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Sucht: Risiken – Formen – Interventionen

Interdisziplinäre Ansätze von der Prävention zur Therapie

 

Herausgegeben von

 

Oliver Bilke-Hentsch

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank

Michael Klein

Gerhard A. Wiesbeck

Kokainabhängigkeit

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autor haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023948-7

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-024062-9

epub:   ISBN 978-3-17-024063-6

mobi:   ISBN 978-3-17-024064-3

 

Geleitwort der Reihenherausgeber

 

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Suchtbereich sind beachtlich und erfreulich. Dies gilt für Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch für die Suchtforschung in den Bereichen Biologie, Medizin, Psychologie und den Sozialwissenschaften. Dabei wird vielfältig und interdisziplinär an den Themen der Abhängigkeit, des schädlichen Gebrauchs und der gesellschaftlichen, persönlichen und biologischen Risikofaktoren gearbeitet. In den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen sowie in den unterschiedlichen familiären, beruflichen und sozialen Kontexten zeigen sich teils überlappende, teils sehr unterschiedliche Herausforderungen.

Um diesen vielen neuen Entwicklungen im Suchtbereich gerecht zu werden, wurde die Reihe »Sucht: Risiken – Formen – Interventionen« konzipiert. In jedem einzelnen Band wird von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ein Schwerpunktthema bearbeitet.

Die Reihe gliedert sich konzeptionell in drei Hauptbereiche, sog. »tracks«:

Track 1:

Grundlagen und Interventionsansätze

Track 2:

Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen

Track 3:

Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten

In jedem Band wird auf die interdisziplinären und praxisrelevanten Aspekte fokussiert, es werden aber auch die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen des Themas umfassend und verständlich dargestellt. Die Leserinnen und Leser haben so die Möglichkeit, sich entweder Stück für Stück ihre »persönliche Suchtbibliothek« zusammenzustellen oder aber mit einzelnen Bänden Wissen und Können in einem bestimmten Bereich zu erweitern.

Unsere Reihe »Sucht« ist geeignet und besonders gedacht für Fachleute und Praktiker aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchtberatung, der ambulanten und stationären Therapie, der Rehabilitation und nicht zuletzt der Prävention. Sie ist aber auch gleichermaßen geeignet für Studierende der Psychologie, der Pädagogik, der Medizin, der Pflege und anderer Fachbereiche, die sich intensiver mit Suchtgefährdeten und Suchtkranken beschäftigen wollen.

Die Herausgeber möchten mit diesem interdisziplinären Konzept der Sucht-Reihe einen Beitrag in der Aus- und Weiterbildung in diesem anspruchsvollen Feld leisten. Wir bedanken uns beim Verlag für die Umsetzung dieses innovativen Konzepts und bei allen Autoren für die sehr anspruchsvollen, aber dennoch gut lesbaren und praxisrelevanten Werke.

Im vorliegenden Band wird der Bedeutung des Kokains als weitverbreitetem Suchtmittel nachgegangen. Es ist für die Einschätzung des individuellen und gesellschaftlichen Risikos von Kokainkonsum entscheidend, einerseits die typischen und für die Benutzer höchst verführerischen Wirkungsweisen zu kennen, andererseits die Frühzeichen einer besonderen Gefährdung und die Möglichkeiten zur Intervention. Aufgrund der sozialen Bedeutung von Kokain und ähnlichen Substanzen in der postmodernen Leistungsgesellschaft, die wahrscheinlich nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, muss Kokainkonsum und Abhängigkeit auch immer im Kontext psychosozialer Gegebenheiten und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen interpretiert werden. Hier gilt es, auch bisher wenig erreichten Konsumentengruppen verschiedenster Sozialschichten besser und früher Hilfen zugänglich zu machen. Damit diese teils schillernde psychosozial-gesellschaftliche Gesamtsicht aber nicht den klinisch-therapeutischen Blick für individuelle Risiken und Schicksale überdeckt, sind empirisch-wissenschaftlich fundierte Basiskenntnisse von hoher Bedeutung. Dieser Band liefert den Leserinnen und Lesern eine solche umfassende Sicht in kompakter Form.

