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Über den Autor:


Shane Mulligan ist der Sohn deutscher/nordirischer Eltern. Im zarten Alter von neun Jahren entdeckte er seine Liebe für Action- und Horrorfilme. Sie haben ihn so nachhaltig beeinflusst, dass er im Alter von zwölf Jahren begann, Kurzgeschichten zu schreiben. Mit MAYHEM präsentiert er nun seinen Debüt-Roman.

Er arbeitet seit über zwanzig Jahren in der Entertainment-Branche und war davon einige Jahre mit einem eigenen Film-Shop selbstständig. Er sammelt Filme, Bücher, Comics, Musik-CDs und verfolgt mit großer Sorge die Entwicklung physischer Datenträger. Er ist verheiratet und lebt zusammen mit seiner Frau und drei Katzen in Berlin.

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Dieser Roman ist ein fiktives Werk. Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entspringen der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit zu tatsächlichen Ereignissen, Schauplätzen oder Personen, lebendig oder tot, ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.


Deutsche Erstausgabe April 2018

Copyright © 2016 by Shane Mulligan


Copyright dieser Ausgabe © 2018 Savage Types Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.


Coverentwurf/-gestaltung: Salena Barnes

Satz und Layout: im Verlag


ISBN: 978-3-9819621-4-7


www.savage-types.de

Dieses Buch widme ich meinen verstorbenen Eltern,
sowie Bobby, Banshee und Tuffy.

Ich werde euch nie vergessen.

Kapitelziffer

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Es war kurz nach siebzehn Uhr und es dämmerte bereits, als John Zagarino sein Iveco-Truck in die Einfahrt des Parkhauses der Midtown Mall lenkte und damit endlich seinen letzten Kunden anfuhr. Irgendwie hatte er sich schon den ganzen Tag vertändelt und so seinen eigenen Feierabend in deutlich spätere Gefilde verschoben als sonst. Immerhin würde er auf Gomez treffen, einen Lagerarbeiter des Costco-Marktes, bei dem er jetzt noch einige Waren anliefern würde. Er verstand sich prima mit dem Spanier und freute sich wie immer auf ein amüsantes Gespräch über Gott und die Welt.

Die Ebenen des Parkhauses, das sich unter dem einzigen Einkaufszentrum der Stadt Woodsford befand, hatten sich schon deutlich ausgedünnt und einige Leute verließen es gerade oder gingen mit ihren vollgepackten Taschen zu ihren Autos. Viel los war heute anscheinend nicht. Da hatte er schon ganz andere Tage hier im Parkhaus erlebt. Neuankömmlinge konnte er weder vor sich, noch hinter sich entdecken und so kurvte er langsam und entspannt eine Etage nach der anderen abwärts, um die Warenannahme der Großhandelskette zu erreichen. Für die Lieferanten, wie auch für das Geschäft an sich, war die Anlieferung immer etwas kompliziert zu bewerkstelligen. Als Zagarino vor zwei Jahren für seinen derzeitigen Arbeitgeber anefangen hatte, Waren auszuliefern, hatte er sich schon immer gefragt, wie man darauf kommen konnte, den Lieferantenzugang ins unterste Parkdeck zu legen und den einzigen Zugang über einen Lastenaufzug zu bewerkstelligen. Vor allem weil auch nur Lastwagen mit einer bestimmten Größe das Parkhaus befahren konnten. Später hatte ihm Gomez dann mal erklärt, dass der Costco-Markt viel später als das Einkaufszentrum selbst in der Mall eröffnet hatte und der Fahrstuhl die einzige Möglichkeit gewesen war, auch größere Warenanlieferungen anzunehmen. Das war im Prinzip auch nicht dramatisch, wenn der Aufzug nicht immer eine Ewigkeit brauchen würde um in der fünften Ebene anzukommen. So war diese Einschränkung zwar hinnehmbar, doch irgendwie nervig.

Als er die unterste Ebene erreichte, wendete Zagarino geschickt und setzte vorsichtig den Lieferwagen rückwärts an die Rampe der Warenannahme. Er stieg aus, öffnete schon einmal die Hintertüren und benutzte dann die kleine Treppe, um die Rampe zu betreten. Normalerweise musste man klingeln, damit die Mitarbeiter oben wussten, dass jemand Ware anliefern wollte, doch heute konnte Zagarino bereits am Quietschen erkennen, dass sich die Kabine elendig langgsam nach unten bewegte. Vermutlich war er bereits über die Kamera, die an der Decke angebracht war, bemerkt worden und Gomez hatte sich auf den Weg gemacht.

Zagarino seufzte und sah sich um. Zu dieser Zeit waren zum Glück keine anderen Lieferanten mehr am Werke und da die Etage für Kunden nicht zur Verfügung stand, herrschte hier unten eine angenehme Ruhe. Trotz des Parkverbotes standen dennoch einige Autos und ein Motorroller herum. Vermutlich gehörten diese den Mitarbeitern des Centers.

Zagarino sprang wieder herunter und begann bereits seine Waren auf die Rampe zu stapeln. Er arbeitete für einen kleinen, lokalen Großhändler, der neben frischen Lebensmitteln auch alle möglichen Waren wie Konserven und Toilettenartikel vertrieb. Das war zwar jetzt nicht gerade der bestbezahlteste Job, doch Zagarino hatte viele Freiheiten und fühlte sich wohl in dem kleinen Familienunternehmen.

Als sich endlich die Türen des Lastaufzuges öffneten, musste Zagarino enttäuscht feststellen, dass ihn diesmal nicht Gomez begrüßte, sondern ein hellhäutiger und ausgezehrt wirkender Mann in den Fünfzigern. Mit einer leeren Palette und einem Hubwagen trat er aus dem Fahrstuhl und wirkte nicht gerade sehr begeistert über die späte Ankunft des Lieferanten.

„Hi. Ist Gomez gar nicht da heute?“, fragte Zagarino.

„Nope. Der hat sich heute krank gemeldet und nun darf ich die Warenannahme machen, obwohl ich mit meinem kaputten Rücken solche Tätigkeiten gar nicht machen dürfte.“

Zagarino stellte die letzte Kiste auf die Rampe und erklomm sie dann, um dem älteren Mann zu helfen, die Palette zu bepacken.

„Was Schlimmes?“

„Na ja, ich hatte mal einen Bandscheibenvorfall und seitdem…“

„Ich meinte eigentlich, ob Gomez etwas Schlimmes hat“, unterbrach ihn Zagarino der keine große Lust verspürte, mehr über die Rückenprobleme eines ihm unbekannten Mannes zu erfahren.

