Roman
Aus dem Norwegischen
von Elke Ranzinger
Ich habe ihn selbst hereingelassen.
Den Eindringling, wie ich ihn später genannt habe, aber er ist nicht eingedrungen. Er hat an der Tür geläutet wie jeder andere auch, und ich habe die Tür aufgemacht. Wenn ich daran denke, spüre ich heute noch dieselbe Unruhe wie damals. Und vielleicht quält das eigentlich am meisten. Er hat geläutet, und ich habe aufgemacht.
Ganz alltäglich.
Vielleicht hatte ich ihn am Morgen, als Simon zur Arbeit ging, schemenhaft am hintersten Ende des Gartens gesehen. Zwischen den Bäumen. Ein junger Mann, neunzehn oder zwanzig Jahre alt.
Als ich die Tür aufmachte, stand er auf der Treppe und wartete darauf, hereingebeten zu werden. Wie jeder, er hätte jeder sein können.
Guten Tag, sagte er. Kann ich Ihr Telefon kurz benutzen?
An diesem Guten Tag war irgendetwas. Heutzutage sagt das kaum noch jemand, aber damals, Mitte der Sechziger, war es ganz geläufig. Und trotzdem sagte er es nicht, als meinte er es ernst, eher als wäre heute kein guter Tag, oder als wünschte er mir das. Es wirkte dahingesagt, an alle und niemanden gerichtet.
Wir haben kein Telefon, wollte ich am liebsten antworten. Aber das war offensichtlich gelogen.
Aus dem Wohnzimmer hörte ich die Kinder. Helena war damals ein Säugling, sie lag in einer Tragetasche, und die beiden anderen spielten neben ihr auf dem Boden. Im Radio erklang das Zeitzeichen, draußen hinter ihm lag der Garten, so früh am Morgen steht die Luft dort still, der Regen vom Vorabend perlt als nasser Hauch auf den Blättern, dem grünen Gras, gerade erwacht, schlaftrunken, und wo Schatten unter der jähen Berührung durch Sonnenlicht weichen, flirrt es. Ich weiß nicht, wonach ich Ausschau hielt, vielleicht nach einer Entschuldigung, die Tür zumachen zu können.
Wir haben keine gute Leitung, sagte ich.
Ist schon in Ordnung, meinte er. Ich fragte mich, ob es ihm zustehe, das zu sagen. Sollten das nicht eigentlich meine Worte sein?
Wir waren bereits ein paar Minuten dagestanden, und weil ich das Gefühl hatte, unhöflich zu sein, machte ich schließlich die Tür ganz auf, trat zur Seite und ließ ihn ins Haus. In dem Moment, da er an mir vorbeiging, vernahm ich den Geruch, den er hereintrug. Den Geruch eines anderen Menschen, eines Menschen, der zu nahe gerückt war, diese Empfindung wurde durch meine Unruhe noch verstärkt. Er sah sich im Flur um, suchte nach dem Telefon oder nach sonst etwas. Ich nickte in Richtung des Garderobentischchens, und er hob nur ab, der Klang des Freizeichens summte, während er den Hörer über die Drehscheibe hielt, und dann das Klicken, als er ihn wieder auf die Gabel legte.
Er hatte nie vorgehabt zu telefonieren. Dass er das nie vorgehabt hatte, war jetzt klar. Er konnte es auf alles abgesehen haben.
Schönes Haus, sagte er.
Ja, sagte ich.
Mir war das an seinem Gürtel befestigte Etui aufgefallen, ein kleines Etui, in dem womöglich irgendetwas steckte, ein Werkzeug, ein Klappmesser? Zu diesem Zeitpunkt hatte er wohl die Kinder entdeckt. Greta, die vor einem großen Blatt Papier auf dem Bauch lag, vertieft in ihre Zeichnung, und um sie herum auf dem Teppich verstreut ihre Farbstifte. Kirstens Kleid war hochgerutscht, und so schaute die Windel, die sie noch brauchte, hervor, sie baute einen Turm aus Holzklötzen, stapelte ein Klötzchen auf das andere. Er muss sie betrachtet haben, muss sie eine Weile lang nur angesehen haben, bevor sie auf ihn aufmerksam wurden, denn meine Unruhe wuchs weiter an. Ich dachte, dass ich die Tür aufmachen sollte, dass ich ihn bitten sollte zu gehen, aber es war schlicht unmöglich.
