß-Zeichner, sondern nonkonformistische, brillante Geister zusammenführte. Er liebte Prügeleien und hatte einen unglaublichen Erfolg bei Frauen. Die Freiheit seines ganzen Auftretens und seine abenteuerliche Vergangenheit imponierten uns jungen Bürgerlichen. Limonow war unser Barbar, unser Gauner: Wir verehrten ihn.

Die Dinge begannen in eine seltsame Richtung zu laufen, als der Kommunismus zusammenbrach. Jeder freute sich darüber außer ihm, und er schien nicht zu scherzen, wenn er für Gorbatschow ein Erschießungskommando forderte. Er begann, auf lange Reisen in den Balkanraum zu verschwinden, wo er, wie man mit Entsetzen entdeckte, an der Seite von serbischen Truppen in den Krieg zog – und das hieß in unseren Augen: an der Seite von Nazis oder Völkermördern wie den Hutus. In einer Dokumentation der BBC sah man ihn unter dem wohlwollenden Blick von Radovan Karadžić, dem Chef der bosnischen Serben und allseits bekannten Kriegsverbrecher, auf das belagerte Sarajewo schießen. Nach diesen Heldentaten kehrte er nach Russland zurück, wo er eine Vereinigung mit dem vielversprechenden Namen Nationalbolschewistische Partei gründete. Zuweilen zeigten Reportagen junge Typen mit kahlrasiertem Schädel und schwarzer Kleidung, wie sie mit halbem Hitlergruß (erhobener Arm), halb kommunistischem Gruß (geschlossene Faust) durch die Straßen von Moskau zogen und Parolen brüllten wie »Stalin! Berija! Gulag!« (und soviel meinten wie: Gebt sie uns wieder!) Die Fahnen, die sie schwangen, waren denen des Dritten Reichs nachempfunden, jedoch mit Hammer und Sichel anstelle des Hakenkreuzes. Und der Besessene mit der Baseballkappe, der mit dem Megafon in der Faust an der Spitze dieser Aufmärsche herumfuchtelte, war genau jener witzige und verführerische Kerl, dessen Freunde zu sein wir wenige Jahre zuvor alle noch so stolz gewesen waren. Es war, als würde man die Entdeckung machen, ein ehemaliger Schulkamerad sei ein Hauptakteur des organisierten Verbrechens geworden oder habe sich bei einem terroristischen Attentat selbst in die Luft gesprengt. Man denkt an ihn zurück, wühlt in eigenen Erinnerungen und versucht, sich die Verkettung von Umständen und persönlichen Motiven zusammenzureimen, die sein Leben so weit von dem unseren weggeführt hatten. Im Jahr 2001 erfuhren wir, dass Limonow verhaftet und verurteilt worden war und man ihn aus reichlich obskuren Gründen, bei denen von Waffenhandel und einem versuchten Staatsstreich in Kasachstan die Rede war, ins Gefängnis gesteckt hatte. Untertrieben gesagt haben wir uns in Paris nicht gerade überschlagen, um Petitionen für seine Freilassung zu unterzeichnen.

Ich wusste nicht, dass er aus dem Gefängnis entlassen worden war, und ich war vor allem überrascht, ihn an diesem Ort wiederzufinden. Er machte weniger auf Rocker als damals und wirkte eher intellektuell, aber er hatte immer noch dieselbe markige und willensstarke Aura, und sie war selbst auf hundert Meter Entfernung zu spüren. Ich zögerte, ob ich mich in die Schlange der Leute einreihen sollte, die offensichtlich bewegt waren von seiner Anwesenheit und zu ihm gingen, um ihn zu begrüßen. Doch für einen Augenblick kreuzte sein Blick den meinen, und da er mich nicht zu erkennen schien und ich wiederum nicht recht wusste, was ich ihm hätte sagen sollen, ließ ich es bleiben.

Verwirrt von dieser Begegnung ging ich zurück ins Hotel, wo eine neue Überraschung auf mich wartete. Beim Durchblättern einer Artikelsammlung von Anna Politkowskaja entdeckte ich, dass sie zwei Jahre zuvor den Prozess von neununddreißig Aktivisten der Nationalbolschewistischen Partei verfolgt hatte, die angeklagt waren, mit Rufen wie »Putin, verschwinde!« den Sitz der Präsidialverwaltung überfallen und demoliert zu haben. Für diese Tat hatten sie hohe Gefängnisstrafen aufgebrummt bekommen – und Politkowskaja verteidigte sie lautstark als junge, mutige und unbestechliche Menschen, die mehr oder weniger die Einzigen seien, die noch Vertrauen in die moralische Zukunft des Landes vermittelten.