„Ach so“, der ältere Mann wirkte ehrlich enttäuscht über das mangelnde Interesse.

„Nein, irgendwas mit seinen Kindern. Grippe oder so.“

„Dann geht es ja.“

Als Antwort kam nur ein Grunzen, doch mehr wollte Zagarino auch gar nicht hören.

Zügig bepackte er die Palette und stapelte alles so, dass nichts umfallen konnte, sobald der Mann sich in den Fahrstuhl zurückziehen würde.

Der Mitarbeiter beobachtete ihn dabei genau und Zagarino fühlte sich unter den Blicken irgendwie unwohl, auch wenn er nicht erklären konnte warum.

„Ich kenne Sie doch“, sagte plötzlich der ältere Mann.

Nun stoppte Zagarino mit seiner Arbeit und schaute seinem Gegenüber überrascht ins Gesicht.

„Tatsächlich? Ich denke nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind. Oder waren Sie schon früher mal hier unten, als ich geliefert habe?“

„Das nicht, aber Sie haben doch mal Football gespielt, oder?“

Nun richtete sich Zagarino vollends auf und musste dem Mann tatsächlich Recht geben.

„Ja, vor einigen Jahren. Daran erinnern Sie sich?“

Nun kam irgendwie Leben ins Gesicht des Costco-Mitarbeiters. „Ich bin absoluter Football-Fan und verfolge seit Jahren alles, was mit Football zu tun hat. Sie waren Quarterback bei den Seattle Seahawkes, nicht wahr? Sie hatten auch einen Spitznamen … warten Sie. Striker wurden Sie genannt, weil Sie unaufhörlich und nicht immer überlegt nach vorne stürmten.“

Zagarino war tatsächlich beeindruckt über das Wissen des Mannes, denn alles war er gesagt hatte stimmte.

„In den Zeitungen wurden Sie vereinzelt als nächstes großes Ding angekündigt, doch dann waren Sie einfach verschwunden.“

Der ehemalige Footballspieler lächelte freudlos, als er an diese Zeit zurückdachte.

„Einfach verschwunden bin ich nicht. Leider hat mir eine Knieverletzung die Karriere beendet“, warf Zagarino wehmütig ein und strich sich durch das schulterlange, dunkelblonde Haar.

„Tatsächlich? Davon habe ich damals gar nichts mitbekommen. Was ist passiert?“

„Das ist eine lange Geschichte, aber ich bin heute spät dran und muss mich wirklich beeilen. Vielleicht ein anderes Mal, okay?“, log er.

Der Mann am Hubwagen schien erneut enttäuscht. Allerdings hatte Zagarino wahrlich keine Lust diesen Teil seiner unglücklichen Vergangenheit einem fremden Menschen aufzutischen. Zwar freute er sich darüber, dass sich jemand an ihn und seine kurze Footballkarriere erinnerte, doch das Thema war für ihn erledigt. Dieses Kapitel, wie auch sein kurzes Gastspiel im Mixed-Martial-Arts, das für ihn zwar anders, indes auch nicht minder unangenehm endete, waren Themen, die er gerne aussparte und nicht einmal mit seiner Familie oder Freunden gerne besprach.

„Na klar. Ihre Sache, Kumpel.“

Damit war eindeutig alles gesagt und Zagarino packte den letzten Karton auf die Palette und der Costco-Mitarbeiter drückte einen Knopf, so dass sich die Fahrstuhltüren wieder öffneten.

Plötzlich flackerte das Licht auf der Etage in immer kürzer werdenden Abständen. Verwundert blickte sich der Mitarbeiter am Hubwagen um, doch Zagarino schenkte diesem kleinen Problem keine weitere Beachtung. Unbeeindruckt wollte er gerade von der Rampe springen, um die Türen seines Trucks wieder zu schließen, als diese Absicht gestoppt wurde. Der Boden begann leicht, jedoch deutlich wahrnehmbar zu vibrieren.

„Was war das?“, fragte Zagarino und drehte sich zu dem älteren Mann herum.

Dieser zuckte nur mit den Schultern, wirkte allerdings sichtlich verunsichert.

„Ich habe keine Ahnung.“

Und dann ging es erst richtig los!

Augen

Die nächste – deutlich heftigere – Erschütterung folgte auf dem Fuße und berstete lautstark durch das Parkhaus. Die Alarmanlagen, der parkenden Autos, sprangen an, die Lichter fielen komplett aus und die beiden Männer hörten regelrecht, wie sich Risse im Boden und der Decke bildeten. Leider waren auch die Trägersäulen des Parkhauses betroffen und obwohl nicht einmal zwei Sekunden vergangen waren, wurde das Parkhaus so hart getroffen, dass die ersten Brocken aus der Decke gesprengt wurden und im hinteren Teil zwei Säulen einfach wie Streichhölzer umknickten.

„Wir müssen hier raus!“, schrie der Typ von Costco, bewegte sich plötzlich sehr flink und sprang in den Lastenaufzug noch bevor Zagarino irgendwie auf die ihm völlig überraschende Situation reagieren konnte.

Chunk

Der Mann hatte eine denkbar schlechte Entscheidung getroffen.

Nur einen Augenblick später krachten riesige Steinbrocken von oberhalb des Aufzugsschachts herunter und zerquetschten die Kabine, genauso wie den Mann, der so gut über Football informiert gewesen war.

Geschockt stolperte Zagarino nach hinten und stürzte dabei von der Laderampe, was ihm im ersten Moment das Leben rettete. Weitere Brocken brachen aus der Decke und begruben sowohl die Europalette, als auch den Platz, den Zagarino eben noch innehatte, unter sich.

Der Lärm war inzwischen ohrenbetäubend. Überall krachte und rumorte es. Metall quietschte als Steine auf Autos fielen und dann rumpelte eine ganze Steinlawine die Ab- und Auffahrt auf der gegenüberliegenden Seite hinunter und verstopfte somit nach dem Fahrstuhlschacht eine weitere Fluchtmöglichkeit. Es bebte abermals heftig und auch der zweite Fahrstuhlschacht, der nur für Personen gedacht war und sich gegenüber der Tür zum Treppenhaus befand, wurde ebenfalls verschüttet. Die Fahrstuhltüren bogen sich abnorm nach außen als eine Lawine aus Schutt und Asche den Schacht verstopfte.

Zusätzliche, kleinere Steine prasselten auf Zagarino nieder und er versuchte sich krabbelnd unter seinem Iveco-Lieferwagen vor den Steinschlägen in Sicherheit zu bringen, die ihm bereits kleinere Wunden beigebracht hatten.