Aus dem Radio das Surren einer tiefen Stimme, draußen die vom Wind bewegten langen Äste des Baums, die mit ihrem Wiegen den Anschein erweckten, dass irgendetwas anrückt und sich wieder entfernt. Ich habe oft wachgelegen und daran gedacht: die Kinder sehen auf, sehen mit fragendem Blick zu ihm, zu mir. Helenas wedelnde Ärmchen ragen aus der Tragetasche. Sie ist seit einer Weile wach, ich weiß, sie wird bald losheulen, aus Langeweile oder weil sie Hunger hat.
Ich gehe an ihm vorbei durch die Wohnzimmertür, nehme aus einem Reflex heraus die Babytragetasche vom Boden und trage sie zu dem großen Esstisch, weg von ihm, stelle sie auf den Tisch. Am Ende des Wohnzimmers.
Er ist ein paar Schritte in den Raum getreten, steht da und beobachtet die Mädchen, aus Gretas Strichen entsteht ein großes Haus, ein Mädchen mit einem dreieckigen Kleid, rechts oben in der Ecke die Sonne. Sie müht sich mit einer Blume ab.
Warum sitzen sie auf dem Fußboden?, fragte er dann.
Sie spielen, antwortete ich.
Danach habe ich nicht gefragt, sagte er. Die Gereiztheit in seiner Stimme. Ich hörte es. Jetzt kommen wir der Sache wohl näher, dachte ich, vielleicht dem Grund, warum er gekommen war. Vielleicht sollten wir seiner Meinung nach so weit kommen, vielleicht hatte er die ganze Zeit hierhin gewollt, an diesen Punkt.
Wie wäre es mit einem Kaffee?, versuchte ich dem Unweigerlichen zu entkommen, wollte einen Schritt zurück, zu etwas, was das Ganze hätte sein können, dieser Besuch.
Er schüttelte den Kopf. Danke, ich möchte nichts.
Dass er nichts wollte, war nicht wahr, das hatte ich verstanden.
Helenas wedelnde Ärmchen, sie versuchte mit einer Hand ihre andere zu greifen. Greta, die aufgestanden war, und uns jetzt betrachtete.
Ich wagte etwas.
Ich habe ein bisschen Geld, sagte ich. In meinem Unterleib krampfte es, zuerst schien es, als hätte er mich nicht gehört oder als interessierte es ihn nicht, als könnte auch Geld nichts klären. Ich dachte: Wenn es doch nur Geld wäre, was er wollte. Er stellte sich ans Fenster, das auf den Garten hinauszeigte. Das Haus war damals schon dasselbe, wir haben nicht viel umgebaut. Nur der Garten war kleiner, es gab mehr Bäume, mehr Wald, der in den eigentlichen Garten reichte, Bäume, die wir später fällten.
Wie viel hast du?, fragte er und drehte sich um, war vor dem Licht nur mehr eine Kontur, ein verschattetes Gesicht.
Als ich zu meiner Tasche im Flur ging, folgte er mir.
Zwanzig Kronen, antwortete ich. Das ist alles.
Ich legte ihm das Geld in die Hand. Eine bleiche Hand, ich kann mich an die Hand erinnern, wahrscheinlich für immer. Er streckte sie aus, als wollte er das Geld nicht nehmen, sondern annehmen, als läge dazwischen ein riesiger Unterschied. Ich registrierte es. Für die damalige Zeit war das nicht viel Geld, aber auch nicht wenig. Er stopfte es in die Hosentasche, und ich sah ihn an, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass sich unsere Blicke begegneten. Als hätte ich vorher nicht zu seinen Augen vordringen können. Ich spürte mein Herz, es war aus dem Takt geraten, es schlug gegen die Rippen, schneller und schneller und wollte sich nicht mehr beruhigen.
Wir haben uns vermutlich beide genau in dem Moment umgedreht, als es passierte. Greta will auf einen der Esstischstühle klettern, vielleicht um zu versuchen, das mittlerweile heulende Baby zu trösten. Sie zieht die leichte Tasche zu sich heran, der Stuhl kippt um, fast reißt sie im Fallen die Tasche mit. Greta heult, fasst sich ans Bein und schreit. Das Baby bekommt Angst und brüllt laut los. Ich tröste Greta, nehme sie fest in die Arme, sehe mir ihr Schienbein an, an dem ein tiefroter Fleck prangt. Ich stelle die Tasche auf den Boden. Ich vergesse ihn, vergesse, dass er direkt hinter mir steht.
Und als ich mich umdrehe, steht er nicht mehr da. Er ist weg, Kirsten auch. Für einen Augenblick ist es still. Die Kinder haben aufgehört zu weinen, die Stimme im Radio macht eine Pause, nur der Ast vorm Fenster bewegt sich sachte.
