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Über dieses Buch

1917. Die einundzwanzigjährige Colette, die in Paris lebt, erhält eines Tages einen merkwürdig dringlichen Brief aus Genf: Jacques, ihr Freund, bittet sie, zu ihm in die Schweiz zu kommen. Erst nach monatelangem Zusammenleben gesteht Jacques sein dunkles Geheimnis. Aber Colettes Hingabe und ihre Bereitschaft, den schwermütigen und unberechenbaren jungen Mann vorbehaltlos zu lieben, scheinen unermesslich.

Emmanuel Boves im Nachlass entdeckte Geschichte der sich verzehrenden Liebe zu einem Mörder.

»Dass der Weg dahin so leise wie folgerichtig entworfen ist, so unaufgeregt wie bedrückend, macht die große Faszination dieses Romans aus.« (Tilman Spreckelsen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. November 2001)

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Die Übersetzerin

Barbara Heber-Schärer, geb. 1945, studierte Romanistik und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Seit 1994 Lektorin und Literaturübersetzerin, gelegentlich auch Autorin. Sie übersetzte u. a. Werke von Leslie Kaplan, Paul Ricœur und Michèle Desbordes, zuletzt (zusammen mit Claudia Steinitz) »Der patagonische Hase« von Claude Lanzmann. Barbara Heber-Schärer lebt in Basel.

Colette Salmand

Roman

Aus dem Französischen
von Barbara Heber-Schärer

Edition diá

I

Am 14. Januar 1922, gegen neun Uhr abends, konnte man im ersten Stock des vierstöckigen Hauses an der Ecke Boulevard Magenta und Rue Albouy zwei Fenster sehen, deren Fensterläden nicht geschlossen waren und aus denen ein rosiges Licht auf den Gehsteig fiel, der im Regen wirkte wie ein Spiegel. Mechanisch hoben die seltenen Passanten den Kopf zu diesen zwei Fenstern, hinter denen man einen behaglichen Salon erriet, in dem eine angenehme Temperatur herrschen musste und der sich wahrscheinlich kaum von allen anderen Salons des Viertels unterschied. Die Gardinen, aus melancholischer weißer Netzstickerei, waren nur schilfhoch, so dass man oberhalb, kaum verzerrt durch die Fensterscheiben, einen Kronleuchter aus Bastgeflechtblättern und mit farbigen Glühbirnen bemerkte. Ob das nun dem Geschmack der Passanten entsprach oder nicht, gewiss ging ihnen der Gedanke durch den Kopf, dass ihnen in dieser ersten Etage wohler wäre als in dem nassen, staubgrauen Schneeregen, der in dem Moment fiel, da diese Erzählung beginnt. Tatsächlich brannte in dem Zimmer ein Ofen, und durch die Glimmerscheibe sah man das Rot des Feuers. Fünf blendend weiße Tassen waren auf einem Kupfertablett säuberlich um Zuckerdose und Milchkännchen und einen anderen, kleineren Kreis mit Likörgläsern angeordnet.

Von den vier Personen, die um den kleinen runden Tisch mit dem Tablett versammelt waren, kümmerte es keine, dass man sie von der Straße aus sah. Es schien sogar so, als sei dies für die Abendgesellschaft ein zusätzlicher Reiz.