Krachend brach irgendwo ein Rohr und Dampf wurde in das Untergeschoss des Parkhauses gepumpt. Nun war seine Sicht völlig für den Arsch.

Noch immer bebte die Erde in Intervallen. Es war eigenartig, doch die Erde beruhigte sich immer wieder kurz, um dann von neuem zu erzittern. Ihm kam das merkwürdig vor, doch wiederum hatte er noch nie ein Erdbeben erlebt und wusste nichts über den Ablauf eines solchen Naturunglücks. Es folgten weitere Einstürze und es gesellte sich noch eine kleine Explosion dazu, die vermutlich von dem Roller herrührte, der direkt vor dem Personenaufzug stand. Dabei wurde ein brennendes Metallteil unter den Lieferwagen geschleudert und traf Zagarino am Kopf. Er spürte einen spitzen Schmerz und plötzlich roch er verbrannte Haare. Seine Haare!

Zagarino rollte entsetzt unter dem Wagen hervor, rappelte sich trotz des bebenden Bodens auf und klopfte dabei wie wild auf seinem Kopf herum. Immer mehr Haare fingen an zu kokeln. Reaktionsschnell trennte er sich von seiner Jacke und versuchte mit ihr das Feuer auf seinem Kopf einzudämmen. Glücklicherweise gelang ihm das relativ schnell, so dass er nicht als Ghost Rider würde abtreten müssen.

Erneut flackerte die Notbeleuchtung und ein weiterer Erdstoß sorgte dafür, dass irgendwo im hinteren Bereich wieder etwas einstürzte. Zumindest hörte es sich so an, da Zagarino durch den aufgewirbelten Staub gerade so seine Hand vor Augen sehen konnte.

Blitzschnell sah er sich um und suchte gehetzt nach einer Möglichkeit, in Deckung zu gehen. Der Lieferwagen wurde nun von immer größeren Brocken getroffen und senkte sich bereits bedrohlich ab. Darunter war kein sicherer Platz mehr, das wurde Zagarino sofort bewusst.

Staub und sich immer weiter verbreitender Dampf ließen nicht zu, dass er sich eine wirkliche Übersicht verschaffen konnte. Dann fiel sein Blick auf die Laderampe … oder besser gesagt darunter.

Denn obwohl schon einige schwere Brocken auf die Warenannahme gestürzt waren, blieb die Rampe stabil und bot darunter einen höhlenartigen Schutz. Als das Beben einen weiteren Stoß durch die unterste Ebene sandte, hechtete Zagarino gezielt unter die Rampe.

Doch er hatte viel zu viel Kraft in den Sprung gelegt und durch den Staub und den Rauch die Entfernung unterschätzt. So knallte er, trotz ausgestreckter Arme, ungeschützt mit dem Kopf gegen die Rückwand unter der Rampe und entschwand ins Land der Besinnungslosigkeit.

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Als Zagarino wieder zu Bewusstsein kam, musste er sich erst einmal orientieren. Sein Schädel brummte und das Atmen fiel ihm schwer. Langsam kam die Erinnerung zurück und er schreckte hoch. Das Beben war vorbei.

Als ehemaliger routinierter Sportler, tastete er seinen ganzen Körper ab, um nach Verletzungen zu suchen. Doch von seinen Haaren auf der linken Seite mal abgesehen, die jetzt verbrannt und borstig vom Kopf abstanden und heftigen Kopfschmerzen, schien er tatsächlich unverletzt zu sein. Unglaubliches Glück hatte er gehabt.

Vor der Rampe hatte sich ein Geröllhaufen gebildet, so dass er Mühe hatte, unter ihr hervor zu robben. Das fahle Licht der Notlampen half ihm bei der Orientierung.

Er hatte wirklich mehr Glück als Verstand gehabt, stellte er hustend und röchelnd fest.

Die Etage sah aus, wie nach einem Bombenanschlag. Überall lagen Trümmer.

Die meisten geparkten Autos waren unter schweren Gesteinsbrocken zerquetscht worden, verschiedene Rohre waren aus der Wand gebrochen und spuckten entweder Dampf oder Wasser.

Ein Haufen Steine zeugte davon, dass sein Tod besiegelt gewesen wäre, hätte er nicht Zuflucht unter der Rampe gefunden.

Ein leichter Schwindelanfall erfasste ihn und er war sich nicht sicher, ob es an der Kopfverletzung lag oder an dem Wissen, fast draufgegangen zu sein.

»Mehr Glück als Verstand«, sagte er und merkte dabei, wie schwer ihm das Reden fiel. Seine Lunge brannte vom aufgewirbelten Staub, der sich jedoch zwischenzeitlich wieder gelegt hatte. Vermutlich war er einige Stunden ausgeknockt gewesen.

Sein Blick fiel auf den komplett von Gesteins- und Zementbrocken überdeckten Lastenaufzug. Das Blut, das zwischen den Steinen zu erkennen war, erinnerte ihn an den Mann, der sein Leben verloren hatte, weil er die falsche Entscheidung getroffen oder einfach weniger Glück hatte als Zagarino selbst. Noch nie war er jemandem bei dessen Tod so nahe gewesen. Er konnte sich seine Gefühle nicht erklären und wandte sich ab.

Langsam zwischen den Trümmern umhergehend, suchte er nach einem Ausweg aus dieser Hölle, doch dabei sollte er diesmal kein Glück haben. Die Zufahrt zum Parkhaus war ebenso eingestürzt, wie das Treppenhaus und der Personenaufzug.

Das war mal wieder eine typische Situation in seinem Leben. Immer wenn er bei irgendetwas Glück zu haben schien, dauerte es nicht lange, bis das Schicksal seinen Tribut dafür forderte. Diesmal schien es scheinbar besonders schnell darauf bedacht zu sein, die Quittung dafür einzulösen. Zwar hatte er das Beben knapp überlebt, nun aber würde er hier entweder vermutlich ersticken oder die Trümmer der anderen Etagen würden so viel Druck ausüben, dass die komplette Etage direkt über ihm doch noch auf ihn niederstürzte.

Noch hielt die Decke dem Druck stand. Er fischte sein Handy aus der Hosentasche und sah auf das Display. Der Akku war heute früh schon fast leer gewesen, doch noch hatte er genug Saft. Leider gab es hier unten keinen Empfang. Trotzdem probierte er das Gerät aus, allerdings ohne jeden Erfolg. Hustend schaltete er das Handy aus, um den Akku nicht komplett aufzubrauchen.