Ich möchte schreien, aber Greta ist zu nah. Ich sage es vorsichtig. Kirsten, sage ich, Kirsten. Ich beginne zu suchen, ich schaue mich um, als könnte ich sie nur aufgrund einer Störung in mir selbst nicht sehen. Als ich in den Keller hinunterlaufen will, bemerke ich die offene Terrassentür. Im Garten weht ein schwacher Wind, ich weiß nicht mehr, was ich anhatte, einen dünnen Pullover und eine Hose, oder ein Kleid, vielleicht mit einer Schürze darüber, so etwas benutzte ich damals. Der Garten leuchtet, ich rieche das feuchte Gras. Am hintersten Ende befindet sich der Zugang zu einem kleinen Wald. In den Jahren danach sollten wir die Bäume fällen und nur ein paar stehen lassen, weil wir uns einbildeten, unsere Kinder sollten Bäume sehen, dass sie das bräuchten. Ich gehe durch die Büsche, in das Wäldchen.
Sie sitzt auf einem Baumstamm, scheint etwas zu beobachten. Sie ist in diesem Moment absolut regungslos, und ich bekomme Angst, ich sage ihren Namen. Sie dreht sich um, sieht erst zu mir und deutet dann auf die Büsche. Vielleicht ist sie ihm gefolgt, vielleicht hat er sie mitgenommen.
Sie wirkt unversehrt. Sie sitzt auf dem breiten Stamm und deutet in den Wald. Als hätte er sie verlassen und wäre weitergegangen, verschwunden zwischen den dichten Zweigen.
Später habe ich die Sache als die Episode bezeichnet. Wenn ich anderen davon erzählt habe, Simon, unseren Kindern, als sie erwachsen waren. Als käme sie wie der Eindringling von einem unbekannten Ort, einem fremden Ort. Das griechische Wort ist aus mehreren Teilen zusammengesetzt und bedeutet in einem Wortteil »hinein«, wie ein Eingang in eine Geschichte, ein Leben, aber auch, dass etwas eingeschoben wurde, wie in der griechischen Tragödie die zwischen die Chöre eingeschobenen Dialoge. Die Episode erzeugt eine Erwartung nach mehr. Aber da war nicht mehr, er läutete an der Tür und verschwand wieder.
Ich weiß nichts über den Eindringling. Etwas später entdeckte ich eine Zeitungsnotiz über einen jungen Mann, der sich Zutritt zu einigen Häusern in der Gegend verschafft hatte, der Beschreibung nach war er verwirrt. Irgendwie kam es mir vor, als sei es nicht geschehen, Kirsten war unversehrt. Aber ich habe nie aufgehört, an ihn zu denken. Wer er war. Manchmal wache ich auf und meine, dass er in der Tür steht, dass ich ihn erneut ins Haus gelassen habe. Und er will nicht wieder verschwinden, sondern bei uns bleiben. Mit den Jahren ist er nur undeutlicher geworden. Sein Gesicht habe ich mit anderen ersetzt. Was geschehen ist, wird jedoch deutlicher, klarer, als käme es mir immer näher.
Die Episode ist in meinen Gedanken wie eingefroren, unveränderlich. Als wäre sie ein Schnitt in oder durch etwas. Ein Riss in einer dicken Leinwand, in einem ganz normalen Tag, und durch diesen Riss ist etwas aufgetaucht, was nicht auftauchen, was nicht zu sehen sein sollte.
Als ich später angefangen habe zu unterrichten, musste ich oft daran denken. Er hatte dasselbe Alter wie meine Schüler, der Eindringling. Ich war an einer weiterführenden Schule im Stadtzentrum, einer alten Schule. Einer mit traditionsreichem Namen und einem Gebäude, das tief in ihrem Selbstverständnis wurzelt und dieses ebenso festzementiert wie der Asphalt und die Pflastersteine rundherum. Die Jahre vergingen, und ich wusste, eines Tages würde sie mich hinausdrängen. Die Schule war sich selbst genug. Dieser Verdacht begleitete mich durch die Flure – das Gebäude brauchte mich nicht.
