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Über dieses Buch

In Emmanuel Boves umfangreichem literarischen Werk finden sich auch zwei Kriminalromane, »die zweifellos an das spätere Werk von Georges Simenon heranreichen« (Neue Zürcher Zeitung) – »Der Mord an Suzy Pommier« (1933) ist einer von ihnen.

Suzy Pommier, eine gefeierte Schauspielerin, wird nach der Premiere ihres neuen Films erdrosselt in ihrer Badewanne aufgefunden – in genau derselben Stellung, in der ihr Mörder sie auch im Film zurückließ. Erst steht der Freund von Suzy Pommier, dann der Filmdarsteller des Liebhabers unter dringendem Tatverdacht, bis der junge ehrgeizige Inspektor Hector Mancelle, der jede kleinste Geste, jedes Wimpernzucken registriert und sich mit schnellen Lösungen nicht zufriedengibt, die wahre Inszenierung dieses Mordes durchschaut.

Obwohl dieser Kriminalroman der klassischen Dramaturgie seines Genres folgt, trägt er doch unverkennbar die Handschrift seines Autors. Die Diskrepanz zwischen dem Selbstanspruch der Bove’schen Figuren und ihrer Wirklichkeit – Grundkonflikt vieler seiner Romane – ist auch hier das Movens des Handelns, setzt das tödliche Scheitern in Gang.

»Mir ist nichts Schnöderes und nichts Platteres bekannt als dieser Roman. Dazu muss man natürlich wissen, dass Monsieur Bove russischer Abstammung ist. Er hat stumme Gesichtszüge und einen glanzlosen Blick. Er redet nicht. Er lacht nicht. Er macht kaum eine Bewegung. Man weiß nicht, wenn man ihn sieht, ob er verzweifelt ist oder nur verblödet. Vielleicht ist es auch eine kalkulierte Haltung, aber das glaube ich nicht. Jedenfalls kann einen das stutzig machen.« (Alain Laubreaux in La Dépêche vom 16. Mai 1933)

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Die Übersetzerin

Barbara Heber-Schärer, geb. 1945, studierte Romanistik und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Seit 1994 Lektorin und Literaturübersetzerin, gelegentlich auch Autorin. Sie übersetzte u. a. Werke von Leslie Kaplan, Paul Ricœur und Michèle Desbordes, zuletzt (zusammen mit Claudia Steinitz) »Der patagonische Hase« von Claude Lanzmann. Barbara Heber-Schärer lebt in Basel.

Der Mord
an Suzy Pommier

Kriminalroman

Aus dem Französischen
von Barbara Heber-Schärer

Edition diá

Inhalt

I · Ein Film mit bösem Ende

II · Hector Mancelle

III · Erstes Verhör

IV · Eine merkwürdige Gestalt

V · Quai des Orfèvres

VI · Nervray redet

VII · In Asnières

VIII · Eine Privatvorstellung

IX · Monsieur Auguste Pommier

X · Ein unangebrachter Besuch

XI · Die Beerdigung

XII · Im Palais

XIII · Die Rue Lévis

XIV · Kommissar Piget wird zornig

XV · Bei Joachim Escamp

XVI · Das unterbrochene Verhör

XVII · Hector Mancelle redet

Impressum

I
Ein Film mit bösem Ende

Noch bevor Les Deux Mondes, der neue Film von Jean Rivière, in einer öffentlichen Vorstellung gezeigt worden war, hatten alle Zeitungen ihm schon lange Artikel gewidmet. Jean Rivière, der junge Regisseur, hatte bereits mit drei oder vier Werken auf sich aufmerksam gemacht. Les Deux Mondes sollte seinen Ruhm festigen. Aber ein solcher Erfolg musste Neid erregen. So saß an diesem Abend in der Salle Ébrard in der Rue Michodière, wo die Premiere dieses Films stattfinden sollte, ein Publikum, das zugleich enthusiastisch und feindselig war. Alle Persönlichkeiten aus der Welt des Films waren da, darunter mischten sich Künstler, Schriftsteller, schöne Frauen. Man diskutierte im Voraus über die Qualitäten des Films, über seine Interpretation. Man fragte sich, ob Suzy Pommier, die sich vor kaum einem Jahr in einer belanglosen Produktion als eine der größten Künstlerinnen offenbart hatte, die je auf der französischen Leinwand erschienen waren, diese Partie gewinnen würde. War die Rolle, die sie in Les Deux Mondes hatte, nicht zu schwer für sie? Was Harry-Paul Donna anging, konnte man sich nicht erklären, aus welchen Gründen Rivière ihn gewählt hatte. Bis dahin war er nur in Nebenrollen aufgetreten. Vor allem hatte er sich durch einen völligen Mangel an Natürlichkeit hervorgetan.