»Also heißt es wohl, auf Rettung zu warten.«

Über die Geröllhaufen ging er zu seinem Lastwagen zurück. Dieser war nur teilweise unter den Brocken zerquetscht worden. Da die Türen bei dem Beben offen gestanden hatten, konnte er problemlos auf die Ladefläche treten und sich einen Überblick verschaffen. Zum Glück lieferte er neben diversen Toilettenartikeln wie Deodorants, Rasierern, Duschgels und Klopapier auch Lebensmittel aus. So konnte er sich einige Sachen zusammensuchen, die ihn erst einmal am Leben halten würden. Er hatte Getränke, Konserven und ein paar Süßigkeiten. Er holte so viel unversehrte Ware heraus, wie möglich, da er Angst hatte, dass der Lieferwagen vielleicht doch noch verschüttet werden würde. Die Waren bunkerte er an dem Ort, wo er ebenfalls Schutz gefunden hatte. Dann nahm er einen Schluck Orangensaft zu sich und begann, sich erneut gründlich umzusehen.

Als erstes löschte er die kleinen Feuer, die linker Hand vor sich hin brannten. Genug Sauerstoff zu haben, war natürlich seine größte Sorge, nachdem er sich um Hunger und Durst keine mehr machen musste. Danach ging er zum Führerhaus seines Wagens und angelte sich seinen Rucksack aus dem Fußraum der Beifahrerseite. Er legte ihn zu seinen anderen Sachen und inspizierte die restliche Etage.

Zwei Autos waren fast unbeschädigt geblieben. Ein alter Jaguar und ein neuerer Chrysler. Zagarino schlug bei beiden die Seitenscheiben ein und durchsuchte sie, fand aber nichts was hilfreich war. Danach suchte er weiter nach einer Fluchtmöglichkeit, doch es änderte auch der zehnte Überprüfungsversuch nichts an einer fehlenden Alternative zum Ausharren an Ort und Stelle.

Die Ausfahrt zum nächsten Deck war komplett mit Steinen verstopft und er würde wahrscheinlich mehrere Tage brauchen, um sich freizuschaufeln. Noch schlimmer war das Treppenhaus betroffen. Zwar hatte er die im Rahmen verzogene Tür aufziehen können, dahinter aber, begrüßten ihn in freudiger Erwartung schon wieder Schutt und Asche. Der Staub, der nach wie vor immer wieder aufgewirbelt wurde, erschwerte das Atmen.

Danach inspizierte er die beiden Rohre, die aus der Wand gebrochen waren. Das linke davon hatte scheinbar genug Dampf abgelassen und zischte nur noch leicht vor sich hin. Das rechte jedoch gab noch immer Wasser frei und deshalb bog er das Rohr nun so herum, dass nichts mehr hinauslaufen konnte. Damit hatte er wenigstens immer etwas Wasser um sich zu waschen.

Als nächstes fand er die Lüftungsanlage in der Decke. Er rollte einen größeren Stein darunter und begann an der Abdeckung zu hantieren. Es dauerte nur einen Moment und sie klappte auf und es stürzten ihm ein Haufen Steine und Metall entgegen. Er schimpfte sich selbst einen Idioten, direkt darunter gestanden zu haben, doch er entging dem ganzen ein weiteres Mal verletzungsfrei.

Noch etwas glücklicher wurde er, als er merkte, dass es einen Luftzug gab. Das bedeutete, dass er auch weiterhin mit Sauerstoff versorgt wurde. Seine Stimmung besserte sich langsam Stück für Stück ein kleines bisschen mehr. Klar war er hier bis auf Weiteres eingesperrt, immerhin hatte er Luft und Lebensmittel und fades Licht durch die Notbeleuchtung, was bedeutete, dass es noch Strom gab. Seine nächsten Schritte waren eher pragmatisch. Im hintersten Bereich richtete er sich einen Platz für seine Geschäfte ein. Diese konnte er im Bedarfsfall mit genügend Geröll und Steinen verdecken, um dem davon ausgehenden Geruch und möglichen Keimen/Krankheiten zu entgehen. In der Nähe des Lüftungsschachts begann er eine Feuerstelle zu installieren, um sich auch mal eine warme Mahlzeit zubereiten zu können. Um einigermaßen bequem schlafen zu können, suchte er sich die Rückbank des Jaguars aus, da sie am meisten Platz bot. Aus dem Chrysler baute er sich den Beifahrersitz als Sitzgelegenheit aus, um nicht ständig auf dem nackten Boden sitzen zu müssen.

Einige Stunden später öffnete er sich mit seinem Messer, das er glücklicherweise immer im Rucksack dabei hatte, eine Dose Bohnen. Er saß am Feuer und trank zu seiner rustikalen Mahlzeit ein Glas Saft und musste auf einmal sogar grinsen. Schon ganz gemütlich hier, dachte er. Dieser kurze Moment wurde plötzlich von einem dunklen Gedanken überlagert, den er bisher erfolgreich verdrängt hatte. Wie war es wohl der Welt fünf Etagen über ihm ergangen? Wie schwer war die Stadt getroffen worden? Gab es viele Verletzte oder sogar Tote? Wie war es wohl seinen Freunden ergangen?

Das Beben schien ziemlich heftig gewesen zu sein, also konnte er davon ausgehen, dass die Zerstörung vor nichts Halt gemacht hatte. Er selbst war zu seinem Jobbeginn vor zwei Jahren erst in die Stadt gezogen und in dieser Zeit hatte er nur wenig Gelegenheit gehabt, Freundschaften zu schließen. Ken und Marty lagen ihm jedoch schon sehr am Herzen. Er und sein Arbeitskollege Ken hatten sich auf Anhieb verstanden und Marty, der als Verkäufer in einem Videostore arbeitete, hatte er genau dort zufälligerweise kennengelernt. Auch hier stimmte die Chemie sofort und nachhaltig, auch wenn ihre Treffen relativ selten stattfanden, da Marty meist dann arbeitete, wenn er frei hatte. Auch an Gomez und dessen Kinder musste er denken. Vielleicht hatte der gerade gewaltiges Glück, weil er heute zu Hause geblieben war. Zu guter Letzt schlich sich sogar Jamie in seine Gedanken. Mit ihr war er fast vier Monate zusammen gewesen, bis sie sich vor zwei Monaten relativ freundschaftlich trennten, weil es irgendwie nicht funktionierte. Außerhalb des Bettes gab es dann doch zu viele Unterschiede. Trotz allem mochte er sie und hoffte, dass es ihr ebenfalls gut ging. Doch erst einmal musste er sich mit seiner Situation arrangieren. Immerhin hatte er es sich einigermaßen bequem gemacht und konnte so relativ entspannt auf die Rettungstrupps warten, die ihn hier hoffentlich bald finden würden, auch wenn das Chaos in der Stadt vermutlich einfach gewaltig war.

