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Table of Contents

Über dieses Buch

[Titelei]

[Frontispiz]

Dinah

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Impressum

Über dieses Buch

Ein vernünftiger Ehrgeiz hat den Architekten Jean Michelez veranlasst, sich als Bauunternehmer selbständig zu machen. Auch in seinem Gefühlsleben schließt er einen Kompromiss: Nachdem er lange Zeit auf das ideale Wesen gewartet hat und immer wieder enttäuscht wurde, zieht er nun jede beliebige Gesellschaft der Einsamkeit vor. Er lebt nach dem Grundsatz, nichts zu geben, ohne etwas zu erhalten – im Beruf wie in der Liebe. Mehr als ungelegen kommt ihm daher eine Bitte seiner Nachbarin Madame Auriol, die nach dem Tod ihres Mannes zurückgezogen und ärmlich in einem Gartenhaus lebt und sich ganz der Pflege ihrer kranken Tochter Dinah hingibt. Den Aufenthalt in der Schweiz, der nach Auskunft des Arztes das einzige Heilmittel für Dinah sein könnte, kann sich Madame Auriol nicht leisten, weshalb sie sich in ihrer Not an Michelez wendet. Dieser weigert sich zunächst, ihr zu helfen. Erst als es zu spät ist, gewinnt seine wahre Natur die Oberhand.

»›Dinah‹ entpuppt sich als literarisches Kleinod.« (Jürg Altwegg in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Die Übersetzerin

Michaela Ott ist Professorin für Ästhetische Theorien an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. poststrukturalistische Philosophie, Ästhetik und Politik sowie Ästhetik des Films. Zuletzt erschien (gemeinsam mit Hanne Loreck) »Ästhetiken der Wiederholung« (Hamburg 2014).

Dinah

Roman

Aus dem Französischen
von Michaela Ott

Edition diá

 

Gegen Ende eines schönen Herbstnachmittags schlenderte Jean Michelez, der an der Porte de Champerret aus der Straßenbahn gestiegen war, den langen Boulevard in Neuilly hinab, an dessen Ende sich die Villa La vie là erhob, die er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern bewohnte. Es war einer der letzten schönen Tage des Jahres. Ein lauer Wind wirbelte den Staub von der Straße auf. Alles trug noch die Spuren des Sommers an sich. Die Bäume hatten ihre Blätter noch nicht verloren, diese staubigen Blätter der zu Ende gehenden Jahreszeit, die die Gewitter nur halb nass gemacht haben. In den Gärten schützten helle Zelte die ländlichen Möbel. Rufe, Stimmen und Gespräche hallten nach. Von Zeit zu Zeit ließ ein geöffnetes Fenster die Lieder eines Grammophons oder eines Radioapparats zum blauen Himmel entfliehen.

Monsieur Michelez blickte auf seine Uhr. Es war sieben Uhr. Die Nacht brach bereits an. Er beschleunigte den Schritt, nicht aus Furcht, seine Frau warten zu lassen, sondern weil er plötzlich das unwiderstehliche Bedürfnis verspürte, zu Hause zu sein, zu sprechen, sich umgeben zu fühlen. Seit dreißig Minuten hatte er kein Wort gesprochen. Um halb sieben Uhr hatten sich seine Angestellten von ihm verabschiedet, mit einer Stimme, deren Unterwürfigkeit zu der Freiheit, die sie gleich wiedererlangen würden, in Gegensatz stand. Kurz darauf war er ebenfalls gegangen, nicht ohne vorher sorgfältig die Tür seines Büros in der Rue de la Michodière abgeschlossen zu haben. Dieser kurze Augenblick der Einsamkeit, der ihm zu Beginn angenehm erschienen war, bedrückte ihn jetzt. Beim Gehen hatte er sich an seine Jugend erinnert; damals hatte ihn die Aussicht auf einen leeren Abend unzählige Male in tiefe Entmutigung gestürzt, diese Jugend, die nicht zu Ende ging, denn er hatte, obwohl er nun siebenundvierzig Jahre alt war, erst vor knapp drei Jahren geheiratet. Seitdem war ihm die Einsamkeit zum Alptraum geworden. Er zog ihr jede beliebige Gesellschaft vor.