Ich habe Norwegisch unterrichtet und eine Zeit lang auch Literatur, ein bei meinen Schülern ziemlich beliebtes Wahlfach. Selbst war ich nicht so überzeugt. Im Klassenzimmer richtete ich meinen Blick immer auf die Jugendlichen, ich lauschte im Flur dem Klang meiner Schritte und dachte daran, wie die Zeit verging, und meine Entschuldigungen dafür, dass ich weitermachte, wirkten immer weniger rational. Trotzdem klebte ich an dieser Identität. Ich war Lehrerin, Studienrätin. So zog ich mich an, so bewegte ich mich, diese Rolle bestimmte meinen Wortschatz, meine Grenzen. Als wäre ich schwer ersetzbar. Die Jahre vergingen, und in meiner Altersklasse lichteten sich die Reihen, während immer jüngere und besser ausgebildete Kollegen nachströmten. Simon und ich trafen uns bei schönem Wetter in der Mittagspause, seine Praxis lag nicht weit von der Schule. Ich ging zur Nygaten, vorbei an den ganzen Geschäften, der Allehelgensgate und an Markesmauet, dann die Peter Motzefelds gate hinunter zum Stadtpark, zum Lille Lungegårdsvannet, wo wir uns auf eine Bank mit Ausblick auf die Fontäne in der Mitte des Sees setzten. Wir verschlangen unser Essen, redeten ein bisschen und gingen zurück zur Arbeit. Er zu seinen Patienten, ich zu den Schülern. Oft holte er mich nach der Arbeit ab. Wir hörten im Auto klassische Musik, sprachen über den vergangenen Tag.
Wenn bei mir eine Stunde ausfiel und bei ihm Patienten absagten, trafen wir uns manchmal in der Konditorei im Telegrafengebäude, und als das nach vielen Jahren geschlossen wurde in einem Café, das wir eigentlich beide nicht mochten.
Ich weiß nicht, ob ich die Arbeit vermisse, aber ich habe den Wunsch, Teil von etwas zu sein, ich habe die ganze Zeit das Gefühl, draußen zu stehen, im Abseits. Jetzt, da die Kinder keine Kinder mehr sind, sondern erwachsene Frauen, die wir nur ab und zu sehen. Von Zeit zu Zeit hatten wir Kontakt mit ein paar Leuten aus der Arbeit, für eine Zeit lang, das eine oder andere Mal einen Urlaub mit Bekannten. Das ist lange her.
Ich habe jahrelang vor irgendwelchen Klassen gestanden und auf die scheinbar immer gleichen Jugendlichen geblickt, nach ein paar Jahren in dem Gebäude waren alle in dieselbe brillante Form gepresst, bereit für die Universität. Ich tat, als hätte ich daran Anteil, zumindest fühlt sich das im Rückblick so an. Ein paar Jugendliche stachen hervor, und alle zwei Jahre war vielleicht jemand außergewöhnlich interessiert und empfand das Lesen von Olav Duun nicht als persönliche Kränkung. Vielleicht waren sie nach drei Jahren auch nur reifer, vielleicht war mein Eindruck, dass sie alle gleich geworden waren, übertrieben. Ich begriff sie als Ausdruck für den Ort, für all das, von dem ich mich nicht losreißen konnte und stattdessen Jahr für Jahr weitermachte. Die Arbeit, zu der ich meiner Ansicht nach nicht passte, das war doch eigentlich nicht, was ich wollte. Und trotzdem machte ich nichts aus diesem Gedanken. Ich sagte mir immer, dass ich mich glücklich schätzen könne, dort sein, dort arbeiten zu dürfen. Ich sagte meist, dass es mir gefalle.
Und eines Tages überreichte man mir Blumen und die Schüler hatten eine Schmuckausgabe von Duuns Mitmensch gekauft. Es gab ein paar Worte der Schulleiterin und eine Mittagspause mit Kaffee und Kuchen. Die Tage, die jäh anders wurden, nachdem ich aufgehört hatte zu arbeiten. Am Anfang war es gut, dass es nur Simon und mich gab. Seine schleichende Veränderung begann vor ein paar Jahren. Aber vielleicht war seine Rastlosigkeit schon lange zuvor da, vielleicht ist sie ein Ausdruck für etwas, das er sich lange gewünscht hatte. Sich davon zu machen.
Ich wache manchmal auf und denke, ich höre Simons Stimme, die ich jetzt ebenso allmählich vergesse, wie sie nach und nach von Schweigen ersetzt wurde. Ich wache auf und verstehe, ich muss sie im Traum gehört haben. Er spricht nur noch selten.
Das Alter hat Ausblick auf eine düstere Landschaft. Vor ein paar Wochen rief Helena, unsere Jüngste, an, um zu sagen, dass sie ihren Vater an einer Bushaltestelle aufgelesen habe, er habe gewirkt, als würde er den Fahrplan studieren.
Papa, hatte sie ihm zugerufen. Wo soll’s hingehen?
Wohin wollte er?, fragte sie mich, nachdem sie ihn nach Hause gefahren hatte.
Ich konnte es ihr nicht beantworten. Ich weiß es nicht, sagte ich. Das ist beunruhigend, flüsterte sie, sodass Simon es nicht hören konnte. Er hätte sich einfach davonmachen können.