Augen

Nach drei Tagen musste sich Zagarino eingestehen, dass er wohl nicht auf schnelle Hilfe hoffen durfte. Er lauschte häufig konzentriert, konnte dennoch keine Geräusche ausmachen, die auf seine Rettung hinwiesen. Also begann er zu festen Zeiten, immer wieder an verschiedenen Stellen, selbst Klopfgeräusche zu fabrizieren. Doch es folgte keine Reaktion. Zwei weitere Tage später akzeptierte er, dass er kaum noch auf Rettung hoffen konnte. Er hatte mal gelesen, dass nach fünf bis sieben Tagen die Rettungskräfte nicht mehr mit Überlebenden rechneten und deshalb ihre Bemühungen einstellten. Seine Stimmung sank von Tag zu Tag. Anfangs hatte er es sich noch gut gehen lassen. Zagarino hatte das Autoradio des Jaguars genutzt und sich immer wieder die CDs angehört, die sich im Handschuhfach befanden. Es waren genau sechs Stück gewesen und boten ihm eine Mischung aus Rock, Pop und Hip-Hop. Doch inzwischen war die Batterie leer und es herrschte deprimierende Stille.

Also hielt er sich mit sportlichen Übungen, wie Liegestützen, Sit-ups und im Kreis joggen auf Trab. Er hatte sich in letzter Zeit etwas gehen lassen und sich nicht mehr ganz so fit gehalten, wie damals, als er noch permanent Sport getrieben hatte. Zwar war er immer noch sehr kräftig und durch seine Körpergröße von 1,85 m fiel es den meisten Menschen nicht auf, dass er etwas zugelegt hatte. Doch natürlich sah er selbst, dass er nicht mehr so kräftig und definiert war, wie zu seinen besten Zeiten. Die waren allerdings auch schon einige Jahre her. Er war gerade auf dem sportlichen Weg nach oben und sehr froh über diese Entwicklung, da er schulisch eher mäßig erfolgreich war und eine vernünftige Ausbildung in weiter Ferne schien. Nach erfolgreichem College-Football – da war er gerade zweiundzwanzig gewesen – bekam er die Chance, bei dem Verein Seattle Seahawkes einen Profivertrag zu unterschreiben. Doch schon nach sechs Spielen brachte dann eine Verletzung seine ganze Karriere zum Erliegen. Sein rechtes Knie war bei einem brutalen Tackling total zerschmettert worden und so fiel er erst einmal eineinhalb Jahre verletzt aus. Seine Stimmung war zu diesem Zeitpunkt kaum zu beschreiben. Eine gefährliche Mischung aus Enttäuschung und Aggression brodelte in ihm, wie in einem Vulkan und er vegetierte nur noch dahin und versuchte, trotz seiner Schmerzen, wieder fit zu werden. Ein privater Sponsor meldete sich irgendwann und bot ihm eine kostspielige Operation an. Sein zertrümmertes Knie sollte komplett gegen ein stabileres, jedoch künstliches Knie ausgetauscht werden. Dieses neue Gelenk bestand aus einem Material, das auch in der Weltraumforschung eingesetzt wurde und würde das Knie deutlich härter und kräftiger machen. Dafür bestand der Sponsor auf fünfzehn Prozent der Einnahmen, wenn Zagarino wieder Football spielen könnte. Nach knapp über zweieinhalb Jahren stand er dann wieder mit einem operierten Knie auf dem Platz, bereit die Sportwelt erneut zu erobern. Doch irgendwie behinderten diesmal psychische Probleme seinen Erfolg. Zagarino konnte sich einfach nicht mit dem Fremdkörper in seinem Körper anfreunden, war nicht mehr so spritzig und stark, wie vor seiner Verletzung. Alle Teams, die ihm nach der Vertragsauflösung durch das Management der Seahawkes testeten und hohe Erwartungen an ihn hatten, lehnten ihn letztendlich ab. Er schob alles auf sein künstliches Knie und fiel in ein tiefes Loch. Der Sponsor saß ihm ständig im Nacken wegen des in ihn gesteckten Geldes und wollte endlich etwas für seine Investition zurückbekommen. Er selbst verfing sich in einem Netz aus Alkohol und falschen, kriminellen Freunden. Als Zagarino dann auch noch bei einem Überfall auf eine Tankstelle den Fluchtfahrer markierte und dabei erwischt wurde, brach alles zusammen. Er verlor das Vertrauen seiner Familie und der Sponsor verklagte ihn auf alles, was er hatte oder eher nicht hatte. Deshalb zog er aus seiner Heimatstadt weg und begann sich für etwas komplett anderes zu interessieren. Die UFC war gerade der aufstrebende Sportmarkt und so begann er MMA-Techniken zu trainieren und zwei weitere Jahre später, bewarb er sich dann dort. Er wurde sofort angenommen und hatte so auch gleich die Chance, seine ständig in ihm brodelnde, unterdrückte Wut umzusetzen, ohne ständige Schlägereien zu provozieren. Die ersten drei Kämpfe gewann er ohne Probleme. Seinen Beinamen Striker behielt er auch bei der UFC. Was er allerdings nicht getan hatte, war die Veranstalter auf sein künstliches Knie hinzuweisen, was auch bei den ärztlichen Untersuchungen nicht weiter aufgefallen war. So erwischte er seine Gegner meist genau mit diesem Körperteil und das harte Gelenk knockte sie blitzschnell aus. Ein anonymer Tipp vor drei Jahren, von jemandem, der ihm wohl nicht wirklich wohlgesonnen war, beendete dann seine Karriere ebenso schnell, wie sie zuvor begonnen hatte. Von der Presse wurde er damals als absolut unfairer Sportsmann zerrissen. Inzwischen lebte er nun ein komplett anderes Leben und war damit viel zufriedener. Sein Job als Lieferfahrer gefiel ihm und gab ihm einen Hauch von Freiheit. Er akzeptierte inzwischen, dass sein Knie nicht mehr sein eigenes war, ihm aber wenn nötig gute Dienste erwies und trainierte damit nur noch wenn er wollte und nicht wenn es ihm vorgeschrieben wurde. Er musste zugeben, dass er sich jetzt besser fühlte als damals, als er noch als der aufstrebende Football-Star galt und ständig nur von anderen geleitet wurde. Er war einfach nicht für ein Leben im Rampenlicht geschaffen. Auch seine Wut und Gewaltbereitschaft hatte er im Großen und Ganzen im Griff.