Zu Beginn seines Berufslebens war Jean Michelez Architekt gewesen. Ein vernünftiger Ehrgeiz hatte ihn veranlasst, sich selbständig zu machen, sich seine Kundschaft zu halten, zuverlässig, redlich und korrekt seine Geschäfte zu führen. »Ich werde mir meine Kunden nicht suchen; sie werden zu mir kommen. Ich werde ihnen keine Wunder versprechen; und sie werden zufrieden sein. Sie werden mich ihren Freunden empfehlen. Nach und nach wird sich der Kundenstamm erweitern. So werde ich von niemandem abhängig und mein eigener Herr sein.« Dieses stoische Warten dauerte zehn Jahre. Der Krieg kam. Gleich nach seiner Ausmusterung gab er seinen Beruf auf Betreiben eines Bekannten, Gaston Bonellis, zugunsten des viel lukrativeren eines Bauunternehmers auf. Ein bisschen wie bei jenen Ärzten, die Apotheker werden, bei jenen Anwälten, die ihre Kanzlei in ein Geschäftsbüro umwandeln, bei jenen Polizeikommissaren, die ihr Amt niederlegen, um die Leitung einer Auskunftsdetektei zu übernehmen, entdeckte man auf seinem Gesicht etwas von der besonderen Nachgiebigkeit und Reizbarkeit, die all denen eigen ist, die aus Gewinnstreben verzichtet haben. Ihre Feigheit verbirgt sich hinter der Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dennoch verrät sie sich in den Gesten und der Physiognomie. Beobachtete man Monsieur Michelez, so spürte man, dass ihn die Schwingen des Niedergangs streiften: Wenn er auch keine Feinde hatte, so fanden sich doch genügend frühere Kollegen, die ihn verurteilten; denn das Geld, das er gegenwärtig verdiente, war auf Kosten einer höheren sozialen Stellung erworben, und die, die trotz der Entbehrungen, trotz der Gleichgültigkeit ihrer Umgebung und trotz ihres Selbstzweifels ausharren, haben selten Nachsicht mit jenen – Schwächeren –, die verzichten, obwohl es gerade diese Abtrünnigkeit ist, aus der sie den Stolz schöpfen, weiterzumachen.

Monsieur Michelez hatte unter dieser Verachtung gelitten und litt noch unter ihr. Aus Eigenliebe hatte er eine Art Kompromiss zwischen seinem vergangenen Leben und dem gegenwärtigen geschlossen. Er wollte nicht der erstbeste Unternehmer sein. Er träumte, ein einzigartiger Unternehmer der alten Schule zu werden, mit der er jedoch auf keinerlei Weise verbunden war. Redlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Pflichtbewusstsein und Nachsicht, was die Pflichten anderer anging, waren seine Haupteigenschaften. Er setzte seine Ehre darein, den Betrag seiner Kostenvoranschläge nie zu überschreiten, auch wenn er dabei draufzahlen musste.

Kurz, er wollte das, was ihm in manchen Augenblicken wie ein sozialer Abstieg erschien, mildern durch eine Perfektion, die es ohne ihn, wie er dachte, in seiner Zunft nicht gegeben hätte.

