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Über dieses Buch

Boves Protagonisten sind nicht selten einsame Menschen, die an einem kritischen Punkt ihres Lebens angelangt sind und nicht mehr weiterkommen. Ein meist geringfügiger Anlass treibt sie in Verzweiflung, meist scheitern die Versuche, das Problem zu lösen. Schicksalsergeben lassen sie sich auf das ein, was sie umtreibt, ungläubig manchmal, hadernd mit ihren Vorstellungen von einem anderen, schöneren Leben, das wieder einmal nur in der Vorstellung Bestand haben durfte. Diese Vorstellungen werden jedoch nicht denunziert, auch nicht die übermäßige Sehnsucht, sie zu verwirklichen. Meist sind es Bagatellen, die den Helden in die Quere kommen – aber so, wie Bove sie darauf reagieren lässt, wird daraus eine Tragödie, der schließlich, auf vertrackte Weise, nicht mehr zu entkommen ist.

»Das Verbrechen einer Nacht« ist der erste Text, den Emmanuel Bove schrieb. 1923 bietet er ihn der Zeitschrift »Matin« an. Die verantwortliche Redakteurin Colette ist so begeistert, dass sie die Veröffentlichung seines ebenfalls gerade fertiggestellten Romans »Meine Freunde« vermittelt, der ihn 1924 berühmt machen wird.

Knapp 90 Jahre nach dem Erscheinen der Originalausgabe 1928 liegt nun erstmals eine deutschsprachige Ausgabe der sieben Erzählungen vor.

»Seine Figuren gehen noch heute durch die Straßen, nicht nur in den zwanziger Jahren. Es gibt eine Art von trister Ewigkeit, Leute, die in der Erwartung leben, die immer warten.« (Peter Handke am 25. Oktober 1990)

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Übersetzer

Martin Zingg, 1951 geboren in Lausanne. Studium der Germanistik, der Neueren Geschichte und der Politischen Philosophie in Basel. 1982 bis 2006 gemeinsam mit Rudolf Bussmann Herausgeber und Redakteur der Literaturzeitschrift »Drehpunkt«. Lebt als Publizist, Autor und Übersetzer in Basel.

Geschichte
eines Wahnsinnigen

Erzählungen

Aus dem Französischen
von Martin Zingg

Edition diá

Inhalt

Das Verbrechen einer Nacht

Ein anderer Freund

Abendlicher Besuch

Was ich gesehen habe

Geschichte eines Wahnsinnigen

Die Rückkehr des Kindes

Ist es eine Lüge?

Editorische Notiz

Impressum

Das Verbrechen einer Nacht

Es war am Abend vor Weihnachten.

Henri Duchemin saß auf der abgewetzten Sitzbank eines Restaurants und wartete darauf, dass der Regen aufhöre. Die langen Haare, die seine Ohren kitzelten, wie auch die löchrigen Taschen seiner Hosen erinnerten ihn beständig an seine Armut.

Er wollte hinausgehen, ermüdet von der Reglosigkeit, als ihm der dunkle Gang seines Hauses einfiel, der feuchte Hof, die engen Treppenstufen und sein ungeheiztes Zimmer unter dem Dach.

All diesem zog er die angenehme Wärme des Restaurants vor.

Einige Stammgäste lasen die Abendzeitung. Ein Luftzug bewegte das Kettchen an der Gasheizung. Die Angestellte stützte sich mit den Armen auf die Theke und wünschte zu gehen.

Plötzlich streckten die Gäste den Hals: Eben war ein Bettler eingetreten.

– Ein Buckliger, sagte einer von ihnen.

Der Wind aus der Straße hätte beinahe die Flamme des Gasbrenners gelöscht. Schatten fielen von der Decke, die Mauern entlang.

– Schließen Sie doch die Türe!

Der Bettler gehorchte und kam näher, den Hut in der Hand, wobei er verstohlen nach links und nach rechts sah.

– Was wollen Sie?

– Um ein Almosen bitten.

Dieser Bettler schien ein wenig wie ein Schauspieler, der endlich auf eine leere Bühne tritt. Die Angestellte, hin- und hergerissen zwischen dem Vergnügen, abgelenkt zu sein, und dem, den armen Teufel zu verjagen, blieb nur kurz unentschlossen.