An diesem Abend hatte Mme Bénac, was sonst nie vorkam, ihren Bruder und ihre Schwägerin eingeladen, damit sie den Verlobten ihrer Tochter Denise kennenlernten, den sie im Übrigen ebenso wenig kannte. Verlobter war nicht ganz das richtige Wort. Es handelte sich eher um einen Freund, sehr reich, schon Mitte fünfzig und aus einer sehr guten, sehr alten Familie in Nancy, M. Edouard Salmand. Er war noch nicht eingetroffen. Doch ging man deshalb nicht vertrauter miteinander um. Die Fensterläden waren offen geblieben, und man plauderte, als sei der Eingeladene schon da, jeder schob alles beiseite, was das Gespräch auf Familienangelegenheiten hätte bringen können. Mme Bénac war, wie M. Salmand, etwas über fünfzig. Sie war Geschäftsfrau gewesen und war es nicht mehr. Von ihrem Sessel aus dirigierte sie die letzten Vorbereitungen und unterhielt sich gleichzeitig mit ihrem ein oder zwei Jahre jüngeren Bruder, den sie in diesem Fall einmal als Gast behandelte, was sie ihm von Zeit zu Zeit auch zu verstehen gab. Er war deshalb übrigens nicht gekränkt. Sein ganzes Leben lang hatte er von Summen aus dem Geschäft seiner Schwester gelebt, die den Tageseinnahmen entnommen und als Unkosten verbucht wurden. So nahm er das Wetter, wie es kam. Seine Frau, die er alle Augenblicke Fernande rief, um die Leute dazu zu bringen, es ihm gleichzutun, und so eine für ihn, wie er wusste, günstige Vertrautheit zu schaffen, legte mit Denise letzte Hand an die Vorbereitungen. Viel Freude hatte diese Unglückliche in ihrem Leben nicht gekannt. So war sie durch die Bedeutung, die man ihr vorübergehend zubilligte, an diesem Abend ganz verwandelt. Mit geschäftiger Miene ging sie ein und aus und erlaubte sich mit jener Sicherheit, die einem die Mühe verleiht, die man sich für andere gibt, zu fragen, wo das Silber sei. Denise Bénac wiederum, die Tochter von Mme Bénac, der Stolz der Familie, warf nur hie und da ein Wort ein. Sie war eine blonde junge Frau, die sich von ihrer Familie durch geschmackvolle Eleganz und feinere Umgangsformen abhob. Es war offensichtlich, dass sie in der guten Gesellschaft verkehrt hatte.

Marcel Bénac stand auf, tat ein paar Schritte, betrachtete sich im Spiegel über dem Kamin, strich seine Weste glatt – alles mit der Befriedigung eines Mannes, den man gewöhnlich abseitshält und der nun plötzlich einer wichtigen Zeremonie beiwohnen darf.

– Schon längst, sagte er plötzlich zu Denise, hättest du uns mit M. Salmand bekannt machen sollen, schon in deinem eigenen Interesse. Eine Frau hat immer mehr Einfluss, wenn man weiß, dass sie von den Ihren unterstützt wird.

– Du weißt nicht, was du redest.

– Frag Fernande, sie ist eine Frau.

– Ich bitte dich, sei still. Das ist nicht der richtige Augenblick, mit deinen Theorien anzufangen.

Marcel Bénac wandte sich um, mit unschuldigem Gesichtsausdruck.

– Aber ich fange mit gar nichts an. Ich stelle einfach fest, dass …

Er musste abbrechen. Es hatte gerade geklingelt.

Kurz darauf trat M. Edouard Salmand ins Zimmer. Er war groß, schmal, gebeugt und allem Anschein nach unfähig, die Brust herauszustrecken. Deshalb wohl trug er den Kopf sehr hoch, zurückgeworfen fast. Er hatte einen langen, schmalen Unterkiefer und Ohren, die abzustehen schienen, so mager war der Nacken dahinter. Die Hände reibend mit dem Behagen eines Mannes, der sich freut, dass sie trocken sind, verbeugte er sich liebenswürdig vor Mme Bénac. Dann klopfte er ein paarmal auf seine Jackentaschen, damit die Dinge darin an ihren Platz rutschten und keine hässlichen Beulen warfen; dabei machte er eine Schulterbewegung, die eher ein Tick war, von dem er sich nie hatte befreien können und der von der Bemühung herrührte, den Jackenkragen hochzuschieben, um seinen fleischlosen Nacken zu verdecken.

– Ich hoffe, ich habe Sie nicht warten lassen, sagte er, während er aufmerksam das Zimmer betrachtete, in dem man ihn empfing, doch ohne dass in seinem Blick irgendetwas wie Unverschämtheit gelegen hätte, so natürlich war die Neugier bei ihm. »Wenn ich mich verspätet habe«, fuhr er fort, »so ganz gegen meinen Willen. Unmöglich, bei diesem Hundewetter ein Taxi zu bekommen. Ich musste die Metro nehmen. Dreimal umsteigen. Dreimal – ich übertreibe«, setzte er lächelnd hinzu, »aber zweimal schon.«

– Wenn ich das gewusst hätte, sagte Marcel Bénac, hätte ich mir erlaubt, … 1 was ebenfalls heißen sollte, man müsse M. Salmand zurückhalten, um wer weiß was für ein ärgerliches Zusammentreffen zu verhindern. Obwohl sie noch nie welche bekommen hatte, fürchtete sich Mme Bénac vor nächtlichen Besuchen.