Ich konnte es nicht fassen. Mir war der Fall eindeutig und rettungslos verloren erschienen: Limonow war ein grauenhafter Faschist an der Spitze einer Miliz von Skinheads. Und nun sprach eine Frau, die seit ihrem Tod einmütig als Heilige angesehen wird, von ihm und den seinen als von Helden des demokratischen Kampfs in Russland! Und im Internet fand ich dieselben Töne seitens Elena Bonner. Elena Bonner! Der Witwe von Andrei Sacharow, dem großen Gelehrten, dem großen Dissidenten, moralischen Gewissen und Friedensnobelpreisträger! Auch sie hielt viel von den Nazboly – so nennt man in Russland die Mitglieder der Nationalbolschewistischen Partei, wie ich bei dieser Gelegenheit erfuhr. Sie sollten vielleicht darüber nachdenken, den Namen ihrer Partei zu ändern, sagte sie, denn für manche Ohren höre er sich übel an, aber ansonsten seien es tolle Leute.

Einige Monate später erfuhr ich, dass unter dem Namen Drugaja Rossija, Das andere Russland, ein politisches Bündnis entstanden war, das von Garri Kasparow, Michail Kassjanow und Eduard Limonow angeführt wurde – das heißt von einem der größten Schachspieler aller Zeiten, einem ehemaligen Premierminister Putins und einem nach unseren Maßstäben anrüchigen Schriftsteller – ein seltsames Gespann. Ganz offensichtlich hatte sich etwas geändert, vielleicht nicht Limonow selbst, aber auf jeden Fall die Rolle, die er in seinem Land spielte. Und als Patrick de Saint-Exupéry, den ich als Korrespondenten des Figaro in Moskau kennengelernt hatte, mir von einem neuen Reportagemagazin berichtete, dessen Erscheinen er vorbereitete, und mich fragte, ob ich ein Thema für die erste Nummer wisse, antwortete ich ohne weiter nachzudenken: Limonow. Patrick schaute mich mit großen Augen an: »Limonow ist ein kleiner Gauner.« Ich antwortete: »Ich weiß nicht, man müsste sich das mal genauer anschauen.«

»Gut«, unterbrach mich Patrick, ohne weitere Erklärungen zu verlangen, »schau es dir an.«

Ich brauchte eine ganze Weile, um seine Spur wiederzufinden und über Sascha Iwanow, einen Moskauer Verleger, an seine Handynummer zu gelangen. Und als ich die Nummer besaß, brauchte ich nochmals eine Weile, bis ich sie wählte. Ich zögerte, welchen Ton ich anschlagen sollte, nicht nur ihm gegenüber, sondern auch für mich selbst: War ich ein alter Freund oder ein argwöhnischer Ermittler? Sollte ich Russisch oder Französisch sprechen? Ihn duzen oder siezen? Ich erinnere mich an diese Unschlüssigkeit, doch seltsamerweise nicht an meinen ersten Satz, als er gleich nach dem ersten Klingelzeichen und noch vor dem zweiten Rufton abhob. Wahrscheinlich nannte ich meinen Namen, und ohne nur eine Sekunde zu zögern antwortete er: »Ah, Emmanuel. Wie geht’s?« Überrumpelt nuschelte ich: »Gut«. Wir kannten uns nicht näher und hatten uns seit fünfzehn Jahren nicht gesehen, ich glaubte ihn erinnern zu müssen, wer ich sei. Doch im selben Augenblick fuhr er fort: »Sie waren letztes Jahr bei der Versammlung am Dubrowka-Theater, nicht?«

Ich war sprachlos. Aus hundert Meter Entfernung hatte ich ihn lange angestarrt, doch unsere Blicke hatten sich nur einen kurzen Moment lang gekreuzt, und seinerseits hatte nichts, weder ein Innehalten noch ein Wimpernzucken, darauf hingedeutet, dass er mich erkannt hatte. Als ich mich später von meiner Verblüffung erholt hatte, dachte ich, Sascha Iwanow, unser Verleger-Freund, habe ihm vielleicht meinen Anruf angekündigt gehabt, aber ich hatte Sascha Iwanow nichts von meiner Teilnahme an der Dubrowka-Veranstaltung erzählt, das Rätsel blieb also ungelöst. In der Folgezeit wurde mir klar, dass es sich nicht um ein Rätsel handelte, sondern dass Limonow ein ungeheures Gedächtnis besaß und eine nicht weniger ungeheure Selbstkontrolle. Ich sagte ihm, dass ich einen längeren Artikel über ihn schreiben wolle, und er willigte umstandslos ein, sich zwei Wochen lang von mir begleiten zu lassen – »außer wenn sie mich wieder einlochen«, fügte er hinzu.