Um neun Uhr war der Saal bereits zum Bersten voll, und unaufhörlich hielten neue Wagen vor dem Eingang. Plötzlich stieg aus dem Orchester ein Gemurmel auf, dem sogleich Rufe und Beifall folgten. Suzy Pommier war soeben erschienen. Sie war blond, groß und schmal und sah aus wie zwanzig.

Der warme Empfang machte sie verlegen, und da sie nicht wusste, wie auf den Jubel antworten, der sie begrüßte, verbeugte sie sich, nicht ohne Schüchternheit, nach rechts und nach links.

Sie war nicht allein. Ein noch junger, schon kahlköpfiger Mann begleitete sie.

Schließlich setzte sich das Paar. Suzy Pommier legte etwas Puder auf, während sich in regelmäßigen Abständen von irgendeinem Punkt des Saales aus der vertrauliche Ruf Vive Suzy! erhob.

Sie war von einer Blässe, die die Schminke kaum belebte. Von Zeit zu Zeit wandte sie sich um und suchte mit den Augen offenbar einen Freund. Um die Fassung zu bewahren, öffnete sie ihre Handtasche, schloss sie und öffnete sie wieder in dem Verlangen, natürlich zu erscheinen, das man empfindet, wenn man sich im Mittelpunkt fühlt.

Drei Reihen hinter ihr rief ein Mann:

– Suzy …

Sie drehte sich um. Es war Donna. Sie machte ihm mit der Hand ein kleines freundschaftliches Zeichen, dann fasste sie ihren Nachbarn am Arm und sagte ihm ins Ohr:

– Seltsam, ich hatte noch nie solches Lampenfieber wie heute Abend.

– Na, na. Das ist deiner nicht würdig … Du bist keine Anfängerin mehr … Da, nimm die Zigarette …

Kaum hatte der junge Mann das gesagt, als ein Gongschlag ertönte, dem ein zweiter folgte und dann noch einer.

– Die drei sakramentalen Schläge, murmelte er.

Es wurde dunkel. Für einige Sekunden lief der neue Streifen von Jean Rivière auf der nackten Leinwand leer, dann erschien der Titel: Les Deux Mondes. In diesem Augenblick verschwand das leise und monotone Motorengeräusch aus der Vorführkabine, und ein Walzer erklang.

Die Vorstellung hatte begonnen.

Es war die Geschichte einer Tingeltangelsängerin – die Rolle Suzy Pommiers –, in die sich ein reicher Industrieller, gespielt von Harry-Paul Donna, verliebte. Er schwor ihr ewige Liebe, zog sie aus der Gosse, erhob sie zu sich. Unglücklicherweise hörte er plötzlich auf, sie zu lieben. Im Wesentlichen zeichnete der Film ein Bild dieses Bruchs. Der Held, ein alteingesessener Industrieller, gehörte zu einer reichen Familie. Zwischen diesen Banden und jener Fremden gefangen, opferte er seine Geliebte. Der Film spielte in Paris gleich nach dem Krieg. In lobenswertem Bemühen um Authentizität hatte der Regisseur bei der Darstellung der gar zu freien Sitten dieser Zeit etwas dick aufgetragen.

Bis dahin hatte das Publikum, wenn auch leicht schockiert vom Realismus gewisser Passagen, seine Zufriedenheit bekundet.

Entschlossen, die Sache zu Ende zu bringen, führt der Industrielle die Tänzerin eines Abends in einige Vergnügungslokale aus. Auf dem Heimweg jedoch, unter dem Einfluss des Alkohols, eröffnet er ihr, dass alles aus sei; dass er im Übrigen ins Ausland reisen müsse, wohin ein wichtiges Geschäft ihn rufe. Indessen, er ist ein Mann mit Herz. Er begreift wohl, dass er der, die er geliebt hat, eine Entschädigung schuldet. Er wird seine Pflicht zu erfüllen wissen. Seine Lippen murmeln eine Zahl.