– Was haben Sie denn, Madame?, fragte M. Salmand, der ihre Verwirrung bemerkt hatte.

– Nichts, ich habe nichts.

Und lachend verließ sie den Salon, um diese Furcht zu verbergen, die, das war ihr bewusst, etwas Vulgäres hatte.

– Es regnet immer noch, sagte der Bruder, um die Aufmerksamkeit auf einen anderen Gegenstand zu lenken, und verließ das Fenster, wo er schon eine ganze Weile gestanden hatte in der Hoffnung, dass man ihn von draußen bemerkte, wie jene Personen bei irgendwelchen Feierlichkeiten, die sich absondern und dicht bei den Absperrungen aufstellen, hinter denen sich die Schaulustigen scharen.

Als sie allein war, blieb Mme Bénac einen Moment stehen, um zu Atem zu kommen. Sie war so aufgeregt, dass sie den Schalter verwechselte und zuerst in der Küche Licht machte, dann erst im Flur. Dort stand, auf einem Tisch, eine Vase mit Blumen. Ohne zu wissen, warum, nahm sie eine heraus, trocknete den Stiel an der Tischdecke ab, die auf dem Tisch lag, griff sich mit der Hand in die Haare und zerzauste sie leicht. Der Grund für dieses absonderliche Gebaren war, dass sie in den Augen des Besuchers wirken wollte, als käme sie mitten aus einem Fest, damit er begriffe, dass sie Gäste hatte, und ohne weiteres Drängen wieder ginge. Doch was für ein Besucher? Sie erwartete niemanden. Vergeblich überlegte sie, ihr fiel niemand ein, der sie um diese Zeit noch stören könnte. Schließlich öffnete sie die Tür. Eine junge Frau stand auf dem Treppenabsatz. Aus ihrer Zeit als Schmuckhändlerin hatte sich Mme Bénac eine recht summarische Art bewahrt, Menschen zu beurteilen. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, waren sie alle vollkommen. Ein derartiger Blick ist notwendig, wenn man sich angewöhnt hat, zu jedermann liebenswürdig zu sein, ohne Ansehen der Person. Doch da das Böse nicht verschwindet, so sehr man es auch wünscht, werden einer ganz kleinen Minderheit alle Sünden aufgeladen. Und dieser Minderheit, so Mme Bénacs erster Eindruck, gehörte die Besucherin an. Ein dunkler Hut mit regenschwerer Krempe verbarg die Augen der jungen Frau. Sie trug einen hellen Regenmantel, dessen Kragen, wie der von Offizieren, von einem Riemen zusammengehalten wurde und der gerade an ihr hinabfiel, als hätte sie keinen Busen.

– Entschuldigen Sie, Madame, sagte sie schnell, dass ich Sie störe. Ich warte seit über einer Stunde unten auf Dr. Salmand. Ist er noch bei Ihnen?

– Gewiss, aber worum handelt es sich?, fragte Mme Bénac, ohne die Tür loszulassen.

– Ich bin seine Tochter, Madame. Ich bin gerade von einer Reise zurückgekehrt. Die Haushälterin hat mir gesagt, mein Vater sei bei Ihnen. Ich dachte, er sei zu einem Kranken gerufen worden. Doch ich sehe, Sie sind Freunde von ihm.

Mme Bénac hatte trotz all ihrer Bewunderung für M. Salmand immer noch gewisse Vorbehalte bewahrt. Obwohl sie sich schon vor fünf Jahren aus dem Geschäft zurückgezogen hatte, waren zwanzig Jahre des Misstrauens nicht spurlos an ihr vorübergegangen.

– Treten Sie ein, Mademoiselle.

Das junge Mädchen gehorchte. Mit einer schroffen Geste nahm sie den Hut ab. Dann öffnete sie den Riemen am Kragen. Und nun sah man den ganz kleinen Kopf auf einem Hals von außergewöhnlicher Länge und Zartheit. Mme Bénac beobachtete sie, ohne ihr zu helfen, ohne das leiseste Willkommenswort. Der Doktor hatte also eine Tochter, und er hatte es nie gesagt! Warum? Mme Bénac konnte den Blick nicht von der Besucherin wenden. Diese hatte sich aufgerichtet, um tief Luft zu holen. Dabei hielt sie in der einen Hand ihren Hut, in der anderen ihre Ledertasche, deren Lasche, unter die man die Finger schob, in den Nähten so brüchig war, dass sie sich auf einer Seite schon löste. »Sie ist arm«, dachte sie. Wie von dieser Feststellung beruhigt, wurde sie auf der Stelle freundlicher.