– Gehen Sie raus. Hier wird nicht gebettelt.

Die Gäste nutzten den Zwischenfall und kamen miteinander ins Gespräch. Obschon sie nicht alle der Angestellten zustimmten, spürten sie, dass sie sich einig werden könnten, indem sie damit einverstanden waren.

Es lag eine Art Verwandtschaftsgefühl in der Luft, sie erörterten lange und gefühllos die Bettelei, die Prostitution, die sozialen Probleme, wie sie sagten.

Von einer Glocke ertönten vier Schläge, die aber neun Uhr anzeigten.

Henri Duchemin erriet, dass diese Unbekannten schlechte Gedanken hegten. Er überzeugte sich, dass der Wattebausch, die seine Ohren verstopfte, nicht herausgefallen war, und während er seinen Überzieher schüttelte, erreichte er die Türe, aus der eine Sekunde lang das Licht des Restaurants die dunkle Straße querte.

Der Regen glitt das farbige Gusseisen der Straßenlaternen herunter. Die Gehsteige glänzten und schienen sich zu bewegen. Die Lichter der Autos und Taxis gaben kaum Licht.

Er betrat ein Café. Die Markise, vom Wind geschlagen, warf ganze Wasserladungen ab.

Der Dampf, der überall wallte, beschlug die Gläser, die Theke, die Glühbirnen. Einige Gäste hatten etwas auf die angelaufenen Fensterscheiben gezeichnet.

Henri Duchemin bestellte einen Kaffee, einen schön warmen Kaffee, den er in einem Zug herunterstürzte, noch bevor der Zucker geschmolzen war.

Eine Frau, deren Pelzmantel noch nass war, trank ein Glas Milch, die das Rot ihrer Lippen wohl versüßte. Ihre stark geschminkten Augen blieben immer offen, wie die einer Puppe.

– Was für ein trauriger Heiliger Abend!, sagte sie.

Henri Duchemin wusste wohl, dass gewisse Frauen Männer ansprechen, um sie um Geld zu bitten, aber er wollte lieber nicht daran denken und seine Hoffnung auf ein neues Erlebnis nicht trüben.

– Ja, ein trauriger Heiliger Abend!

Er sah zur Türe. Er fürchtete, sein Nachbar könnte hereintreten, Herr Leleu. Dieser würde sich neben ihn setzen, hierher, und hätte ihn zweifellos verdrängt.

– Sie langweilen sich gewiss, mein Herr?

– Nun ja … nehmen Sie es mir nicht übel … wenn Sie wüssten, wie ich leide … ich möchte so gern mein Herz ausschütten … In Ihren Augen bin ich ein Fremder … Gedulden Sie sich … Ich werde Ihnen mein Leben erzählen … es ist ziemlich traurig …

Er war so froh, konnte er sprechen, dass er wie verjüngt schien. Die Gewissheit zu gefallen gab ihm Zuversicht. Er wollte eben fortfahren, als seine Nachbarin in Gelächter ausbrach:

– Machen Sie sich nicht lächerlich. Wenn Sie unglücklich sind, brauchen Sie sich bloß umzubringen.

Henri Duchemin errötete. Eine Minute lang suchte er nach einer Antwort.

Da er sie nicht fand, erhob er sich und trat hinaus, das Herz voller Bitternis.

Der Regen, der sein Gesicht streifte, belebte ihn. Zwei Reihen von Gasbrennern trafen am Ende einer Straße zusammen. Die Passanten stießen mit dem Kopf an den Stoff ihres Regenschirmes.

»Mich töten! Sie ist verrückt … Die Welt ist bösartig«, dachte er.

Seine nassen Hosen klebten an den Schenkeln. Seine Füße rutschten in den Schuhen, die Wasser zogen, selbst wenn im Sommer die Gehsteige gewässert wurden. Er sah nichts, nicht einmal die Bäche, die mit dem Geräusch einer kleinen Kaskade in die Kanalisation hineinströmten.

Endlich erkannte er eine Nische wieder, die von geteerten Röhren verstellt war, wo er oft hinging und den Arbeitern zuschaute und sich an einem Ofen aufwärmte.

Er war angekommen.

Es war so windig, als er die Türe seines Hauses öffnete, dass ihm schien, jemand wolle ihn am Eintreten hindern.