In diesem Moment spielte sich die Szene ab, die den Protest des schon gereizten Publikums erregte.

– Sie sind nur ein Feigling, antwortet ihm seine Geliebte.

Sie ist empört. Sie schreit ihm ihre Verachtung ins Gesicht. Es ist schändlich von einem Mann, eine Frau zu verlassen, nachdem er sie die Wonnen eines ehrenhaften und glücklichen Lebens hat ahnen lassen. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihn nie gekannt.

Der Industrielle antwortet nicht. Er geht hinaus und kommt nach einiger Zeit zurück; an den Aufschlägen seines Jacketts stecken alle Orden, die ihm seine glänzende Haltung während des Krieges eingetragen hat.

In seiner Abwesenheit war die junge Frau ins Bad gegangen. Er kommt näher und sagt, sehr aufrecht, in perfekt militärischer Haltung:

– Nicht alle haben geurteilt, dass ich ein Feigling bin!

– Selbst wenn du zehnmal mehr Auszeichnungen hättest, würde ich dich doch einen Feigling nennen!, antwortet die Frau.

Diese Erwiderung rief den Aufruhr im Publikum hervor. Schreie erhoben sich an allen Ecken des Saals. Tatsächlich war die Geschichte mit den Auszeichnungen in dieser Liebesgeschichte ganz fehl am Platz. Auch das Talent Suzy Pommiers machte es nicht besser.

Man hörte die ersten Pfiffe. Ein Zuschauer, heftiger als die anderen, rief mit schallender Stimme:

– Wenn es im Saal Kriegsveteranen gibt, sollen sie dem Regisseur den Schädel einschlagen.

Eine Frau schrie:

– Mein Mann war im Krieg, und er findet diesen Film sehr gut.

– Schweigen Sie!, war die Antwort, die sie sich einhandelte.

Nach und nach war wieder Ruhe eingekehrt, als plötzlich, wie ein Donnerschlag, die Worte ertönten:

– Uns reicht’s!

Der Film jedoch ging weiter.

Der Industrielle nähert sich also der Sängerin. Er ist außer sich. Er packt sie an der Kehle und versucht sie zu erwürgen.

Das Pfeifen begann von neuem und stärker. Diese Sequenz war von unerhörter Brutalität. Während sich die Frau in der Badewanne wehrte und der Mann mit aller Kraft versuchte, ihren Kopf unter Wasser zu halten, kreiste die Kamera langsam um das Paar, um sich in dem Maß, wie die Kräfte der Frau nachließen, zu erheben und schließlich genau in dem Augenblick stillzustehen, in dem die Sängerin starb. Dann schwenkte sie mit der gleichen Langsamkeit über die Badewanne, in der man die arme Frau sah, zusammengekrümmt, nackt, in der verkrampften Hand die Orden, die sie abgerissen hatte.

Es war natürlich sehr peinlich; umso mehr, als das Ende des Films Polizisten zeigte, die parteiisch waren und die Affäre erstickten, um den reichen Industriellen nicht zu kompromittieren und den Titel des Werks von Jean Rivière zu rechtfertigen. Das Recht war also nicht für alle das gleiche? Eine Welt stand gegen die andere, und der Stärkere zerbrach den Schwächeren.

Mitten in einem unbeschreiblichen Tumult wurde es hell. Trotz der nicht zu leugnenden Schönheiten dieses Streifens verzieh das Publikum die Szene mit den Auszeichnungen ebenso wenig wie die Mordszene, deren Grausamkeit alles übertraf, was man sich vorstellen konnte. Es war schockiert darüber, mit welcher Ungeniertheit man einem Helden von einst die Rolle einer Bestie zuwies, mit welcher Bedenkenlosigkeit man mit den hehren Prinzipien spielte, die ihm am meisten am Herzen lagen. Ein Rasender warf sogar eine Orange auf die Leinwand.

Suzy hatte sich davongestohlen. Sie hatte natürlich nichts mit dieser düsteren Geschichte zu tun, aber sie fürchtete, dass irgendein überreizter Zuschauer ihr die Schuld daran geben könnte. Ihr Begleiter war geblieben. Er mischte sich in die Gruppen und war sichtlich bemüht, die wirkliche Meinung der Menge herauszufinden.