Gerade jetzt, wo alles fast normal lief, wollte er definitiv nicht sterben, das war wohl klar. Beim Trainieren merkte er, wie er schnell wieder zu Kräften kam und wie gut ihm die Bewegung tat. Er fühlte sich so fit, wie schon lange nicht mehr und beschloss, sich selbst aus seiner beschissenen Lage zu befreien. Am achten Tag nach dem Beben, begann er zu graben und zu räumen.

Augen

Am zwölften Tag schaffte er den Durchbruch in der Nähe der Auffahrt zum nächsten Parkdeck. Die letzten vier Tage hatte er ganz vorsichtig das Geröll entfernt und es durch seine Muskelkraft auch geschafft, größere Steine aus dem Weg zu schaffen. An Tag elf rutschte dann plötzlich etliches an Schutt nach und brachte die erste kleine Lücke. Das Loch vergrößerte er in den nächsten vierundzwanzig Stunden deutlich, so dass er nun hindurchkriechen konnte, um der Freiheit einen Schritt näher zu kommen. Bevor er jedoch das unterste Level verließ, stopfte er einige Lebensmittel für die nächsten Tage in den Rucksack. Zusätzlich füllte er ihn mit weiteren nützlichen Dingen, wie zum Beispiel Duschgel, Zahnbürste und einem Feuerzeug. Er nahm dann ein letztes Mal im bequemen Autositz an seinem Feuerplatz ein spärliches Abendessen zu sich und pinkelte in seine »Notdurft-Ecke«, wo sechs Steinhaufen seine größeren Geschäfte markierten und es inzwischen unangenehm zu riechen anfing. Danach legte er sich im Jaguar zur Ruhe. Am Morgen des dreizehnten Tages wusch und rasierte er sich und entschloss sich nun auch seine restlichen, nicht verbrannten Kopfhaare, mit dem Messer zu entfernen. Bekleidet mit Jacke, T-Shirt, Cargo-Hose und Timberland-Schuhen war er bereit, seine Rettung endgültig in die eigenen Hände zu nehmen. Er frühstückte eine Kleinigkeit, schnappte sich seinen Rucksack und stopfte diesen und dann sich selbst durch das körpergroße Loch in die nächste Ebene.

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Glücklicherweise hatte er sich für die Jacke entschieden. Sie verhinderte etliche Schürfwunden, als er sich durch das Loch schob und so schaffte er es, das fünfte Untergeschoß fast unverletzt hinter sich zu lassen.

Nachdem er sich durch die Öffnung gezwängt hatte, verstand Zagarino auch, woher die ganzen Steine gekommen waren. Die komplette Decke der Ebene 4 war eingestürzt und verhinderte dadurch das Betreten der Parketage, ermöglichte ihm so jedoch einen direkten Zugang zum nächsten Parkdeck. Er rief einige Worte in die erdrückende Stille, um eventuelle Überlebende zu lokalisieren. Doch er bekam keine Antwort und ging weiter.

Das dritte Parkdeck ähnelte dem fünften. Gesteinsbrocken waren auf unzählige Autos gestürzt, Säulen eingebrochen und überall lagen Schutt und Staub. Leider war in dieser Etage das Licht komplett ausgefallen, so dass er nur mit seinem Feuerzeug etwas Helligkeit erzeugen konnte. Doch als er seinen kleinen Rundgang beendet hatte, war er froh über die magere Beleuchtung. Nun wusste er nämlich auch, woher der süßliche Gestank kam, den er vorher flüchtig wahrgenommen hatte. Er stieß auf insgesamt zwölf Leichen. Drei Menschen waren wohl gerade auf dem Weg zu ihren Autos gewesen, als die Brocken sie erschlugen. Zwei waren unter großen Steinen begraben worden und nur ihre Arme und Beine lugten unter dem Geröll hervor. Sie wirkten fast wie große Wasserschildkröten, die sich langsam wieder vom Strand ins Wasser schieben wollten. Nur, dass sich hier rein gar nichts mehr bewegte. Die dritte Person hatte auch nicht mehr Glück gehabt. Sie war unter vielen kleinen Steinen begraben worden. Etliche Wunden an Kopf und Oberkörper zeugten davon, mit welcher Wucht die kleineren Gesteinsbrocken auf den Mann niedergeprasselt waren.

Als sich Zagarino herunterbeugte, schreckte er einen Schwarm Fliegen auf, die sich bereits am Leichnam gütlich getan hatten. Angewidert wich er zurück. Die anderen Toten waren in ihren eigenen Autos gestorben. Immer wieder konnte er Arme, Beine und getrocknetes Blut unter den zermalmten Wracks erkennen. Es musste furchtbar sein, so einen Tod zu sterben. Wieder wurde ihm bewusst, wie viel Glück er gehabt hatte, auch wenn er natürlich noch lange nicht gerettet war. Hier unten jedenfalls, wollte er definitiv nicht sterben oder auch nur noch einen weiteren Augenblick auf dieser Etage des Todes verbringen. Er setzte sich schleunigst in Bewegung, um den Weg zum nächsten Parkdeck zu finden und hatte tatsächlich Glück.

Die Auffahrt war ebenfalls verschüttet, doch es war erkennbar, dass das Treppenhaus zwar mit Geröll vollgestopft, dieses aber relativ leicht zu beseitigen war.

Er begann vorsichtig Stein für Stein und auch diverse Metallteile durch die Tür zu transportieren, um immer mehr Platz zu schaffen, damit er die Treppe hinter dem Schuttberg erreichen konnte. Trotz allem brauchte er dennoch einige Stunden, da er sehr vorsichtig vorgehen musste, um nicht vom nachdrückenden Schutt erschlagen zu werden.

Kurz nach einundzwanzig Uhr hatte er eine so große Schneise ins Geröll geschlagen, dass er mit vorsichtigen Schritten, die Treppe zur nächsten Ebene erreichen konnte. Dieser Treppe folgte er, begleitet von flackernden Lichtern, bis zur nächsten Etage. Dann war zu seiner großen Enttäuschung leider schon wieder Schluss. Das Treppenhaus war zum Ausgang hin komplett verschüttet. Ihm blieb nichts anderes übrig, als wieder einmal ein weiteres Parkdeck zu betreten.

Augen

Zagarino bemerkte bereits beim Öffnen der Tür, dass sie völlig im Rahmen verzogen war. Doch mit roher Kraft gelang es ihm, sie einen Spalt breit zu öffnen und durch diesen das letzte Untergeschoss des Parkhauses zu betreten.

Auch hier herrschte auf den ersten Metern absolute Dunkelheit, doch Zagarino erkannte trotzdem sofort, dass auch hier massiver Schaden entstanden war. Was ihm überdies auffiel, war ein kleines Feuer auf der anderen Seite der Etage. Es flackerte wild und sah aus wie ein Lagerfeuer. Gab es hier etwa Überlebende?