3

Zwei junge, kahlrasierte Muskelprotze in Jeans, schwarzen Bomberjacken und Springerstiefeln holen mich ab, um mich zu ihrem Chef zu bringen. In einem schwarzen Wolga mit getönten Scheiben fahren wir durch Moskau, und ich rechne schon beinahe damit, dass sie mir die Augen verbinden, doch nein, meine Schutzengel begnügen sich damit, eilig den Hof des Wohnhauses, dann das Treppenhaus und schließlich den Treppenabsatz zu inspizieren, der zu einer kleinen, dunklen Wohnung führt, die wie eine Hausbesetzerbleibe eingerichtet ist und wo sich zwei weitere Skins mit Zigarettenrauchen die Zeit totschlagen. Eduard pendelt zwischen drei oder vier Wohnsitzen in Moskau, erklärt mir einer der beiden, und er wechselt sie so oft wie möglich, verbietet sich wiederkehrende Uhrzeiten und tut niemals einen Schritt ohne Bodyguards – Mitgliedern seiner Partei.

Meine Reportage fängt gut an, sage ich mir, während man mich warten lässt: geheime Verstecke, ein Leben im Untergrund, all das ist äußerst romantisch. Es fällt mir nur schwer, mich zwischen zwei Versionen von Romantik zu entscheiden: Terrorismus oder Widerstandsnetz, Carlos oder Jean Moulin – solange die offizielle Version nicht feststeht, haben beide jedenfalls gewisse Ähnlichkeiten. Ich frage mich auch, was Limonow seinerseits von meinem Besuch erwartet. Wird er mir misstrauen, weil die wenigen Portraits, die westliche Journalisten von ihm zeichneten, ihn zu einem gebrannten Kind gemacht haben, oder setzt er auf mich zum Zweck seiner Ehrenrettung? Ich bin ja selbst unentschieden. Es ist seltsam, sich auf eine Begegnung mit jemandem vorzubereiten, über den man vorhat zu schreiben, und dabei so wenig zu wissen, wie man es mit ihm halten will.

In dem spartanischen Büro mit geschlossenen Vorhängen, in das man mich schließlich führt, steht er da, in Jeans und schwarzem Pullover. Ein Händedruck, kein Lächeln. Er ist auf der Hut. In Paris duzten wir einander, aber am Telefon hatte er »Sie« gesagt, wir bleiben also beim »Sie«. Trotz der fehlenden Praxis spricht er besser Französisch als ich Russisch, also gut, dann Französisch. Früher machte er täglich eine Stunde lang Liegestütze und Hanteltraining, das scheint er beibehalten zu haben, denn mit fünfundsechzig Jahren ist er immer noch schlank: ein flacher Bauch, eine jugendliche Gestalt, die glatte, matte Haut eines Mongolen; aber er trägt jetzt einen Oberlippen- und einen Spitzbart, was ihm ein wenig das Aussehen des gealterten d’Artagnan in Zwanzig Jahre später und viel von einem bolschewistischen Kommissar und insbesondere von Trotzki gibt – nur dass Trotzki meines Wissens nach kein Bodybuilding trieb.

Im Flugzeug hatte ich eines seiner besten Bücher wiedergelesen, das Tagebuch eines Versagers, dessen Klappentext Farbe bekennt: »Wenn Charles Manson oder Lee Harvey Oswald Tagebuch geführt hätten, wäre es diesem hier ähnlich gewesen.« Ich habe einige Passagen daraus in mein Notizbuch kopiert. Diese hier zum Beispiel: »Ich träume von einem gewaltsamen Aufstand. Ich werde niemals ein Nabokov werden, ich werde nie in der Schweizer Prärie auf englischsprechenden, haarigen Beinen Schmetterlingen hinterherlaufen. Geben Sie mir eine Million – ich kaufe dafür Waffen und sorge in egal welchem Land für einen Aufstand.« Das war das Szenario, das er sich mit dreißig als mittelloser Emigrant auf dem Pflaster von New York sitzengelassen ausmalte – und bitteschön, dreißig Jahre später wird der Film gedreht. Er spielt darin die Rolle, von der er geträumt hatte: den Berufsrevolutionär, den Stadtguerillero, Lenin in seinem Panzerwagen.