– Wo ist denn Suzy?, fragte ihn ein dicker Mann mit weißem Schnurrbart, damit ich sie nicht beglückwünsche.

Und er brach in ein gutmütiges Lachen aus.

– Sie ist gerade gegangen, antwortete Pierre Nervray.

– Na gut! Wenn Sie sie wiedersehen …

– Ich sehe sie gleich wieder …

– Umso besser. Dann werden Sie ihr gleich meine Glückwünsche überbringen, meine aufrichtigen Glückwünsche … Ah! Was für einen Abend hat uns dieses charmante Kind gerade beschert! Und ich hatte ihr eine glänzende Zukunft in der leichten Komödie vorausgesagt …

Pierre Nervray lächelte. Er hatte sich vor einem Jahr mit Haut und Haaren in Suzy verliebt, als sie gerade mit einer Filmkomödie einen Riesenerfolg gehabt hatte. Obwohl er mit einer sehr hübschen Frau verheiratet war und von ihr einen netten kleinen Jungen hatte, hatte er sich mit Leib und Seele in dieses neue Abenteuer gestürzt. Er war der Sohn eines Bankiers, der vor allem durch seinen Rennstall bekannt war, und sein Vermögen erlaubte ihm die irrsinnigsten Ausgaben. Nichts schien ihm zu viel, um Suzy zu betören. Er mietete eine Erdgeschosswohnung, die auf die Rue de l’Université hinausging, möblierte sie luxuriös und zögerte nicht, sein Verhältnis mit der jungen Künstlerin offen zu zeigen. Dennoch erfuhr seine Frau erst drei Monate später davon. Sie empfand darüber tiefen Kummer, aber aus Liebe zu ihrem Sohn ertrug sie es alles.

Während die beiden Männer sich unterhielten, hatte der Saal sich nach und nach geleert.

– Ich gehe jetzt, sagte Pierre; Suzy erwartet mich.

Der junge Mann entfernte sich. Er stieg in seinen Wagen. Einige Sekunden später war er verschwunden.

II
Hector Mancelle

– Hallo, hallo … ist dort die Kriminalpolizei?

– Höchstpersönlich!, antwortete Hector Mancelle, ein junger Inspektor, dessen Hauptbeschäftigung es war, täglich die Hotels des 17. Arrondissements abzulaufen, um sich die Namen der neuen Gäste geben zu lassen.

– Hallo, hallo! … Kommen Sie schnell. Suzy Pommier ist ermordet worden.

Diese Nachricht schien den jungen Inspektor in keiner Weise zu überraschen.

– Wer ist am Apparat?, fragte er mit der größten Ruhe.

– Elisa, das Dienstmädchen.

– Ich würde nur zu gern kommen, aber Sie müssten mir noch die Adresse geben.

– Rue de l’Université 17.

– Gut.

Hector Mancelle legte auf. Er zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an, nahm seinen Hut, den er neben dem Telefonapparat auf seinem Schreibtisch abgelegt hatte, und ging dann mit raschen Schritten hinaus. Pfeifend ging er einen langen Flur entlang, blieb vor einer Glastür stehen und klopfte. Niemand antwortete. Nachdem er ein zweites Mal geklopft hatte, stieß er die Tür auf und trat in ein behaglich eingerichtetes Zimmer. Es war das Büro von Kommissar Piget. Nachdem er einen Blick in die Runde geworfen hatte, ging Mancelle wieder hinaus und weiter den Flur entlang. Nach etwa zehn Metern machte er vor einer anderen Glastür halt. Er klopfte. Wieder bekam er keine Antwort. Diesmal versuchte er es nicht noch einmal.

– Ich werde hinfahren, murmelte er, da weder Piget noch Demartre da sind.

Er stieg eine Treppe hinunter und trat in einen Raum, der aussah wie eine Wache. Zwei Männer spielten dort Karten.

– André, komm mit und stell keine Fragen.

– Warum?, fragte der Jüngere.

– Ein Verbrechen ist begangen worden. Eine Gesangskünstlerin wurde ermordet, präzisierte Hector Mancelle mit Betonung.

– Hast du Piget benachrichtigt?

– Er ist nicht da.

– Und den Erkennungsdienst?

– Er ist nicht da. Entschuldige, ich tue es gleich, vor deinen Augen.

Er nahm ein Telefon, das sich in seiner Reichweite befand, und entledigte sich dieser Notwendigkeit.