Henri Duchemin stieg langsam die Treppe hoch und schloss, als er bei sich angekommen war, leise die Türe seines Zimmers, um Herrn Leleu nicht zu wecken.

Als die Lampe brannte, brachte sie eine Unordnung zum Vorschein, die ihn verwunderte, weil er vergessen hatte, dass der Haushalt nicht besorgt war.

Die Möbel, die neben sich ihren Schatten warfen, schienen einander zu berühren. Ein eiskalter Windstoß, der unter dem Fenster hereindrang, bewegte die Vorhänge. Die Feuchtigkeit trieb an der Gipsdecke Blasen. Die Tapete hing wie alte Plakate herunter. Das ungemachte Bett war kalt. Wenn der Wind an der Türe rüttelte, knirschte das Schloss.

»Mich töten … bitte … sie ist wahnsinnig.«

Um die Erinnerung an diese Frau zu verdrängen, durchmaß Henri Duchemin das Zimmer und zählte seine Schritte, wobei er sich freute, in beiden Richtungen auf die gleiche Zahl zu kommen. Dabei bemerkte er, dass sein Atem freier war, wenn er seinen Rücken der Lampe zuwandte.

Die Fensterläden, die der Wind ausgehängt hatte, schlugen so heftig gegen die Wand, dass er fürchtete, die Nachbarn könnten sich beklagen.

Er öffnete das Fenster sperrangelweit: Die Flamme der Kerze wurde kleiner, die Vorhänge hoben sich hinter ihm wie Gespenster, eine Straßenbahnkarte wurde ins Zimmer geweht.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah er ein erleuchtetes Fenster und durch den Rollladen eine Frau, deren Silhouette heftig gestikulierte.

Henri Duchemin lehnte sich hinaus, mit windzerzausten Haaren, die Hände geschwärzt von der Stange, und beobachtete verstohlen diese Frau. Er bewegte sich nicht, und seine Augen waren so groß, dass die Pupillen viel kleiner erschienen im zu vielen Weiß.

Aber das Licht ging aus. Er hoffte, es werde bei einem anderen Fenster wieder angehen, und wartete. Die Nacht war dunkel. Der Wind, der in seine Ärmel hineinfuhr, kühlte seinen Körper. Der Regen glänzte um eine Straßenlaterne herum.

Er schloss das Fenster, und als er vor dem einzigen Fauteuil stand, erblickte er überall, in der Tiefe der Mauern, aufrecht auf seinem Bett, aufreizende Frauen.

Nein, er würde sich nicht umbringen. Mit vierzig Jahren ist ein Mann noch jung und kann, wenn er nur Ausdauer hat, reich werden.

Henri Duchemin träumte von Bittstellern, von eigenen Häusern, von Freiheit. Aber wenn sich seine Phantasie beruhigt hatte, kam ihm die Unordnung in seinem Zimmer noch größer vor, was nicht zu seinen Träumereien passte.

Ein Spiegel im Bambusrahmen gab sein Gesicht wieder. Er vergaß alles und führte ein Selbstgespräch und blickte sich an, um zu sehen, wie er beim Sprechen wirkte.

Die Lampe sank und erleuchtete nur noch den Tisch. Die Flamme zitterte auf dem Docht. Plötzlich erlosch sie.

Henri Duchemin tastete nach Zündhölzern und warf Gegenstände um, die er nicht sah.

Müde vom Suchen, setzte er sich auf das Fauteuil und schloss die Augen, um die Dunkelheit nicht zu sehen.

Die Wärme seines Körpers trocknete allmählich die Kleider. Er fühlte sich wohler. Bald schien ihm der Boden unter seinen Füßen nachzugeben, seine Beine schienen im Leeren zu baumeln, wie die eines Kindes auf einem Stuhl.

Er schlief schon lange, als er auf seiner Wange die Wärme einer Flamme spürte, es war, als atmete jemand.

Er schlug die Augen auf.

Neben ihm stand Herr Leleu, in der Hand eine Lampe.

Herr Leleu war ein Mann um die fünfzig, er war friedlich und lebte in ärmlichen Verhältnissen. Er interessierte sich für das Leben von Kriminellen und stellte sich immer auf die Seite der Polizisten. Er las die Vermischten Meldungen, aber nie Kriminalromane, da es ihm unangenehm war, einen Bericht zu lesen über etwas, was sich gar nicht zugetragen hatte.