Ich sage ihm das. Er muss lachen, ein kurzes, trockenes Lachen ohne Liebenswürdigkeit, bei dem er durch die Nasenlöcher schnaubt. »Stimmt«, gibt er zu. »Was mein Leben angeht, habe ich mein Programm durchgezogen.« Aber er führt aus: Es sei jetzt nicht mehr der richtige Moment für einen bewaffneten Aufstand. Er träume nicht mehr von einem Gewaltakt, sondern eher von einer orangen Revolution, wie sie gerade in der Ukraine stattfand. Einer friedlichen, demokratischen Revolution, die der Kreml seiner Meinung nach mehr als alles andere fürchtet und die er bereit ist, mit allen Mitteln niederzuschlagen. Aus diesem Grund führt er ein Leben als Verfolgter. Vor ein paar Jahren hat man ihn mit Baseballschlägern fertiggemacht. Und noch vor Kurzem ist er knapp einem Attentat entgangen. Sein Name rangiert auf den Listen der »Feinde Russlands« ganz oben, das heißt der Todeskandidaten, deren Adressen und Telefonnummern von inoffiziellen Handlangern der Regierung weitergereicht werden und die man auswählt, um sie öffentlich an den Pranger zu stellen. Die anderen auf diesen Listen waren Politkowskaja, die mit einer Pumpgun kaltgemacht wurde, der Ex-FSB-Offizier Litwinenko, den man mit Polonium vergiftete, nachdem er die kriminellen Machenschaften seiner Behörde enthüllt hatte, und der Milliardär Chodorkowski, der heute in Sibirien inhaftiert ist, weil er sich in die Politik eingemischt hat. Und der nächste sei er, Limonow.

Am nächsten Tag hält er eine Pressekonferenz mit Kasparow. Im Saal erkenne ich die meisten der Aktivisten wieder, denen ich während meiner Reportage über Politkowskaja begegnet war, aber es sind auch ziemlich viele Journalisten da, vor allem aus dem Ausland. Manche wirken sehr aufgeregt, wie dieses schwedische Team, das keinen Kurzbericht machen will, sondern eine große Dokumentation mit drei Monaten Dreharbeiten über das, was sie der unaufhaltsame Aufstieg der Drugaja Rossija-Bewegung zu sein hoffen. Offenbar sind die Schweden davon felsenfest überzeugt und rechnen damit, ihren Film sehr teuer in alle Welt zu verkaufen, wenn Kasparow und Limonow erst einmal an der Macht sind.

Mächtige Schultern, ein warmes Lächeln – ein sympathischer Typ, dieser armenische Jude: Als Kasparow und Limonow die Tribüne besteigen, wirkt der ehemalige Schachchampion imposanter als letzterer, der mit seinem Spitzbart und der Brille eher die Rolle des kaltblütigen Strategen im Schatten des geborenen Leaders zu spielen scheint. Auch ist es Kasparow, der entschlossen loslegt und erklärt, warum die Präsidentschaftswahlen, die im kommenden Jahr – 2008 – bevorstehen, ein historisches Ereignis seien. Putin beende seine zweite Amtszeit, die Verfassung verbiete ihm eine dritte, und er habe rings um ihn herum alle so erfolgreich weggebissen, dass kein Kandidat aus den Reihen der Macht in Sichtweite ist. Zum ersten Mal in der Geschichte Russlands habe eine demokratische Opposition eine reale Chance. Da die Medien mundtot gemacht würden, wisse man nicht, inwieweit die Russen genug von den Oligarchen, der Korruption und der Allmacht des FSB haben, aber er, Kasparow, wisse es. Er redet gewandt, seine Stimme hat das Timbre eines Cellos, und ich beginne mir einzubilden, dass die Schweden möglicherweise recht haben. Ich möchte gern glauben, dass ich etwas Großem, Außergewöhnlichem beiwohne, etwas wie den Anfängen der Solidarność. In diesem Moment feixt mein Nachbar, ein englischer Journalist, und flüstert mir mit gingeschwängertem Atem zu: »Bullshit. Die Russen verehren Putin und verstehen nicht, warum eine beschissene Verfassung ihnen verbieten soll, einen so guten Präsidenten dreimal hintereinander zu wählen. Aber vergessen Sie eines nicht: Was die Verfassung verbietet, sind drei Amtszeiten in Folge. Doch sie verbietet nicht, eine Runde auszusetzen mit einem Strohmann an der Spitze, der den Sessel warm hält, und danach wiederzukommen. Sie werden sehen.«