– Gut, jetzt müssen wir los! Sonst sind sie vor uns da, und wir können nichts mehr feststellen.

Der Polizist, der auf den Vornamen André hörte, warf schlecht gelaunt seine Karten hin und folgte dem jungen Inspektor widerwillig.

Eine Viertelstunde später hielt ein Taxi vor dem Gebäude mit der Nummer 17 in der Rue de l’Université. Hector Mancelle und André Tabouret stiegen aus und bahnten sich einen Weg durch die Menschenansammlung, die sich schon gebildet hatte.

– Donnerwetter!, sagte Hector Mancelle, als er all die Leute sah und das prächtige Haus, in dem das Verbrechen begangen worden war.

Denn Hector Mancelle hatte, obwohl er die künstlerischen und literarischen Entwicklungen seines Landes mit Interesse verfolgte, noch nie von Suzy Pommier gehört. In seiner wie in seines Kollegen Vorstellung handelte es sich um den banalen Mord an einem Mädchen, das sich ihrem Ansehen zuliebe Künstlerin nannte. Nun war plötzlich die Ahnung in ihm aufgestiegen, dass es sich um eine weit wichtigere Angelegenheit handelte.

– Kennst du diesen Namen – Suzy Pommier?, fragte er.

– Ich habe ihn noch nie gehört. Obwohl ich das Theater liebe – ich kenne Sarah Bernhardt, Réjane, Simone, aber ich habe bestimmt noch nie etwas von Suzy Pommier gehört.

– Ich frage mich gerade, ob es nicht besser wäre, Piget zu benachrichtigen, fuhr Hector Mancelle, unruhig geworden, fort. Was handeln wir uns da ein! Er wird glauben, wir hätten ihm diesen Fall wegschnappen wollen.

Aber dem jungen Inspektor blieb dazu keine Zeit. Die Gruppe der Neugierigen und Nachbarn war respektvoll auseinandergewichen, wie vor Ärzten, die zur Konsultation kommen, wenn ein großer Mann im Sterben liegt.

– Wir müssen da durch, flüsterte Mancelle seinem Mitarbeiter zu, der, um nicht als Erster hindurchzugehen, angelegentlich aufs Trottoir schaute, als ob er etwas verloren hätte.

In diesem Augenblick stürzte ein Mann mit zerzausten Haaren auf sie zu, bescheiden gekleidet, allem Anschein nach ein kleiner Beamter.

– Die Kriminalpolizei, die Kriminalpolizei?, fragte er mit ängstlicher Stimme.

– Ja, antwortete Hector Mancelle.

– Kommen Sie schnell, ich flehe Sie an. Wenn Sie wüssten, wie entsetzlich das ist. Mein Gott, wie schrecklich!

– Wer sind Sie?, fragte Mancelle kühl, während er weiterging.

– Der Vater, Monsieur, der Vater von Suzy Pommier.

* * *

Die Tür zur Wohnung der Künstlerin befand sich links in der großen Halle des Gebäudes, und zwar so, dass man bei ihr ein und aus gehen konnte, ohne an der Pförtnerloge vorbeizumüssen.

Mieter des Hauses und Lieferanten redeten lebhaft über dieses merkwürdige Verbrechen. Vor der Wohnungstür standen zwei Sergeanten der Stadtpolizei Wache. Hector Mancelle machte ihnen ein Zeichen. Sofort gingen sie zur Seite.

– Hat irgendjemand die Wohnung betreten außer dem Mädchen, das bei seinem Dienstantritt die Leiche seiner Herrin entdeckt hat?, fragte Hector Mancelle, während er das Türschloss untersuchte.

– Ich, Monsieur, antwortete ein Mann, der aussah wie ein gealterter Reitbursche.

– Aus welchem Grund?

– Ich bin der Concierge, Monsieur. Das Dienstmädchen ist ganz verstört zu mir gekommen, und ich bin mit ihm an den Ort des Verbrechens gegangen, um mich zu vergewissern, dass Mademoiselle Pommier wirklich tot ist.

– Wie heißen Sie?

– Antoine, Monsieur.

– Sie müssen mir schon Ihren Familiennamen nennen, präzisierte Hector Mancelle seine Frage, während er fortfuhr, die Wohnungstür zu untersuchen.

– Jaubert.