Ein paar Tage später brachte sie den Briefumschlag mit dem Antrag. Sie legte ihn aufs Garderobentischchen.
Ich leg dir das hierher, Mama, sagte sie. Ich sah sie im Flur stehen, im Halbdunkeln. Helena, die zum Zeitpunkt der Episode noch ein Baby war. Ich hatte vergessen, das Licht anzumachen. Ich suchte den Lichtschalter.
Es gibt Einrichtungen für Senioren, in denen er sich wohlfühlen würde. Er muss irgendwo hin, verkündete sie und deutete auf den Umschlag, als könnte der ihre Worte unterstreichen.
Wo man sich seiner annimmt, fuhr sie fort. Ich kann dich nicht die ganze Verantwortung allein tragen lassen. Wo er jetzt ständig abhaut, wo er verstummt ist.
Sie redete lange, ihre Worte hallten im Flur wider. Helena hat eigentlich keine kräftige Stimme, aber offenbar hatte sie sich genau überlegt, was sie sagen wollte. Als sie ging, umarmte sie mich. Das tut sie immer.
Eine Einrichtung für Senioren.
Da lag der Umschlag auf dem Tischchen. Ich habe ihn liegenlassen.
Der Antrag. Egal, was ich mache, er wird meine Gedanken bestimmen.
An manchen Tagen kann ich mich nicht mehr an die Klangfarbe erinnern, ob seine Stimme so dunkel war, wie ich meine, ich kann sie mir nicht vorstellen. Sein Schweigen. Die Worte werden schleichend weniger, als vertrocknete etwas, weil es zu wenig genährt wurde. Nachdem er in Rente gegangen war, war er gerne allein unterwegs, fuhr mit dem Bus in die Stadt und ging hinauf zur Universität. Saß in dem alten Garten beim Naturhistorischen Museum, umringt von den von der Straße dringenden Stimmen der Studierenden, von den Pflanzen, Büschen und Bäumen und den Schildchen mit deren Namen und Familien. Ungestört, eingehegt. Er saß da, während der Tag über die Stadt zog, und stand auf, wenn das Licht hinter den Bäumen, hinter einem der Berge versank, vielleicht las er etwas, oder er starrte nur auf die Finger, die das Buch hielten, auf die vorbeigehenden Studenten, die hinter dem hohen, grünen Zaun zu einer fragmentierten Bewegung wurden.
Für gewöhnlich rief ich, wenn er unterwegs war, bei ihm an, nach ein paar Stunden, und dann folgte ein Gespräch darüber, was er mitbringen solle, er besorgte nämlich in der Regel auf dem Heimweg unsere Lebensmittel. Ich sagte ihm, was wir brauchten, er musste sich nichts aufschreiben, er hatte es im Kopf.
Er telefonierte nicht gern, meistens sprach dabei ich. Aber dann vollzog sich allmählich eine Veränderung, ich nahm sie anfangs gar nicht wahr, nicht die ersten Wochen oder Monate, sie schlich sich ein. Mit Pausen, Stille. Er beendete die Gespräche völlig abrupt, sodass ich ein paar Mal sofort zurückrief, um zu fragen, ob ich etwas Falsches gesagt hätte.
Nein, was sollte das gewesen sein, antwortete er. Und seine Antworten machten mir Sorgen. Immer dieselben. Als läge vor ihm eine kurze Liste von Antwortmöglichkeiten, und von dieser Liste pickte er sich die Antwort, die vielleicht passte. Manchmal passte sie aber nicht.
Mal brachte er die Lebensmittel mit, mal hatte er sie vergessen. Ich sagte, ich würde jetzt Abendessen machen, bist du hungrig, nein, danke für das Angebot, sagte er manchmal, oder, darüber habe ich nicht nachgedacht. Er setzte sich hin und las sein Buch, bis ich das Essen vor ihn stellte, dann aß er vielleicht einen Bissen und eine Stunde später vielleicht noch einen, bis das Essen kalt war und der Abend spät.
Sein Schweigen schlich sich über mehrere Monate an, über ein halbes Jahr. Er sagte noch Danke fürs Essen oder Auf Wiedersehen. Formell wie ein Hotelgast, dem Anschein nach kalt wie ein x-beliebiger Fahrgast, dem man im Bus begegnet. Nur ab und an sehe ich ihn am Fenster stehen und hinausschauen oder über etwas, das er gelesen oder im Fernsehen gesehen hat, lächeln, und denke, er wäre zurückgekommen. Als hätte er sich wirklich auf eine Reise begeben. Aber wenn ich frage, was er sehe, was so lustig sei, blickt er mich nur verständnislos an. Der Arzt, ein jüngerer Kollege von ihm, hat gesagt, dass er einfach alt werde. Die Lösung – denn natürlich gibt es für einen Zustand wie diesen Lösungen, warum sollten wir sonst einen Arzt aufsuchen – ist ein Seniorenzentrum, eine Tagesstätte, in die Simon zweimal pro Woche geht.