– Wir haben Freunde bei uns, Mademoiselle. Möchten Sie, dass ich Ihren Vater benachrichtige und ihn bitte, zu Ihnen herauszukommen? Das wird Ihnen gewiss angenehmer sein, als in den Salon zu gehen.

Vom Eingang her, wo sie reglos stehen blieb, folgte die Tochter von Dr. Salmand Mme Bénac mit den Augen. Diese öffnete eine Tür. Für einen Moment sah das junge Mädchen einen verlassenen Winkel des Salons, wo das Licht grell war und weiß vom Zigarettenrauch. In diesem Zimmer war ihr Vater. Was tat er? Stand er oder saß er? Sprach er? Doch der verlassene Winkel verschwand, ohne Antwort gegeben zu haben. Da begann das junge Mädchen zu zittern. Sie drehte sich um. Es sah aus, als suche sie schon, aus Angst, geschlagen zu werden, bis wohin sie würde zurückweichen können. Doch dann streckte sie plötzlich die Arme am Körper hinab, nicht so, wie wenn man sich in Habachtstellung begibt, sondern mit all ihren Kräften, so wie es Sterbende tun, die sich in ihrem Bett aufzurichten versuchen. Diese Bewegung hatte etwas Entsetzliches, wie alle, die eine ungeheure Anstrengung verraten, während sie doch ins Leere gehen.

Bald öffnete sich die Tür zum Salon wieder. M. Salmand erschien. Obwohl seine Tochter vor ihm stand, wirkte er wie ein Reisender, den man aus seinem Zimmer geholt hat und der nun die Hotelhalle durchquert. Von einer seiner Hände stieg, in einer dünnen, senkrechten Spirale, Zigarettenrauch auf. Jetzt stand er einen Schritt vor seiner Tochter. Er sah sie an, doch nur in die Augen. Es war offensichtlich, dass er die Augen gewählt hatte, weil sie im wandelbaren Gesicht immer dieselben bleiben. Er wollte nicht wissen, was in den letzten vier Jahren aus seiner Tochter geworden war. Er wollte nicht, dass irgendeine Einzelheit, die eine Veränderung hätte anzeigen können, seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

– Warum bist du hierhergekommen?

– Marie hat mir gesagt, wo du bist.

– Hast du nicht zu Hause auf mich warten können? Nach vier Jahren hast du es so eilig, mich wiederzusehen!

Tatsächlich war Colette im März 1918 verschwunden. Sie antwortete nicht. Sie sah Jacques wieder vor sich, den sie vor zwölf Stunden auf dem Bahnsteig in Genf verlassen hatte. Sie sah ihn wieder vor sich, wie er neben dem Zug herlief, als dieser anfuhr. Sie sah den leichten, hellgrauen Überzieher, den er trotz Regen und Kälte trug, die gelben Schuhe in den Gummigaloschen. »Weiter als bis zum Ende der Gleisüberdachung werde ich nicht mitlaufen können«, hatte Jacques gesagt. Dort war er stehen geblieben. Sie sah ihn wieder vor sich, wie er seinen Regenschirm aufspannte, denn das Glasdach des Bahnhofs reichte nicht ganz bis dort. Er war gehorsam. Er dachte an seine Gesundheit.

M. Salmand wandte sich an Mme Bénac.

– Es ist wohl besser, ich breche auf.

– Vielleicht sollte Mademoiselle vorher etwas Warmes zu sich nehmen. Es ist mir nicht recht, sie so wieder gehen zu lassen.

In diesem Augenblick griff Denise ein.

– Bitte, Mama. Lass M. Salmand tun, was er für richtig hält.

Kurz darauf verabschiedeten sich Vater und Tochter. Draußen regnete es noch, und über die schimmernden Gehsteige zitterten Reflexe wie Flammen. Es war ein feiner, ganz von selbst schräg fallender Regen, der einen im Licht nass machte und im Schatten zu missachten schien. M. Salmand ging mit großen Schritten, ohne ein Wort zu sprechen, ohne sich um seine Begleiterin zu kümmern. Es war, als hätte er es eilig, nach Hause zu kommen. Doch fuhren Taxis an ihm vorbei, ohne dass er eines heranwinkte. Vielleicht empfand er auch eine boshafte Freude daran, Colette hinter sich herlaufen zu lassen wie einen Hund hinter einem Auto. Auf der Place du Châtelet blieb er plötzlich stehen, drehte sich um, tat, als sei er erstaunt, dass seine Tochter noch da war.