Dieselbe Verkettung zeigte sich in seinem Gefühlsleben. Lange hatte er nach einer vollkommenen Freundschaft gesucht. Hingezogen zu anderen, zu Anhänglichkeit und Zärtlichkeit, hatte er seine Kindheit damit verbracht, auf das ideale Wesen zu warten, das, wie er meinte, früher oder später seinen Weg kreuzen würde. Er hatte sein Leben lang auf der Lauer gelegen, eher, um das Glück beim Schopf zu packen, als um seine materielle Zukunft besorgt. Jedes neue Gesicht, das ihm begegnete, hatte in ihm die verrücktesten Hoffnungen geweckt, jede Aufmerksamkeit eine krankhafte Freude, die manchmal eine ganze Woche lang anhielt, ohne nachzulassen, die immer gleich stark war und die plötzlich, bei der ersten Kränkung, verging. Denn jedes Mal, wenn er jemandem zugetan war, wurde er tief enttäuscht. Er konnte noch so viel geben, nie taten es ihm seine Partner gleich. Und was er eben nicht hinnahm, was er nie hinnehmen wollte, war, zu geben, ohne zu erhalten. Er hatte sich eine eigene Philosophie der Gegenseitigkeit zurechtgelegt. Sie war die Grundlage jeder dauerhaften Liebe. Ohne Gegenseitigkeit gab es keine zwei Wesen auf der Welt, die einander verstehen könnten. Aber zu Beginn einer Beziehung hütete er sich, das zu fordern und sich darum zu sorgen. Er begnügte sich damit, sich auszuliefern. Erst später, beim ersten Zweifel, dachte er daran, wobei er dann düster, eifersüchtig und tyrannisch wurde.

Als er das kleine Dorf Lagny in der Umgebung von Nancy, in dem sein Vater den Beruf des Tierarztes ausübte und in dem er aufgewachsen war, verließ, um nach Paris zu ziehen (er war zu der Zeit dreiundzwanzig Jahre alt), machte er die Bekanntschaft eines deutschen Studenten namens Hans Schiebelhut. Jean Michelez hatte ein Zimmer in der Rue Monge gemietet, bei einer älteren Frau, Madame Greuze. Diese Madame Greuze war eine wunderliche Witwe, die schon um acht Uhr morgens frisiert, gepudert und bis zum Hals schwarz eingekleidet war und deren wichtigste Beschäftigung darin bestand, abwechselnd ein Dutzend Familienschmuckstücke zu tragen. Sie hatte eine rührende Zuneigung zu den jungen Leuten, denen sie zwei Zimmer ihrer mit viel zu viel Möbeln vollgestellten Wohnung untervermietete. In dem anderen Zimmer wohnte Hans Schiebelhut. So kam es zu ihrer Bekanntschaft. Dieser Student, dessen Hals aus einem Schillerkragen herausragte, war Vegetarier. Er gehörte zu jenen Jünglingen, die man in Deutschland Wandervögel nennt. Die Haare im Wind, den Beutel auf dem Rücken, in Lederhosen mit Hosenträgern ziehen die Wandervögel in Scharen, sonntags oder während der Ferien, durch den Schwarzwald oder die Sächsische Schweiz, besteigen den Harz oder den Taunus; dabei begleiten sie ihren Marsch mit Gesang zur Gitarre, schlafen unter freiem Himmel, trinken direkt an den Quellen und träumen von einer Rückkehr zum paradiesischen Ursprung. In der Wohnung von Madame Greuze bewirkte diese Vorliebe für räumliche Weite, dass er nie seine Tür schloss. Wenn man den Flur entlangging, an dessen Ende sein Zimmer lag, konnte man ihn sehen, wie er, bald mit nacktem Oberkörper, bald in einem gestreiften Bademantel, hin und her ging oder saß und ein Buch ganz nah vor die Augen hielt oder sich wie ein schlechter Schüler über ein Blatt Papier beugte. Man konnte Lärm machen, er hob nie seine von einer Brille mit Goldrand umrahmten Augen, denn er war wie die meisten kurzsichtigen Leute wenig verschwenderisch mit seinen Blicken. Von manchen unter ihnen hatte er auch die Ungeniertheit und den Mangel an Schamgefühl. Daran gewöhnt, gesehen zu werden, ohne zu sehen, hatte er sich damit abgefunden, und es kümmerte ihn wenig, dass man auf seinem Kamin, auf seinem Tisch Milchtöpfe, Orangen-, Bananen- oder Nussschalen sah. Sein Essen bereitete er selbst. Salz, Butter, auch wenn sie sich in Reichweite seiner Hand befanden, störten ihn nicht beim Studieren. Die Bierflasche, die ihm als Behälter für Brennspiritus diente, stand auf seinem Arbeitstisch. Er benutzte sie sogar, um ein offenes Buch an sie anzulehnen.