Ich fahre ihn. Ich fahre ihn immer irgendwo hin. Er sitzt auf dem Beifahrersitz und wartet auf mich. Beim ersten Mal hat uns eine Frau aus der Heimleitung empfangen und durch Gänge gelotst, die an Tunnel mit Plastikwänden erinnerten, in institutionalisiertem Grauweiß, mit Schmuckgrafiken von lieblichen Motiven, Türen mit Holzherzen, und am hintersten Ende eines Korridors lag ein Raum mit Glastüren. In diesem Aufenthaltsraum saß eine kleine Gruppe Menschen. Niemand hob den Blick, als wir eintraten. Die Alten hockten um einen Tisch, zwei Angestellte sprachen leise miteinander. Simon wurde zu den anderen gebracht. Er lächelte noch immer. Aber als ich ging, folgte mir sein Blick. Seine Augen, seine auf dem Tisch liegenden Hände, seine hängenden Schultern in diesem Raum, an diesem Ort. Das ist kein Ort, an den man gehört.
Nachdem ich ihn abgeliefert habe, stehen oft zwei junge Pflegekräfte neben dem Eingang und rauchen. Einmal habe ich im Vorbeigehen beobachtet, wie die eine ihre Kippe auf den Boden schnipste und austrat. Was für eine deprimierende Bewegung. Und immer wieder bleibe ich auf dem Parkplatz stehen, wie eine mythologische Figur, zweifelnd, hier verläuft die Grenze zwischen unserer Welt und der Unterwelt, ich gehe über den schmalen Betonstreifen, Simon durch die Korridore des Hauses, wenn ich mich jetzt umdrehe, ist er für immer weg. Ich muss jemandem erzählen, wie sich das anfühlt, warum es so schwer ist, mit jemandem zu leben, der plötzlich stumm geworden ist. Es fühlt sich nicht nur an, als wäre er nicht mehr da. Es fühlt sich an, als wäre man selbst weg.
Ich sehe mich im Haus um, alles hat seinen Platz, ist Teil einer Ordnung. Aufgeräumt, wie in einem Museum oder einer Kirche, unsere Sachen wirken wie Ausstellungsobjekte. Ich habe für vieles keine Verwendung mehr, nur weniges hat noch praktischen Wert. Diese Requisiten von gesellschaftlichen Ritualen, die kaum mehr in bedeutendem Maße vollzogen werden, oder wenn doch, sind sie selten von Bedeutung. Unsere Sachen sind nur noch eine wundersame Aufstellung von Erinnerungen. Die alte Uhr über dem Tisch, das Teeservice hinter den verschlossenen Glastüren des Schranks. Durchaus möglich, dass das Haus dafür existiert, diese Sachen zu beherbergen, mehr als uns.
Das Haus und alles, was damit einhergeht, das ganze Zeug, war vor vier, fünf Jahren der Grund, eine Putzhilfe anzustellen. Bis dahin hatte ich nie irgendwelche Unterstützung gehabt, und ich wollte auch keine soziale Haushaltshilfe. Unsere Töchter rieten uns zu einer bezahlten Kraft, was in unserem Viertel nicht unüblich ist. Mehrere Vormittage pro Woche marschiert eine kleine Armee junger bis mittelalter Frauen zwischen den Einfamilienhäusern ein, schließt die Türen zu gut gesicherten Häusern auf, entschärft Alarmanlagen und Sicherheitssysteme. Im Inneren der leeren Häuser holen die Frauen vermutlich Putzlappen und Putzeimer hervor, füllen sie mit Wasser und chemischen Mitteln, wirbeln im ungesunden Chlordunst durchs Haus, schrubben Fäkalreste von Klobrillen und Badezimmerböden, füttern eingesperrte Haustiere, leeren die Mülleimer, räumen in Kinderzimmern die herumliegenden Spielsachen weg. Ein paar Stunden später schließen sie die Haustüren wieder von außen ab und verschwinden aus der Straße. Ich wollte keine Fremde im Haus haben, aber mir fehlten brauchbare Argumente, um diesen Widerstand zu erklären. Die Mädchen, unsere Töchter, waren der Ansicht, dass wir Unterstützung bräuchten. Es ist so ein großes Haus, sagten sie.