– Schläfst du, Duchemin?

– Nein.

Herr Leleu stellte seine Lampe auf den Kaminsims. Sie erleuchtete weiterhin den Fußboden.

– Ich muss mit dir reden, Henri.

Herr Leleu strich über seinen Bart und zwirbelte die Spitze.

– Erinnerst du dich an die Frau im Café?

– Ja.

– Was sie sagt, muss getan werden.

– Mich töten?

– Ja.

– Sie denken, dass das getan werden muss?

– Ja, denn du bist unglücklich.

Der Regen schlug, vom Wind getragen, immer wieder gegen die Fensterscheiben.

– Aber ich werde es nicht wagen.

– Warum, Henri? Ich bringe dir ein Seil. Die Schlinge ist geknüpft. Siehst du, alles ist bereit. Ich komme wieder, wenn du tot bist, damit kein Verdacht auf mich fällt.

Herr Leleu erhob sich.

– Sie kommen wieder, wenn ich tot bin!

– Ja, ich werde die Mieter wecken. Adieu. Ich lasse dir die Lampe, ich werde sie später holen.

Herr Leleu ging leise weg.

Henri Duchemin war nun allein und rieb sich die Augen, sah auf die Lampe und wollte, als ihm klarwurde, dass er nicht träumte, seine letzten Gedanken aufschreiben. Aber er wusste nicht, was.

Plötzlich, vielleicht, weil der Tod ihn ängstigte, vielleicht, weil er fürchtete, dass Herr Leleu zurückkommen könnte, beschloss er zu fliehen.

Er löschte die Lampe aus, damit die Flamme nicht wieder aufflackerte, und trat hinaus.

* * * 

Obwohl die Türe von Herrn Leleu geschlossen war, ging Henri Duchemin auf Zehenspitzen.

Draußen riss die kalte Luft am Nerv eines seiner Zähne. Es regnete nicht mehr. Das Gefälle der Straße lud zum Rennen ein. Die Blasen, die auf den Wasserlachen schwammen, platzten nicht, denn sie waren unbeweglich.

Henri Duchemin durchquerte eine Vorstadt. Auf den Mauern war mit Kreide geschrieben worden. Ein Bretterzaun verbarg eine Brache. Fenster ohne Vorhänge leuchteten im Schein einer Laterne, wie Glimmer.

Ein rot bemaltes Kabarett tauchte eine Sackgasse in Licht. An den Fenstern, die noch Regenspritzer trugen, bewegten sich Schatten.

Ein Passant hätte gezögert, in diese Spelunke einzutreten.

Henri Duchemin, der an diesem Abend nichts fürchtete, trat ein und nahm hinten Platz, mit der Ungezwungenheit eines Stammgastes.

Einige Gäste standen und diskutierten mit der Wirtin. Diese hatte einen nassen Schurz umgebunden, stand im Trockenen auf einem Lattenrost und spülte Gläser.

– Was wünscht der Herr?

– Einen Rum.

Henri Duchemin schluckte ihn wie eine Tablette herunter.

Danach trank er Bier, Wein, Liköre, und weil er das nicht gewohnt war, war er eine Stunde später betrunken. Der Alkohol hatte ihn traurig gemacht. Auch quälte ihn der Gedanke, dass er seine Getränke nicht würde bezahlen können.

Bald gerieten seine Gedanken durcheinander. Er zwinkerte mit den Augen, als würde ihn die Sonne blenden. Er konnte das Glitzern der Theke nicht mehr erkennen und nahm nicht einmal mehr das Klirren der Flaschen wahr.

In diesem Moment sah er trotz seines Zustands gegenüber einen Mann, der vor sich hin döste, den Kopf auf dem Tisch, die Arme zwischen den Beinen.

Henri Duchemin konnte es nicht fassen. Er glaubte zu träumen, streckte die Arme und berührte mit der Fingerspitze das Haar des Schläfers.

Dieser fuhr aus dem Schlaf hoch. Seine Wimpern waren schmutzig. Er musste noch halb im Schlaf sein, denn er suchte in allen Taschen sein Messer. Obwohl er unrasiert war und sein Hut kein Band hatte, trug er einen abknöpfbaren Kragen. An der Hand hatte er ausgeprägte Venen.