Dieses Beiseit dämpft meine Begeisterung. Auf einen Schlag wechselt die Wahrheit wieder auf die Seite der Realisten, der Leute, die Bescheid wissen und sich nichts erzählen lassen, auf die meines spitzzüngigen Freundes Pawel, demzufolge die Geschichte von einer demokratischen Opposition in Russland etwas sei wie eine Rochade beim Dame-Spiel: in den Spielregeln nicht vorgesehen, hat noch nie funktioniert und wird auch nie funktionieren. Kasparow, den ich einen Augenblick zuvor noch bereit war, für einen russischen Wałęsa zu halten, wird zu einer Art François Bayrou, der mit jedem paktiert. Seine Rede kommt mir nun pathetisch und langatmig vor, und mein Nachbar und ich beginnen, eine Komplizenschaft von Hinterbänklern zu entwickeln, die unter den letzten Tischen im Klassenraum schweinische Bilder austauschen. Ich zeige ihm ein Buch von Limonow, das ich gerade gekauft habe. Es heißt Anatomie des Helden, wurde außer in Serbien nirgendwo übersetzt und enthält einen Innenteil mit pfundigen Fotos, auf denen man den fraglichen Helden, nämlich Limonow himself, in Tarnkleidung neben dem serbischen Milizionär Arkan herumstolzieren sieht, neben Jean-Marie Le Pen, dem russischen Populisten Schirinowski, dem Söldnerführer Bob Denard und noch ein paar ähnlichen Humanisten. »Fucking fascist …«, kommentiert der englische Journalist.

Wir richten beide unsere Blicke auf Limonow. Etwas abseits neben Kasparow stehend hört er ihm zu, wie dieser die Verfolgungen durch die Staatsmacht anprangert, und er macht nicht den Anschein, auf das zu warten, worauf alle Politiker während einer solchen Veranstaltung warten würden: dass der Redner endlich fertig werde, um an seiner Stelle das Wort zu ergreifen. Er sitzt einfach da, aufmerksam, so aufrecht und ruhig wie ein buddhistischer Mönch bei der Meditation. Die warme Stimme Kasparows ist jetzt nur noch ein Hintergrundgebrumm: Nun ist es das unergründliche Gesicht Limonows, das ich unter die Lupe nehme, und je mehr ich es prüfe, desto deutlicher wird mir bewusst, dass ich nicht die geringste Vorstellung davon habe, was er denkt. Glaubt er wirklich an diese orange Revolution? Amüsiert es den outlaw, den bissigen Hund, mitten unter ehemaligen Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten, die er sein ganzes Leben lang als naiv bezeichnet hat, den tugendhaften Demokraten zu spielen? Genießt er es im Stillen, sich als Wolf im Schafstall zu sehen?

Ich finde in meinem Heft eine andere Passage aus dem Tagebuch eines Versagers wieder: »Ich habe mich auf die Seite des Schlechten geschlagen, auf die von Käseblättern, Flugzettelkopien und Parteien, die nicht die geringste Chance haben. Ich liebe politische Versammlungen, die nur eine Handvoll Leute zusammenbringen, und die Kakophonie von untalentierten Musikern. Und ich hasse Symphonieorchester. Wenn ich eines Tages die Macht besäße, würde ich allen Geigern und Cellisten die Kehle durchschneiden.« Ich hätte die Stelle gern dem englischen Journalisten übersetzt, aber das ist nicht nötig; er musste im selben Moment das Gleiche gedacht haben, denn er beugt sich zu mir herüber und sagt, dieses Mal ohne im Geringsten zu lächeln: »Seine Freunde sollten sich in Acht nehmen. Wenn er zufällig an die Macht käme, wäre das Erste, was er täte, sie alle über den Haufen zu schießen.«