Auch Simon hatte kein Interesse daran, jemand Fremdes in unser Haus, in unsere Zimmer zu lassen. Er war damals noch der Alte. Das Schweigen ergriff ihn erst später. Wir waren uns einig, wir wollten unsere Arbeit selbst machen.
Aber zu guter Letzt gaben wir dem Drängeln und Pochen nach und stellten eine Hilfe an. Vorläufig, so der Plan. Das Wort Anstellung für unser Verhältnis zu Marija zu benutzen, scheint mir seltsam. Obwohl es das natürlich war, eine Anstellung. Nach einer Weile hatte es jedoch nicht mehr annähernd mit Kategorien wie Arbeitgeber und Arbeitnehmerin zu tun. Unsere Putzhilfe war eher jemand, der uns besuchte, ein gern gesehener Gast.
Alle mochten sie. Marija.
Als wir sie gehen lassen mussten, war sie fast drei Jahre bei uns gewesen. Es fiel etwas vor, über das wir nicht hinwegsehen konnten. Im Nachhinein weiß ich, dass jemand anderes das vielleicht getan hätte. Trotz der Schwere. Vielleicht auch wir, vielleicht hätten auch wir über das hinwegsehen können, was vorgefallen war. Aber wir kannten uns zu gut, die Nähe machte es unmöglich. Gerade weil sie mehr eine Freundin oder ein Gast war. So war es vermutlich.
Die Mädchen waren enttäuscht und wütend, die älteren beiden sind es noch immer. Obwohl es mehr als ein Jahr her ist.
Am schlimmsten war es aber für uns. Für mich und Simon.
Liebe Marija. Bis heute schwirrt mir manchmal diese Wendung durch den Kopf, verfasse ich einen Brief, formuliere für mich Sätze. Die ich ihr nie schreiben würde, und Liebe würde ich auch nicht schreiben, nicht danach. Wenn ich einen Brief schreiben würde, finge ich neutral mit Datum und Jahreszahl an und käme schnell zum eigentlichen Thema, was auch immer das sein sollte. Aber warum ihr dann überhaupt schreiben, nur um ihr zu erzählen, dass sie sich ständig als ein Wort, eine Wendung manifestiert. Manchmal blitzt in meinem Kopf sogar ein Bild von ihr auf: Sie sitzt in der Küche und schmiert Brote, trinkt Tee mit Zucker und Milch, lächelt mich mit unter dem Tisch ausgestreckten Beinen an. Ich versuchte, mir einzureden, es sei eher so etwas wie ein Zwangsgedanke, dass sie in uns noch immer einen Platz einnimmt, wenn auch nur im Denken, wie wenn jemand nicht auf Linien treten kann und dann plötzlich überall Linien sind. Man versucht an etwas anderes zu denken, aber dieser Gedanke kritzelt einem immer weiter im Bewusstsein herum.
Ich vermisse sie nicht. Ich habe viel zu tun.
Aber irgendetwas ist. Etwas, das ich vermisse oder besser gesagt, etwas, das mir fehlt. Sie hatte vermutlich eine Funktion, eine größere, als ich dachte, denn jetzt gibt es diesen Mangel. Ist es das, was wir füreinander darstellen, Funktionen, die auch jemand anderes ausfüllen kann. Der Gedanke gefällt mir nicht.
Mein Blick fällt auf den leeren Stuhl, auf dem normalerweise Simon sitzt und schläft. Gestern habe ich ihn studiert. Sein Gesicht, die vom Schlaf geglätteten Gesichtszüge, die Schultern, die offenbar schmaler geworden sind, und das eine Bein, das er immer leicht abstreckt, die Hand mit dem Ehering. Als ich ihn heute Morgen in der Tagesstätte abgeliefert habe, hatte ich Lust, seine Hand zu nehmen, sie zu spüren, als könnte diese Berührung ein unzerstörbares Band bilden, nicht eine Berührung von Haut und Knochen, sondern eine, die seit jeher existiert hat. Vor dem Schweigen. Aber es fiel mir schwer, seine Hand zu nehmen, ich konnte es nicht, weil ich Angst davor hatte, dass man uns sah, oder mich selbst auf die Art zu sehen. Vielleicht spüre auch nur ich, dass man uns beobachtet.
Sucht man bei anderen Hilfe, überkommt einen ein Gefühl von Nacktheit. Mit einem Mal geht man unbekannte Korridore entlang und tritt durch Türen. Dahinter eine Gruppe Menschen, die schon auf einen wartet, und niemand findet irgendetwas falsch, zumindest nicht überraschend. Nur das Schweigen.