– Zu trinken!

Sicher liebte er es, wie viele Menschen, beim Erwachen etwas zu trinken.

Kaum hatte die Wirtin eine Flasche Wein gebracht, schluckte er zwei Gläser hintereinander.

Er lächelte und wollte ein Gespräch beginnen.

– Was für ein schlechtes Wetter!

Henri Duchemin antwortete nicht. Er plauderte gerne, aber er misstraute den Fremden.

Als sie merkten, dass ihre Diskussion nichts fruchtete, gingen die Gäste weg.

Die Wirtin ordnete mit nassen Fingern ihre Frisur. Die beiden Männer beobachteten sie.

– Hören Sie mal, sagte der Unbekannte.

Er wurde nicht zum Weiterreden ermutigt.

– Hören Sie doch mal.

– Ja.

– Sagen Sie mir Ihren Namen.

Henri Duchemin wusste nicht, was antworten.

Ihm schien, er werde schwächer sein, er werde sich entblößen, er werde sich der Gnade dieses Unbekannten ausliefern, wenn er seinen Namen nannte, und auf diese Weise überrumpelt, war er nicht geistesgegenwärtig genug, einen falschen zu erfinden.

Leise, als wollte er nicht gehört werden, sagte er:

– Henri Duchemin.

– Wollen Sie mein Freund werden? Ich möchte viel Geld haben, wie Sie auch.

Tatsächlich wollte Henri Duchemin viel Geld haben. Da er dachte, dieser Wunsch könne nur der eines Kühnen sein, schmeichelte ihm, dass sein Nachbar ihn erraten hatte. Er schlug ein, obschon ihm dieses Bündnis unvorsichtig erschien.

– Aber wie heißen Sie denn?

– Ich habe keinen Namen.

– Sie haben keinen Namen?

– Ich habe einen, aber du brauchst ihn nicht zu wissen.

– Und was machen Sie?

– Nichts. Aber von nun an muss gehandelt werden. Willst du reich werden, Duchemin?

– Ja, wenn das möglich ist.

Als die Wirtin bediente, nahm der Mann ohne Namen sie bei der Hüfte.

– Mach es doch nach, Duchemin.

Dieser hätte es gerne ohne die Schüchternheit getan, die seine Kräfte schwinden ließ.

– Nicht erröten, junger Mann, sagte die Wirtin, und wand sich los.

– Duchemin … ich muss ernsthaft mit dir reden … pass auf.

– Ich höre dir zu, sagte Henri Duchemin, der seinen Gesprächspartner auch duzen wollte.

– Möchtest du reich sein?

– Ja.

– Du musst nicht mit Ja antworten, es heißt: Ich möchte.

– Ich möchte.

Ein Gast, der beim Ofen schlummerte, schreckte hoch. Das Wasser, das von seinem Mantel und seinen Schuhen verdampfte, hüllte ihn in eine durchsichtige Wolke ein. Die Wirtin, die einen Roman las, hatte Mühe, die Seiten zu wenden.

– Hörst du mir zu, Duchemin?

– Ich höre dir zu.

– Wenn du wählen kannst zwischen dem Leben, das du führst, und dem Reichtum, was wählst du?

– Den Reichtum.

Von einem schlecht zugedrehten Wasserhahn fielen Tropfen in einen Bottich.

– Du wählst den Reichtum?

– Ja.

– Bravo! Du bist gerettet.

Der namenlose Mann näherte sich seinem Nachbarn und nahm dessen Hand.

– Hast du Mut?

– Ja.

Im hellen Saal rührte sich nichts.

– Gut. Wir werden gleich in ein Haus gehen. Ein Bankier soll dort die Nacht verbringen.

– Ein Bankier?

– Ja. Wenn er schläft, wirst du …

Der Mann ohne Namen hob seinen Hut, damit der Schweiß auf der Stirn nicht das Leder nässte.

– Wenn er schläft, wirst du …

– Ich …

– Du wirst ihn töten.

– Ich werde ihn töten?

– Ja …

Henri Duchemin wurde es schwindlig, wie wenn er nichts aß. Er sah verschwommen die Hängelampe, die Flaschen fielen hinter die Theke und durchquerten den Raum.

– Du wirst in sein Zimmer eindringen … der Mond wird dir leuchten … Du musst nur zuschlagen … Dann wirst du reich sein.