Wenn ja, hätten sie doch eigentlich das Öffnen der Tür hören müssen.

»Hallo? Ist hier unten jemand?« Er ging langsam und etwas nervös auf das kleine Feuer zu. Irgendetwas kam ihm hier komisch vor. Trotzdem machte er sich noch einmal bemerkbar.

»Hallo? Ich bin John. Ist hier jemand?« Seine eigene Stimme, die er tagelang nicht mehr gebraucht hatte, kam ihm seltsam fremd und kratzig vor.

»Hey!«

Neben ihm tauchte plötzlich und unerwartet ein Mann auf. Zagarino schreckte zurück.

»Ganz ruhig …«, kicherte ein weiterer Mann, der mir nichts dir nichts auf einmal hinter ihm auftauchte.

»Verdammt, was soll das?«, fragte Zagarino und spürte dabei den Beginn eines leichten Wutanfalls, den er ganz schnell versuchte, wieder in den Griff zu bekommen.

»Entschuldigung Mister. Wo kommen Sie denn so plötzlich her?«, wollte der Mann wissen, der sich zuerst bemerkbar gemacht hatte.

Er war ein hagerer Typ Ende Vierzig, mit krauslockigem schwarzen Haar. Sein Gesicht wirkte eingefallen und müde, während die Augen wild herumzuckten, so als ob er ausgesprochen nervös wäre. Der Anzug, den er trug, war an mehreren Stellen zerrissen und es wehte ein ausgesprochen unangenehmer Geruch von dem Fremden herüber.

Hinter ihm gluckste der Zweite. Es war ein dicker Kerl mit fettigen langen Haaren. Seine Kleidung bestand nur aus einem großen T-Shirt mit einem Aufdruck von Rorschach aus dem Film Watchmen und weißen Socken. Erkennbare Hosen trug er nicht. Auch er roch nicht besonders erfrischend, doch Zagarino machte sich bewusst, dass nicht jeder – so wie er – über Duschgel verfügte. Immerhin hatten die beiden vermutlich die gleiche Zeit hier unten verbracht, wie er und das ohne die Möglichkeit, sich zu waschen. Da konnte man durchaus schon anfangen, unangenehm zu riechen.

»Sei ruhig Marco«, brachte ihn der Hagere zum Schweigen.

»Tut mir leid. Wir haben nicht mit Besuch gerechnet«, grinste der Hagere. »Und wir sind nervlich etwas angespannt.«

Zagarino atmete tief durch. Er wusste nicht warum, doch er hätte den beiden gerne eine Abreibung verpasst.

»Schon gut.«

»Ich bin Cameron«, er reichte Zagarino die Hand. Als er diese nicht ergreifen wollte, steckte der Hagere sie einfach in die rechte Hosentasche.

»Das ist Marco. Wie sind hier während des Bebens verschüttet worden.«

»John.«

»Bist du da um, uns zu retten, Mann?«, wollte Marco wissen.

Zagarino schüttelte den Kopf.

»Da muss ich euch leider enttäuschen. Ich komme aus der fünften Etage und war dort genauso eingesperrt wie ihr beide hier. Doch in den letzten Tagen habe ich es geschafft, einen Durchgang zu schaffen, um auf das vierte Parkdeck zu kommen und ab da habe ich dann nur noch wenige Stunden gebraucht, um bis nach hier oben zu gelangen.«

»Und wir dachten, wir sind die Einzigen hier. Komm, setzen wir uns erst einmal.«

Cameron führte Zagarino und Marco zum Feuer. Die beiden hatten sich ein kleines Camp eingerichtet und es brutzelte sogar ein Stück Fleisch an einem Stock über dem Feuer.

»Wir wollten gerade etwas essen. Du hast doch bestimmt auch Hunger, oder?«

»Allerdings und nach den ganzen Konserven der letzten Tage wäre ein Stück Fleisch wahrlich nicht übel.«

Zagarino legte den Rucksack ab und kramte darin herum. Zur Freude der beiden Überlebenden brachte er drei Flaschen Wasser zum Vorschein. Trotz allem beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl, das er selbst nicht genau erklären konnte.

»Hier, falls ihr Durst habt.«

Er warf beiden eine Flasche hin und gierig fielen sie über das köstliche Nass her.

»Woher habt ihr das Fleisch?«, wollte der ehemalige Football-Spieler wissen.

Wieder antwortete Cameron.

»Wir fanden es im Kofferraum eines der Autos, das nicht unter den Steinen begraben worden war. Dort waren auch ein paar Getränke, die sind allerdings schon seit ein paar Tagen alle.«

Zagarino fiel auf, wie hektisch Cameron sprach und seine Augen blinzelten und zuckten ununterbrochen dabei. Ob er noch immer unter Schock stand?

»Wisst ihr, was genau passiert ist?«

Der Hagere schüttelte den Kopf, doch diesmal antwortete Marco.

»Es war ein Erdbeben.«

»Ach, wirklich?« Zagarino schaute zu dem dicken Mann hinüber und stellte zu seiner Beruhigung fest, dass der immerhin eine Unterhose trug, die man vorher unter dem Shirt nur nicht gesehen hatte.

»Ja, Mann. Wie in diesem alten Charlton-Heston-Film.«

»Hier war die Hölle los«, mischte sich Cameron ein. »Alles bebte und fiel in sich zusammen. Das Parkdeck hier war ziemlich leer und so konnten einige sogar entkommen, bevor das Treppenhaus komplett verschüttet wurde.«

»Wir waren leider zu langsam, Mann. Und deshalb sitzen wir fest und warten auf die Feuerwehr.«

»Nur ihr beide? Sonst ist hier niemand?«

»Wieso fragst du, Mann?« Marco beugte sich vor. »Was willst du damit sagen, Mann?«

Zagarino verzog irritiert das Gesicht. »Nichts, wieso?«

»Schon gut. Marco ist etwas nervös. Er hält das hier alles nicht mehr aus.«

»Hat denn keiner versucht, euch zu retten? Habt ihr etwas von oben gehört? Waren keine Rettungstrupps da?«

Der Hagere nahm das Fleisch vom Feuer und löste das Stück vom Spieß.

»Nein. Anfangs gab es unzählige Schreie, doch dann war es einfach nur still.«

»So als ob alle gestorben wären, Mann.«

Das war doch verrückt, dachte Zagarino. Die Mall war ein beliebter Freizeitort und er konnte nicht begreifen, dass keine Versuche unternommen worden waren, um hier Überlebende zu finden.