Die Beziehungen, die sich zwischen den beiden Männern ergaben, hatten, wenn sie auch anfangs voll gegenseitiger Aufmerksamkeiten waren, später dennoch gewisse komische Seiten. Während Jean Michelez regelmäßige Gewohnheiten, ein maßvolles Urteil über alles und einen einfachen Geschmack hatte, war Schiebelhut von Stolz geschwellt, bekundete eine grenzenlose Bewunderung für Größe und Stärke und beklagte sich ständig, dass ihm die Zeit zum Arbeiten fehle. Da er Behaglichkeit, Vergnügen, Ruhe verachtete, fand man ihn zu jeder beliebigen Tageszeit in Bücher vertieft oder am Schreiben, die Ärmel hochgekrempelt, das Hemd weit geöffnet, sogar mitten im Winter. Wenn Jean Michelez ihn besuchen kam, ließ er nicht sofort von seinen Beschäftigungen ab. Wie eine Maschine, die auf Hochtouren läuft, konnte er nicht auf einen Schlag aufhören. Er versuchte im Übrigen, einer Maschine oder noch lieber einem Athleten ähnlich zu werden, und hielt es für unumgänglich, für den Verstand dieselben Vorkehrungen zu treffen wie für den Körper.

Jean Michelez, einer Neigung seines Charakters folgend, hatte für diesen Studenten sofort tiefe Bewunderung gehegt. Dessen wilde Kraft, seine Arbeitswut, seine nicht gewollte, sondern natürliche Gleichgültigkeit allem gegenüber, was das Leben versüßt, begeisterten ihn. Er hätte es ihm gerne gleichgetan. Dass er das nicht konnte (der Architekt konnte nicht lieben, ohne dass ihn ein unbezwingbares Bedürfnis nach Nachahmung befiel), erfüllte ihn mit noch mehr Respekt.

Als sich Jean Michelez eines Abends zu seinem Freund begab, erblickte er ihn – wie gewöhnlich hatte er die Tür zu seinem Zimmer offen gelassen – in Gesellschaft eines unbekannten jungen Mannes. Beide schienen sehr fröhlich. Abwechselnd lachten und redeten sie laut. Aus Zartgefühl wagte Jean Michelez nicht einzutreten. Er kehrte um und wartete in der Hoffnung, dass der Besucher sich bald entfernen würde. Aber das Gelächter und die lauten Stimmen ertönten, anstatt zu verstummen, nur noch stärker, wie ihm schien. »Schiebelhut könnte mich immerhin holen kommen«, dachte Jean Michelez. »Es ist an ihm, den ersten Schritt zu tun. Er müsste das verstehen. Da wir uns jeden Abend sehen, müsste er wenigstens die Höflichkeit besitzen, sich zu entschuldigen. Ich verstehe sehr gut, dass er sich freut, seinen Landsmann wiederzutreffen, aber das dürfte ihn nicht daran hindern, mich vorzustellen.«

Am nächsten Morgen machte sich Jean Michelez in dem Glauben, dass der Unbekannte gegangen sei, erneut zu seinem Freund auf, als er im Flur ein Geräusch von Stimmen vernahm. Die beiden Deutschen waren immer noch zusammen. In Schiebelhuts Zimmer war ein Klappbett aufgestellt worden. Sicherlich hatte sich der Besucher dort häuslich niedergelassen.