Auch wenn es nicht von statistischem Wert ist: Im Laufe dieser Reportage habe ich mit über dreißig Personen Gespräche über Limonow geführt, darunter sowohl Unbekannte, deren Auto ich mitbenutzte, denn jedermann in Moskau fährt schwarz Taxi, als auch Freunde, die zu denen gehören, die man mit viel Vorsicht formuliert russische Toskana-Fraktion oder linke Yuppies nennen könnte: Künstler, Journalisten, Verleger, die ihre Möbel bei IKEA kaufen und die russische Ausgabe von Elle lesen, Leute, die alles andere als überdreht sind – und dennoch hörte ich von keinem von ihnen ein Wort gegen Limonow. Keiner sprach das Wort »Faschismus« aus, und wenn ich sagte: »aber diese Fahnen, diese Slogans …«, dann zuckten sie mit den Schultern und fanden mich reichlich prüde. Für sie war es, als sei ich gekommen, um Houellebecq, Lou Reed und Cohn-Bendit gleichzeitig zu interviewen: Zwei Wochen mit Limonow, hast du ein Glück! Das bedeutet freilich nicht, dass diese vernünftigen Leute bereit wären, ihn zu wählen – nicht mehr als die Franzosen, stelle ich mir vor, Houellebecq wählen würden, wenn sich die Gelegenheit dazu böte. Aber sie lieben sein aufrührerisches Wesen, sie bewundern sein Talent und seine Unverfrorenheit, und die Zeitungen, die ununterbrochen über ihn berichten, wissen das. Alles in allem: Er ist ein Star.

Ich begleite ihn zu einer Soiree beim Radiosender Echo Moskau, einem der gesellschaftlichen Ereignisse der Saison. Er kommt mit seinen Gorillas hin, aber auch mit seiner neuen Frau, Jekaterina Wolkowa, einer jungen Schauspielerin, die durch eine Fernsehserie bekannt geworden ist. Unter der politisch-medialen Prominenz, die sich auf dieser Soiree drängt, scheinen sie jeden zu kennen, und niemand wird mehr fotografiert und gefeiert als sie. Ich wünschte, Limonow schlüge mir vor, sie danach zum Essen zu begleiten, aber er tut nichts dergleichen. Noch weniger lädt er mich in die Wohnung ein, in der Jekaterina mit ihrem gemeinsamen Baby wohnt – denn sie haben, wie ich an diesem Abend erfahre, einen acht Monate alten Sohn. Schade: Ich hätte gern den Ort gesehen, an dem der Krieger zwischen zwei Geheimverstecken die Füße ausstreckt. Ich hätte ihn gern in der für ihn überraschenden Rolle des Familienvaters ertappt. Und vor allem hätte ich gern Jekaterina näher kennengelernt, denn sie ist hinreißend und hat eine Art von Liebenswürdigkeit an sich, die ich für das Vorrecht amerikanischer Schauspielerinnen gehalten hatte: Sie lacht viel, staunt über alles, was man ihr sagt, und lässt einen stehen, wenn jemand Wichtigeres vorbeikommt. Ich finde trotzdem Zeit, fünf Minuten mit ihr vor dem Buffet zu plaudern, und das ist genug, um mit einer unbedarften Frische erzählt zu bekommen, dass sie sich vor der Begegnung mit Eduard nicht für Politik interessiert habe, ihr jetzt aber klar geworden sei, dass Russland ein totalitärer Staat ist, in dem man für Freiheit kämpfen und an den Protestmärschen teilnehmen muss – und dem scheint sie genauso ernsthaft nachzugehen wie ihren Yoga-Seminaren. Am nächsten Tag lese ich in einer Frauenzeitschrift ein Interview mit ihr, in dem sie Schönheitstipps gibt und in zärtlicher Umarmung mit ihrem berühmten Oppositionellen von Mann posiert. Was mich allerdings vollkommen verblüfft, ist, dass sie, zur Politik befragt, dasselbe wiederholt, was sie mir gegenüber äußerte, und Putin mit ebenso wenig Vorsicht zum Schuldigen erklärt wie eine engagierte Schauspielerin bei uns, die sich für illegale Einwanderer einsetzt, Sarkozy an den Pranger stellen würde. Ich versuche mir vorzustellen, was unter Stalin oder selbst unter Breschnew passiert wäre, würde man von der völlig unwahrscheinlichen These ausgehen, dass ähnliche Sätze hätten gedruckt werden können, und ich sage mir, dass Putins Totalitarismus letztlich wohl nicht der schlimmste ist.