– Was willst du von mir?, fragte er.

– Ich will dich sehen.

– Warum? Ich verstehe nicht, warum. Ausgerechnet von dir kommt das ziemlich unerwartet. Nach vier Jahren willst du mich auf einmal sehen und hast es so eilig, dass du mich von Freunden wegholst.

– Ich wusste nicht, dass du bei Freunden warst. Ich glaubte, du seist bei einem Kranken und schnell wieder draußen. Ich wollte auf dich warten, dich überraschen.

– Überraschen!

– Ja.

– Du lügst schon wieder. Gib doch gleich zu, dass du mich brauchst, dass du etwas von mir haben willst.

Colette antwortete nicht. Es stimmte, sie wollte ihn um etwas bitten. Es war die Not, die sie hergetrieben hatte. Doch es stimmte auch, dass sie ihren Vater trotzdem liebte. Wenn er das nicht verstand, wer sollte es dann verstehen?

– Nein, ich will nichts von dir, antwortete sie, so zerbrechlich erschien ihr hier, auf diesem Platz, mitten in der Nacht, was sie mit ihrem Vater verband.

Zum ersten Mal schaute M. Salmand seine Tochter von Kopf bis Fuß an. Unter diesen Umständen war das ein Zeichen von Zärtlichkeit.
 


1 Hier fehlt eine Seite des Manuskripts. Das »qui« am Anfang des folgenden Halbsatzes ist mehrdeutig. Es könnte auch heißen: … der (oder die) ebenfalls sagen wollte …

II

Als Colette am nächsten Morgen erwachte, dachte sie sofort daran, dass sie ihren Vater um Geld würde bitten müssen. Solange sie sich nicht regte, tat ihr nichts weh, doch sobald sie sich bewegte, spürte sie eine Schwere im Kopf, die ihr Angst machte aufzustehen. Was würde sie im Fall einer Weigerung tun? Ihr Jungmädchenzimmer schien im Zwielicht dieses Wintermorgens ein unbekanntes Zimmer. Auf dem Frisiertisch und auf dem Kaminsims standen keinerlei Gegenstände mehr. In eine Ecke hatte man einen Überseekoffer gestellt, auf dem sich große Pakete stapelten. Die elektrische Lampe hatte keinen Schirm mehr. Unsichtbarer Staub verschleierte die Spiegel. Colette schloss die Augen. Plötzlich hörte sie es leise reden, dann auf Zehenspitzen laufen. Man nahm Rücksicht auf ihren Schlaf, man glaubte, dass sie Ruhe brauche, und diese Aufmerksamkeit steigerte ihr Unbehagen nur noch. Eine Zeit, die sie nicht hätte bestimmen können, verstrich. Wie sollte sie ihren Vater zur Teilnahme am Schicksal eines Mannes bewegen, von dem sie niemals gesprochen hatte, dessen Namen M. Salmand nicht einmal kannte? Wo sollte sie den Mut finden, um das Geld zu bitten, das sie und Jacques brauchten. Sie öffnete die Augen. Seit vier Jahren hatte sie nicht mehr in diesem Zimmer geschlafen. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater sie damals in der letzten Nacht besucht hatte. Er hatte geklopft und war eingetreten, ohne auf ihre Antwort zu warten. Dann stand er in einem Zimmer, das sich von dem, was es heute war, so sehr unterschied. Überall standen und lagen Koffer, Wäsche, Gegenstände herum. Die Lampe hatte einen Schirm. Kein Überseekoffer stand in einer Ecke, auch keine Pakete darauf, auch nicht dieser Stuhl mit der zerbrochenen Lehne neben dem Schrank.

– Du bist wirklich entschlossen zu fahren?

Sie hatte nicht einmal geantwortet.

– Wohin gehst du?, hatte ihr Vater sie gefragt.

Sie erinnerte sich an den außergewöhnlichen Brief, den sie ein paar Tage zuvor erhalten hatte. Sie wusste ihn heute noch auswendig, so sehr hatten alle Formulierungen darin sie überrascht. Meine liebe Colette, ich erwarte Sie Samstagabend in Genf, mit dem Morgenzug aus Paris. Sagen Sie niemandem, wohin Sie fahren und dass Sie mich dort treffen wollen. Ich werde Ihnen erklären, warum. Ich umarme Sie.