– Hilfe, Hilfe!, schrie Duchemin.

Die Wirtin blickte nicht einmal auf.

Der Gast hingegen schwankte auf seinem Stuhl, und im Wechsel erwachte er und schlief wieder ein.

– Du wirst Kleider kaufen, Duchemin, neue Kleider.

Henri Duchemin atmete mit voller Brust die warme Luft ein, die seine Zähne trocknete.

– Willst du anstoßen?

– Ja.

– Zwei Cognacs, Wirtin!

Sie goss ein und nahm mehrere Anläufe, aus Sorge, die Gläser könnten überlaufen.

Eine Minute später traten die beiden Männer zum Ausgang. Die Falltüre zum Keller erzitterte unter ihren Schritten. Der Mann ohne Namen klemmte seinen Schnauz zwischen die Lippen, um die letzten Cognac-Tropfen einzusaugen.

– Schönen Abend.

– Schönen Abend, meine Herren.

»Wir haben die Getränke nicht bezahlt, und sie verlangt nichts von uns«, dachte Henri Duchemin.

Er wollte seine Beobachtung seinem Begleiter mitteilen, fürchtete aber, lächerlich zu erscheinen.

* * * 

Es regnete wieder. Die beiden Kumpane strebten, wortlos und jedes Mal wieder rutschend, wenn der Bürgersteig sich neigte, auf das Haus zu, von dem der Mann ohne Namen gesprochen hatte.

Henri Duchemin war unentschlossen. Ihm schien, dass der Mord in dieser belebten Straße schwer zu begehen war. Es wurde ihm klar, dass er nicht hätte einwilligen sollen, und weil es nun zu spät war, sich aus der Affäre zu ziehen, beschloss er zu fliehen. Aber sei es, weil er eine gute Gelegenheit abwartete, sei es, weil er sich vor dem Mann ohne Namen fürchtete, schob er den Moment des Handelns immer weiter hinaus.

Als er eine Brache erblickte, rannte er endlich so schnell wie möglich davon. Um nicht gegen einen Klumpen oder einen Stein zu stoßen, riss er die Knie hoch wie ein Paradepferd. Seine Krawatte flatterte hinter ihm her. Die Mulden und Haufen, die sich unter seinen Schritten abwechselten, erinnerten ihn an die Zeit, in der er als Kind von einem Gipfel Schwung geholt hatte, um leichter einen anderen zu besteigen.

Ein Seitenstechen zwang ihn, seinen Lauf zu unterbrechen. Henri Duchemin war von schwacher Natur und anfällig für Seitenstechen.

Freiheitstrunken und mit steifem Hals irrte er auf einem schlammigen Weg umher. Hecken mit toten Zweigen zerkratzten ihm die Hände. Der Wind nahm ihm den Atem.

Mit dem Fuß stieß er an eine Weißblechdose, die seine Knöchel mit Wasser vollspritzte, als sie umfiel. Trotz dieses Zwischenfalls wollte er pfeifen, aber aus seinen Lippen kam die Luft wie aus einer Röhre. Er wusste nicht, wie pfeifen. Also sang er das einzige Lied, das er auswendig konnte.

– Duchemin, schrie eine ferne Stimme, eine dieser einsamen Stimmen, wie man sie am Sonntag in den Wäldern hört.

Er lauschte atemlos. Er hatte Angst. Er wollte rennen. Aber seine Beine waren unsicher, wie im Krieg, wenn er mit der Bahre einen Kameraden trug.

– Hab keine Angst, ich bin’s.

Es war der Mann ohne Namen. Um Henri Duchemin nicht zu erschrecken, machte er ihm keinerlei Vorhaltungen. Im Gegenteil, er sagte ihm, dass er an seiner Stelle gleich gehandelt hätte.

Die beiden Männer verließen den Weg, und auf dem Bürgersteig machten sie einige Schritte, als hätten sie Klumpfüße, um den Dreck von ihren Schuhen zu lösen.

Henri Duchemin, dem es warm geworden war, schlotterte nun, was ihn eine Bronchitis fürchten ließ. Er dachte nicht mehr daran zu flüchten und wünschte sich nur noch ein Bett zum Schlafen.