4

Es fällt mir schwer, diese Bilder zusammenzubringen: den Ganovenschriftsteller, den ich früher kannte, den verfolgten Guerillero, den verantwortungsbewussten Politiker und das Idol, dem die people-Seiten der Zeitschriften verliebte Artikel widmen. Ich denke mir, ich sollte Aktivisten seiner Partei treffen, um besser durchzublicken, Nazboly von der Basis. Die Skins, die mich jeden Tag in einem schwarzen Wolga zu ihrem Chef fahren und mich am Anfang etwas einschüchterten, sind nette Jungs, aber nicht sehr gesprächig, doch vielleicht stelle ich mich auch dumm an. Am Ende der Pressekonferenz mit Kasparow hatte ich eine junge Frau angesprochen, einfach weil ich sie hübsch fand, und sie gefragt, ob sie Journalistin sei. Sie hatte geantwortet: Ja, das heißt, eigentlich arbeite sie für die Internetseite der Nationalbolschewistischen Partei. Reizend, klug und gut gekleidet wie sie war: Sie war eine Nazbolka.

Über diese charmante junge Frau lerne ich einen ebenso netten jungen Kerl kennen, den – heimlichen – Verantwortlichen für die Moskauer Sektion. Mit seinen langen, von einem Gummiband zusammengehaltenen Haaren und seinem offenen, freundlichen Gesicht hat er wirklich nichts von einem Fascho, eher etwas von einem Globalisierungskritiker oder einem Autonomen der Tarnac-Gruppe. In seiner kleinen Vorstadt-Wohnung gibt es Platten von Manu Chao, und an den Wänden hängen Bilder im Stil von Jean-Michel Basquiat, die seine Frau gemalt hat.

Ich frage: »Und deine Frau? Steht sie hinter deinem politischen Kampf?«

»Absolut«, antwortet er, »sie ist übrigens im Gefängnis. Sie gehörte zu den Neununddreißig im großen Prozess von 2005; dem, der von Politkowskaja dokumentiert wurde.«

Er sagt das mit einem breiten Lächeln und voller Stolz – und was ihn angehe, die Tatsache, dass er nicht auch im Gefängnis sitze, sei nicht seine Schuld: »mne ne poweslo«, bei mir hat’s nicht geklappt. Vielleicht ein anderes Mal, noch ist nicht aller Tage Abend.

Wir fahren zusammen zum Gericht des Stadtteils Taganka, wo an diesem Tag gerade einige Nazboly ihr Urteil erwarten. Der Saal ist winzig, die Angeklagten tragen Handschellen und stehen in einem Käfig, und auf den drei Bänken, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, sitzen Freunde von ihnen, allesamt Parteigänger. Hinter den Gittern sind sie zu siebt: sechs junge Männer von sehr unterschiedlicher Erscheinung, die vom bärtigen, muslimischen Studenten bis zum working class hero im Trainingsanzug reicht, und eine etwas ältere, blasse, recht hübsche Frau mit zerzausten Haaren vom Typ linksextreme Geschichtslehrerin, die ihre Zigaretten selbst dreht. Die Anklage lautet auf Vandalismus, das heißt Schlägerei mit der Putin-Jugend. Auf beiden Seiten hat es Leichtverletzte gegeben. Dazu befragt, sagen sie aus, dass die anderen, die angefangen hätten, nicht verfolgt würden, dass der Prozess rein politischer Natur sei und dass sie, wenn sie für ihre Überzeugungen bezahlen sollten, dafür bezahlen würden. Die Verteidigung macht geltend, dass die Beschuldigten keine Hooligans seien, sondern ernsthafte Studenten mit guten Noten, dass sie schon ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hätten und das doch reichen müsse. Das Argument überzeugt den Richter nicht. Urteilsspruch für alle: zwei Jahre. Die Gendarmen führen sie ab, die sieben gehen lachend hinaus, zeigen die Faust und rufen: »da smert!«, bis zum Tod. Ihre Kumpels blicken ihnen voller Neid hinterher: Sie sind Helden.

Es gibt Tausende, vielleicht Zehntausende wie sie, die gegen den Zynismus revoltieren, der in Russland zur Religion geworden ist, und die Limonow einen wahren Kult widmen. Dieser Mann, der ihr Vater sein könnte oder für die Jüngsten sogar ihr Großvater, hat das Leben eines Abenteurers geführt, von dem jeder mit zwanzig Jahren träumt; er ist eine lebende Legende, und das Herzstück dieser Legende, der Grund für sie alle, es ihm gleichzutun, ist sein cooler Heroismus, den er während seiner Inhaftierung bewies. Er war in Lefortowo, dem Bollwerk des KGB, das in der russischen Mythologie mindestens so schwer wiegt wie Alcatraz, er war im Arbeitslager und gehörte dort zu denen mit den strengsten Auflagen, und er hat sich niemals beklagt oder klein beigegeben. Er fand Mittel und Wege, um unter diesen Bedingungen nicht nur sieben oder acht Bücher zu schreiben, sondern auch seinen Haftbrüdern so wirksam zu helfen, dass diese ihn schließlich als Supergangster und gleichzeitig als eine Art Heiligen betrachteten. Am Tag seiner Haftentlassung stritten sich Gefangene und Wächter darum, ihm den Koffer tragen zu dürfen.