Ich muss an etwas denken, das mir Simon erzählt hatte, bevor er alt geworden ist, vor diesem aufreibenden Schweigen, das Erste, woran er sich klar erinnern könne, sei der abgetretene Holzfußboden der Wohnung, in der sich seine Familie während des Zweiten Weltkriegs versteckt hatte, die Zimmer seien wie kleine Kisten mit Türen gewesen, ein Puppenhaus, in dem man aber nur selten spielen durfte. Mit Wänden aus braunem Holz, einer Decke, an die er manchmal im Liegen starrte und meinte, sie würde sich senken oder gesenkt werden, auf sie herab, in sie hinein, durch sie hindurch, und das Ganze sei mit einem Schuldgefühl verbunden, dessen Ursprung er nicht kenne, das aber vermutlich mit seiner Ungeduld von damals zu tun habe. Das Versteck in einer mittelgroßen Stadt in Mitteleuropa, der Lebensraum für Wochen, Monate. Ein Lagerraum, den er nicht aushalten konnte und der ihm mehr und mehr wie eine Bedrohung vorkam, da er die eigentliche Bedrohung fast nie spürte. Er stritt mit seinen Eltern, seinem jüngeren Bruder, er war zehn Jahre alt und hasste es, in diesen winzigen Räumen zu sein. Die Welt war wie zusammengeschrumpft, als wäre sie eingelaufen und könnte nie wieder mehr fassen oder mehr sein als diese drei kleinen Zimmer, wenig größer als ein Schrank und die paar Menschen, die in ihm lebten, plus die Helfer und Beschützer, die kamen und gingen.
Während dieses besser als Gefangenschaft bezeichneten Lebens hieß es still zu sein, erzählte mir Simon. Sie hatten zu schweigen, er, der Bruder, die Eltern und die anderen beiden, die noch dort waren. Ihre Körper gewöhnten sich schnell an eine gedämpfte Art sich zu bewegen, die auch später nie mehr verschwand, sondern Teil von ihnen, ihrer Körpersprache wurde. Sie verstanden zunehmend subtile Veränderungen im Ausdruck, gewöhnten sich daran, andere dementsprechend zu beobachten, er bemerkte, wie seine Eltern einander ansahen, als könnten sie Gedanken übertragen und dem, was der andere offenbar sagte, nickend zustimmen: Die Erwachsenen konnten anscheinend auf diese Weise längere Gespräche führen, bestehend nur aus Mienenspiel, kurzem Nicken oder anderen Bewegungen von Kopf oder Gesichtsmuskeln, eine hochgezogene Augenbraue, eine Grimasse. Besonders wichtig war das zu Tageszeiten, zu denen sich viele Menschen im Gebäude befanden, beispielsweise ein Arzt, dessen Sprechzimmer sich direkt unter ihnen befand, obwohl er genau genommen keine wirkliche Praxis mehr hatte, sondern nur den einen oder anderen Patienten empfing. Zu diesen Zeiten, die sich nach und nach auf den ganzen Tag, die ganze Nacht ausweiteten, blieb ihnen nur die Beziehung zueinander. Simon und sein Bruder. Die Begrenzungen, das Eingesperrtsein, prägten jede ihrer Aktionen, alles fühlte sich eingesperrt an, was sie auch dachten, zeichneten, schrieben und versuchsweise spielten. Häufig artete ihre ununterbrochene Gereiztheit in Streitereien aus, in gegenseitigen Beleidigungen, wundersam geräuschlos mit Hilfe von Gesten, Fingersprache oder schnell mit Kreide oder manchmal auch einem Bleistiftstummel auf eine kleine Tafel gekritzelten Mitteilungen, während ihre Eltern sie ebenso wortlos ermahnten.
Das Schweigen war integriert, Teil eines Kreislaufs innerhalb dieser Räume. Zu Beginn hatten die Kinder diese eingeschränkte Möglichkeit sich zu bewegen und auszudrücken natürlich hinterfragt, und die Eltern hatten es ihnen geduldig erklärt. Aber wenn einer der beiden, Simon oder sein Bruder, wütend geworden war und beispielsweise losgebrüllt hatte, hatten sie ihm ein Handtuch auf den Mund gepresst, und das Erstickungsgefühl unter diesem Handtuch, das weniger zur Strafe diente als eine Notwendigkeit war, hielt sie davon ab, es noch einmal zu tun. Simon erzählte mir, dass er noch heute manchmal mit dem Gefühl aufwache, unter diesem Handtuch zu stecken, das seinen Mund bedeckte oder als Knebel benutzt wurde. Und eines Tages hatte er dann rebelliert und war abgehauen. An einem