Cameron hatte das krosse Fleisch in drei Stücke geschnitten und reichte Zagarino und Marco jeweils eins davon.

»Dann lass es dir mal schmecken, bevor es kalt wird.«

Zagarino biss in das saftige, doch leicht zähe Fleisch. Es tat zwar gut wieder einmal Fleisch zwischen den Zähnen zu spüren, er konnte jedoch den Geschmack einfach nicht einordnen.

»Was ist das für Fleisch? Schwein? Huhn?«

»Keine Ahnung. Es war nicht gekennzeichnet. Es war geräuchert, vielleicht liegt es daran. Oder es ist nicht mehr ganz frisch«, gestand Cameron.

»Mir schmeckt es verdammt gut, Mann«, freute sich Marco.

Schweigend schlang Zagarino den Rest hinunter. Der Hunger trieb es rein, wirklich gut fand er es eher nicht.

»Habt ihr schon einen eventuellen Fluchtweg finden können?«, wollte Zagarino wissen.

»Da hinten in der Decke gibt es ein Loch, das anscheinend in irgendein Lager führt. Es ist zu hoch, so dass wir es nicht erreichen konnten. Doch jetzt, wo wir zu dritt sind, könnte es vielleicht doch ein Ausweg sein«, erklärte Cameron, während seine Augen noch immer wie nervöse Tiger in einem Käfig herumwanderten.

»Das klingt gut. Das schaue ich mir doch gleich einmal an.«

»Wir sollten bis morgen warten. Du siehst ziemlich fertig aus. Vielleicht solltest du dich erst einmal ausruhen und schlafen. Dann kann man die eventuell bevorstehenden Anstrengungen besser bewältigen«, schlug Cameron vor.

Zagarino schaute ihn an. Im flackernden Licht des Feuers hatte sein hageres Gesicht etwas Dämonisches und er spürte immer wieder den Drang, seinem Gegenüber einfach den Schädel einzuschlagen. Warum auch immer. Letztendlich jedoch hatte der Typ vermutlich Recht. Er war trotz des überraschend einfachen Aufstieges erschöpft und eine kleine Unkonzentriertheit könnte vielleicht die ganze Decke zum Einsturz bringen. Auch wenn er nicht länger als nötig in der Gesellschaft dieser beiden merkwürdigen Gestalten verbringen wollte, würde es nichts bringen, auf den letzten Metern draufzugehen, weil er an einem falschen Stein zog. Vermutlich lagen seine Nerven nach den letzten Tagen in Einsamkeit einfach blank.

»Du hast Recht. Ich werde mich hinlegen und ausruhen, damit wir morgen hier endlich verschwinden können.«

»Das klingt gut, Mann!«

Wenn er noch einmal Mann sagt, werde ich sein Gesicht ins Feuer …

Zagarino erschrak über seine Gedanken. Verdammt, was war denn hier nur los? Es war wirklich Zeit schlafen zu gehen.

Er stand auf, packte seinen Rucksack und wollte nach links gehen, als er von Cameron aufgehalten wurde.

»Da hinten ist viel Schutt und unsere … na ja … Notdurft. Leg dich lieber auf diese Seite und ruh dich aus.«

Hatte er etwas zu verbergen? Seine Augen blinzelten wie verrückt, aber Zagarino zog sich ohne weitere Worte in die andere Richtung zurück und kaum, dass er zwischen zwei Autos seinen Kopf auf seinen Rucksack gelegt hatte, war er auch schon eingeschlafen.

Augen

Zagarino schreckte hoch. Er hatte geträumt, dass die Erde bebte und diesmal selbst der Himmel auf ihn herabstürzte. Er atmete tief durch und setzte sich auf. Nur ein Traum … dieses Mal jedenfalls.

Das Parkdeck lag jetzt fast in völliger Dunkelheit. Das Feuer glühte nur noch ganz schwach und als er über die Autos schaute, konnte er weder Cameron noch Marco von seiner Position aus sehen. Seine Uhr zeigte ihm 3:43 Uhr an und so ging er davon aus, dass die beiden ebenfalls irgendwo schliefen. Leise stand er auf und sah sich um. Irgendwo tropfte scheinbar Wasser auf ein Autodach. Sonst war nichts zu hören. Trotz allem fühlte er sich irgendwie unwohl. Etwas stimmte nicht und er konnte das Gefühl einfach nicht abschütteln. Zagarino entledigte sich seiner Jacke und schlich zum glimmenden Feuer hinüber. Auch hier hielten sich weder Cameron noch Marco auf. Die Parketage war allerdings ziemlich groß, so dass die beiden Männer überall liegen konnten.

Sein Blick ging zur linken Seite hinüber, als er merkte, dass seine Blase drückte. Es machte sicherlich Sinn, ebenfalls auf dieser Seite sein Wasser abzulassen, wenn sich Cameron und Marco zum Schlafen auf die andere Seite zurückzogen.

Also ging er zwischen zerstörten und unbeschädigten Fahrzeugen hindurch und gelangte immer tiefer ins Parkdeck. Hier hinten gab es kein Licht mehr und er nahm wieder einmal sein Feuerzeug zu Hilfe. Staub wirbelte bei jedem Schritt auf.

Er schwenkte seinen Arm, der das Feuerzeug hielt und sah in seinen Augenwinkeln etwas hinter einem Mercedes liegen. Was war das? Ein Schlafsack? Lag dort Cameron oder war es Marco?

Vorsichtig ging Zagarino auf den Schlafsack zu. Überall verstreut lagen Zeitungen und Dosen sowie Getränkeflaschen. Hier hatte definitiv jemand sein Lager eingerichtet.

Er ging an dem Mercedes vorbei und sah weitere Dinge, wie Klamotten, eine Decke und eine Brille mit einem zerbrochenen Glas auf dem Boden liegen. Unter der Decke schien jemand zu schlafen. Oder war die Person etwa …

Zagarino beugte sich hinunter und leuchtete mit dem Feuerzeug die Decke ab. Ein bestialischer Gestank strömte ihm entgegen.

Mit zitternden Händen schlug er die dicke Wolldecke zur Seite und prallte zurück. Vor ihm lag eine nackte männliche Leiche. Sie lag mit offenen Augen auf dem Rücken und das Schockierende an dem Leichnam war, dass am ganzen Körper, vor allem jedoch an den Beinen, das Fleisch sorgfältig mit einem Messer abgeschält worden war. Genau wie bei einem Hühnerschenkel, waren nur noch die Knochen zu sehen.

Plötzlich wurde ihm ganz übel, denn sofort realisierte Zagarino, was für Fleisch er vorhin gegessen hatte. Er stand auf und wankte zurück und …

Chunk