– Gut. Gehen Sie nicht weg. Ich werde Sie sicher noch brauchen. Also, André, gehen wir.

Der Schlüssel steckte im Schloss. Der Inspektor drehte ihn um, und sie traten in die Wohnung. Aber sie blieben sofort wieder stehen.

– Sie sind Mademoiselle Pommiers Dienstmädchen?, fragte Hector Mancelle eine kleine Brünette mit weißer Schürze, die vor ihm stand.

– Ja, Monsieur.

– Schlafen Sie in der Wohnung?

– Nein, Monsieur. Mein Zimmer ist im sechsten Stock …

– Haben Sie hier Licht gemacht?

Das Mädchen zögerte eine Sekunde, dann antwortete es:

– Nein, Monsieur. Es war heute Morgen an, als ich herunterkam.

– Haben Sie sich nicht gesagt, dass Ihre Herrin vergessen hat, es zu löschen?

– Doch, Monsieur.

– Wie kommt es dann, dass Sie es nicht ausgemacht haben?

– Ich weiß nicht, antwortete die Hausangestellte und geriet in Verwirrung.

– Sie hatten sicher die Absicht, hier im Vorzimmer Ordnung zu machen?

– Ja, Monsieur.

– Führen Sie mich bitte in Ihre Küche.

Zitternd vor Angst, gehorchte die Hausangestellte.

– Dies ist die Tür zur Dienstbotentreppe, nicht wahr?, fragte der Inspektor.

– Ja, Monsieur.

Hector Mancelle schien sich um das junge Mädchen sehr wenig zu kümmern. Er betrachtete die Wände um sich herum, schien etwas zu suchen.

– Ich habe den Eindruck, sagte er, dass Mademoiselle Pommier ihren Haushalt vorbildlich geführt hat. Hatte sie Ihnen nicht einen Arbeitsplan gemacht?

– Doch, Monsieur. Er ist in der Anrichte.

Der Inspektor überflog ihn, dann wandte er sich an das Mädchen.

– Heute, am Mittwoch, ist vom Vorzimmer nicht die Rede. Sie sollten das Esszimmer machen, wenn Sie herunterkommen.

Ohne die Antwort abzuwarten, kehrte er wieder um. Nachdem er das Vorzimmer noch einmal ausgiebig gemustert hatte, trat er in den Salon. Die Fensterläden waren geschlossen. Trotzdem war es darin sehr hell. Ohne sich aufzuhalten, drang er ins Schlafzimmer vor. In diesem Zimmer herrschte eine Unordnung, die auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches hatte. Das Bett war aufgedeckt. Der Boden war mit Kleidungsstücken übersät.

Er ging weiter ins Badezimmer, durch dessen halboffene Tür ein Waschbecken zu sehen war. Ein furchtbares Bild bot sich dort seinen Augen. Suzy Pommier lag tot in ihrer Badewanne, den Kopf halb im Wasser, die Knie angezogen wie die eines Kindes, das eben geboren worden ist, die Züge vom Schmerz verzerrt, die Arme verdreht, völlig nackt. Man konnte sie nicht ansehen, ohne zu schaudern.

– Das ist hart, murmelte der Inspektor, während er sich eine Zigarette anzündete und drei oder vier Versuche brauchte, um das Streichholz auszuschütteln.

Er rief das Mädchen.

– War Ihre Herrin gewohnt, abends vor dem Zubettgehen ein Bad zu nehmen?

– Ja, Monsieur.

– Haben Sie dieses Bad vorbereitet?

– Nein, Monsieur. Madame hatte mir zwei Karten für die Vorstellung ihres Films gegeben, und weil sie dachte, dass ich nicht allein sein würde, hatte sie mir bis zum Morgen freigegeben.

– Waren Sie bei dieser Vorstellung?

– Nein, Monsieur.

– Sie haben sicher einen Verlobten?

– Woher wissen Sie das? Tatsächlich, Monsieur.

– Gut. Sie können gehen.

Außer der Leiche deutete nichts darauf hin, dass sich einige Stunden zuvor eine Tragödie abgespielt hatte. Alles schien an seinem Platz. Nirgends waren Spritzer. Das Wasser, glatt und bewegungslos, bedeckte den Körper der Künstlerin. Nur ein wenig vom Kopf, ein Knie und ein Teil des Beins ragten heraus.