– Fährst du allein?

– Ich fahre allein.

Sie erinnerte sich noch an den schneidenden Ton, in dem sie geantwortet hatte. Hatte sie ihrem Vater nicht schon vor zwei Monaten angekündigt, dass sie jetzt, da sie einundzwanzig war, unabhängig sein wollte und deshalb einen Monat allein in der Schweiz verbringen würde?

– Wann kommst du wieder?

– Das weißt du sehr gut. Ich komme in einem Monat zurück.

Und sie war nicht zurückgekommen, sie hatte nicht einmal geschrieben. Doch das war wieder etwas anderes. Was sie sich an diesem Morgen in ihrem Bett in Erinnerung rief, war die Nacht vor ihrer Abreise. Um drei Uhr morgens war ihr Vater noch einmal zu ihr gekommen. Er hatte geklopft wie beim ersten Mal, aber leiser. Colettes Tür war abgeschlossen. Sie antwortete nicht. M. Salmand hatte noch einmal geklopft, mit dem Ehering diesmal. Sie erinnerte sich, dass sie es sehr gut gehört und dass sie weiter geschwiegen hatte, wie sie es in diesem Moment auch tat. Denn seit einer Weile wurde geklopft. Jäh erwachte sie aus ihrem Halbschlaf. »Herein«, rief sie laut, in dem Gefühl, einen Fehler wiedergutzumachen. Es war Marie, die ihr das Frühstück brachte. Als Colette damals fortgegangen war, hatte die alte Hausangestellte ihren Dienst bei M. Salmand eben erst angetreten. Sie war Flüchtling. Heute war sie kein Flüchtling mehr. Colette erinnerte sich an ihre ersten Tage hier, und heute gehörte diese Bedienstete zum Haus, während sie, Colette, eine Fremde war.

– Ich habe für Mademoiselle einen Milchkaffee gebracht. Ich dachte, das hätte Mademoiselle am liebsten.

Colette stand auf, öffnete das Fenster. Die Wohnung befand sich in der Rue d’Assas. Sie ging auf einen Flügel des Lycée Montaigne hinaus, dem, wo die Küchen und die Verwaltung untergebracht sind. Ein grauer Rauch stieg von diesen Gebäuden in die neblige, feuchte Luft. Links ragten die Kastanienbäume des Luxembourg auf, durch die man zu dieser Jahreszeit die Alleen und ein Eckchen der Baumschule sehen konnte.

Colette zog sich eilig an, räumte das Zimmer auf, machte das Bett – das hatte sie sich in Genf angewöhnt, damit die Zimmermädchen sich nicht so oft beklagten, dass sie nie ein Trinkgeld bekamen. Als sie zum Frühstück kam, war es schon kalt. Sie merkte es nicht. Nachdem sie ihren Koffer wieder gepackt und ihn neben der Tür an die Wand gestellt hatte, setzte sie sich aufs Bett. Einige Minuten lang blieb sie so, reglos, mit gesenktem Kopf, ohne zu denken. Endlich entschloss sie sich, zu ihrem Vater zu gehen.

Er saß im Morgenmantel vor seinem Frühstück im Esszimmer und las die Zeitung. In dem Zimmer herrschte große Unordnung. Geschirr und Reste des gestrigen Abendessens waren noch nicht in die Küche geräumt. Sie standen durcheinander auf dem Buffet. Auf einem Rollstuhl lagen Hemden, die die Weißwäscherin vor drei Tagen zurückgebracht hatte. Eine Zeitung war unter den Tisch gerutscht, und keiner hatte es bemerkt. Marie sagte, sie könne nicht alles tun, es sei Arbeit für zwei. Wenn sie das Frühstück gerichtet, das Zimmer von Monsieur, das Konsultationszimmer und das Wartezimmer saubergemacht habe, müsse sie schon wieder an die Einkäufe fürs Mittagessen denken, so dass Salon und Esszimmer, die in der Reihenfolge, die die alte Frau sich auferlegt hatte, zuletzt kamen, regelmäßig geopfert wurden.

– Guten Morgen, Vater, sagte Colette und trat langsam in das Zimmer, so als hätte sie schon vor einem Augenblick hereingeschaut und sei nun, da sie nicht wusste, was tun, aus Untätigkeit wieder zurückgekehrt.