Die beiden Männer irrten eine ganze Stunde in den Straßen herum. Manchmal setzten sie den Fuß in eine Pfütze, die sie bis zu den Knien nässte.

Diese Begebenheiten hatten wenig Bedeutung im Vergleich zu dem, was erst noch geschehen sollte.

Vor einem neuen Haus blieb der Mann ohne Namen schließlich stehen.

– Hier ist es.

Er läutete. Ein Fenster leuchtete auf die Straße. Ein Murren und das Klappern von Pantoffeln waren bis nach draußen zu hören.

– Wer ist da?

– Ich!

Man hörte die Rolle eines Türriegels knirschen, und die Tür ging auf. Eine Glühbirne an der Decke beleuchtete den oberen Teil des Vorzimmers. Der Mann, der eben geöffnet hatte, war in Hemdsärmeln. An den Haaren und an den Abdrücken der einen Wange konnte man erkennen, auf welcher Seite er geschlafen hatte.

– Tretet ein, ich gehe voraus, sagte er.

Im Esszimmer, wohin er seinen Besuch führte, stand auf einer Konsole ein Korb mit künstlichen Blumen, sommers wie winters. Ein Lampenschirm aus weißem Porzellan verbarg eine elektrische Lampe, die an einem Kabelende festgemacht war.

Henri Duchemin zog den Mantel aus, der seine Schultern beengt hatte, und als er sich wohlfühlte und die Arme wieder länger waren, suchte er die Flecken auf seiner Jacke. Sie waren verschwunden.

Der Mann ohne Namen legte sich auf eine Couch, die Füße außerhalb, um nicht den roten Samt zu beschmutzen. Er schloss die Augen und schlief ein.

Henri Duchemin saß in einem Korbstuhl, der selbst dann knirschte, wenn er sich gar nicht bewegte, und blies in die Hände. Mit geschlossenen Augen stellte er sich vor, wie sein ganzer Körper in diesem warmen Atem badete. Er spürte, dass seine Füße kalt und nass waren, aber das störte ihn nicht. Seine Füße waren so weit weg vom Körper. Manchmal fuhr ein Wagen durch die Straße, ganz nahe an den Fensterläden vorbei.

Plötzlich wurde an der Tür geklopft.

Der Mann ohne Namen richtete sich auf, wie ein Reisender, der zwei Plätze belegt. Henri Duchemin, der sich zurechtfinden wollte, verstand nicht, was vor sich ging.

– Duchemin, das ist er.

– Wer?

– Der Bankier.

Tatsächlich, das war er. Er trug einen Mantel, dessen Revers aus Seide war, und hielt in der Hand einen hohen Hut. Er trat ein, verbeugte sich zur Begrüßung, setzte sich auf einen Stuhl, faltete eine Zeitung auseinander und las die Börsenkurse.

Die Stille wurde nur durch das Knistern der großen Zeitungsseiten unterbrochen.

Dann erhob sich der Bankier, grüßte und trat hinaus.

Die beiden Männer blieben alleine zurück und wirkten auf verdächtige Weise wie ein Dienerpaar, das eben die Sympathie seiner Herren gewonnen hat.

– Duchemin, folge mir.

Auf den Zehenspitzen, eine Hand an der Mauer, querten sie einen Flur, den ein Nachtlicht spärlich beleuchtete.

– Da gehen wir rein.

Sie traten in ein Zimmer mit Blumentapeten.

– Nimm Platz, Duchemin.

– Gut.

– Ziehe deine Schuhe aus.

Henri Duchemin gehorchte. Dabei kam es ihm vor, als wären es nicht die eigenen Schuhe, die er auszog.

– Hör zu, Duchemin.

– Ich höre.

– Das Bett ist auf der rechten Seite … das Fenster ist offen … der Mond wird dir leuchten.

– Der Mond scheint gar nicht.

– Ich sage dir, dass der Mond dir leuchten wird. Du wirst zuschlagen, als ob du einen Baumstrunk spalten möchtest … dann wirst du reich sein …

Durch die Mauer drangen leichte Geräusche.

– Und wenn er nicht schläft?

– Geh … es ist für dein Glück.

Henri Duchemin erhob sich. Seine nassen Socken hinterließen Abdrucke auf dem Parkett.

Ein Meter trennte ihn von der Türe, als er stehen blieb.

– Ich habe Angst.