Als ich Limonow selbst frage, wie es im Gefängnis gewesen sei, begnügt er sich zunächst mit der Antwort: »normalno«, was im Russischen soviel heißt wie »okay, kein Problem, nichts Besonderes«, erst später erzählt er mir folgende Begebenheit.

Von Lefortowo aus wurde er ins Lager der Stadt Engels an der Wolga überführt. Dieses ist eine mustergültige, brandneue Anstalt und das Ergebnis der Anstrengungen ehrgeiziger Architekten, die man gern ausländischen Besuchern vorführt, auf dass sie löbliche Schlussfolgerungen zur Entwicklung der Haftbedingungen in Russland zögen. In Wirklichkeit nennen die Häftlinge von Engels ihr Lager »Eurogulag«, und Limonow versichert mir, dass die Raffinessen der Architektur es in keiner Weise erträglicher machen als die klassischen, von Stacheldrahtzäunen umgebenen Baracken – eher sogar grässlicher. Doch immerhin gleichen in diesem Lager die Waschbecken, die aus einer Platte gebürsteten Edelstahls gefertigt sind und in einer klaren, sachlichen Linie ein gusseisernes Rohr überragen, exakt denen in einem von Philippe Starck designten Hotel, in dem Limonow bei seinem letzten Aufenthalt in New York Ende der Achtzigerjahre von seinem amerikanischen Verleger untergebracht worden war.

Das stimmte ihn nachdenklich. Nicht einer seiner Mitgefangenen war in der Lage, dieselbe Parallele zu ziehen. Ebensowenig einer der eleganten Gäste des eleganten New Yorker Hotels. Er fragte sich, ob es noch viele andere Menschen auf der Welt gebe wie ihn, Eduard Limonow, deren Erfahrung solch unterschiedliche Universen einschließt wie die eines Strafgefangenen in einem Zwangsarbeitslager an der Wolga und die eines angesagten Schriftstellers, der in einem Dekor von Philippe Starck herumspaziert. Nein, schlussfolgerte er, mit Sicherheit nicht, und er bezog daraus einen Stolz, den ich nachvollziehen kann und der mir sogar den Impuls gab, dieses Buch zu schreiben.

Ich lebe in einem ruhigen, abweisenden Land, das soziale Mobilität nur begrenzt zulässt. In einer großbürgerlichen Familie aus dem XVIten Arrondissement von Paris geboren, bin ich ein Angehöriger der bürgerlichen Boheme des Xten geworden. Als Sohn eines Angestellten in Führungsposition und einer renommierten Historikerin schreibe ich Bücher und Drehbücher, und meine Frau ist Journalistin. Meine Eltern besitzen ein Ferienhaus auf der Île de Ré, ich selbst würde gern eines im Département Gard kaufen. Ich halte das für nichts Verwerfliches und denke nicht, dass es Rückschlüsse auf den Reichtum an menschlicher Erfahrung zuließe, aber sowohl vom geographischen als auch vom soziokulturellen Standpunkt aus gesehen kann man nicht gerade behaupten, dass mich das Leben sehr weit von meinen Wurzeln weggeführt hat, und diese Beobachtung gilt auch für die meisten meiner Freunde.

Limonow dagegen war ein Kleinkrimineller in der Ukraine, ein Idol des sowjetischen Undergrounds, Obdachloser, Kammerdiener eines Milliardärs in Manhattan, Starschriftsteller in Paris, ein Soldat, der sich in den Balkanraum verirrte, und jetzt, in diesem heillosen Chaos des Postkommunismus, ist er der alte, charismatische Chef einer Partei von jugendlichen Desperados. Er selbst sieht sich als Helden, man kann ihn auch als einen Drecksack betrachten: Ich selbst behalte mir mein Urteil vor. Aber nachdem ich die Anekdote von den Waschbecken in Saratow zunächst einfach nur kurios fand, schien mir, sein romanhaftes, gefährliches Leben erzähle etwas. Nicht nur über ihn, Limonow, und nicht nur über Russland, sondern über unser aller Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Etwas, ja, aber was? Ich beginne dieses Buch, um es zu begreifen.

I

Ukraine,
1943–1967