 

Oliver Bilke-Hentsch, Winterthur/Zürich

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln

Michael Klein, Köln

Inhalt

 

  1. Geleitwort der Reihenherausgeber
  2. Vorwort
  3. 1 Einleitung
  4. 1.1 Geschichte und Herkunft
  5. 1.2 Künstlerische und biographische Themenbezüge
  6. 2 Epidemiologie
  7. 3 Stoff- bzw. Verhaltensspezifika
  8. 3.1 Konsummuster
  9. 3.2 Konsumformen
  10. 3.3 Konsumweisen
  11. 4 Pharmakologie und Neurobiologie
  12. 4.1 Pharmakologie
  13. 4.2 Neurobiologie
  14. 5 Substanzwirkungen
  15. 5.1 Körperliche und psychische Wirkungen
  16. 5.2 Gesundheitliche Folgen des Kokainkonsums
  17. 5.3 Komorbidität mit psychischen Störungen
  18. 5.4 Kokain als Leistungsdroge
  19. 6 Ätiologie/Integrativer interdisziplinärer Ansatz
  20. 7 Diagnostik
  21. 8 Therapieplanung und Interventionen
  22. 8.1 Psychotherapeutisch-psychosoziale Behandlung
  23. 8.2 Medikamentöse Behandlung
  24. 8.3 Prävention
  25. 9 Rechtliche Situation
  26. 10 Synopse und Ausblick
  27. 10.1 Synopse
  28. 10.2 Ausblick
  29. Literatur
  30. Personen- und Stichwortverzeichnis

 

Vorwort

 

Seit Jahren werden Kokainabhängige in unserem Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen in Basel behandelt. Sie suchen Hilfe, nachdem das Kokain ihr Leben in irgendeiner Weise erschüttert hat: Einigen droht die Kündigung des Arbeitsplatzes, andere sind mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder vom Partner verlassen worden. Sie kommen in einem depressiven Crash, nach einem Suizidversuch oder mit einer paranoiden Psychose. Wer bei uns Hilfe sucht, kennt die Schattenseiten des Kokainkonsums.

Bei der Reihung der gefährlichen Drogen gehört Kokain zweifellos auf einen der vordersten Plätze. Das hat viele Gründe. Unter anderem ist es die substanzeigene Schadwirkung, das kokainspezifische, pharmakologische Wirkungsprofil, von dem diese Gefährlichkeit ausgeht. Davon wird in den nachfolgenden Kapiteln ausführlich die Rede sein.

Warum bleibt Kokain dennoch für viele Menschen so attraktiv? Warum erfährt es eine eher positive gesellschaftliche Konnotation, während andere Drogen, wie z. B. Heroin und Nikotin, sozial zunehmend geächtet werden? Das vorliegende Buch versucht eine Antwort auf diese Fragen. Es widmet sich dabei ausführlich folgenden Punkten:

Kokain verändert die Psyche! Solange seine Wirkung anhält, fühlt sich der Betroffene leistungsfähig, euphorisch und kommunikativ. Der »Ego-Stoff« macht selbstbewusst und kontaktfreudig – Eigenschaften, die heutzutage höchst attraktiv erscheinen.

Kokain ist preisgünstig! Auf Kleinhandelsebene zahlt der »Konsument« zwischen 40 und 100 Euro für ein Gramm. Damit ist Kokain auch für Arbeiter, Handwerker und Hausfrauen erschwinglich geworden. Der Kokainkonsum geht quer durch die Gesellschaft.

Kokain ist in großen Mengen vorhanden und daher leicht verfügbar! Die Messung von Kokainabbauprodukten in den Abwässern verschiedener Großstädte lässt plausible Schätzungen zu. Demnach wird von der urbanen Bevölkerung Europas täglich nahezu eine Tonne Kokain konsumiert. Das bleibt nicht ohne Folgen.

Eine dieser Folgen, die Abhängigkeit, steht im Fokus dieses Buches. Kokain macht abhängig! – Zwar nicht jeden und nicht sofort, aber manche im Laufe der Zeit. Wer abhängig ist, verliert viele Freiheitsgrade, denn der innere Kompass justiert sich an neuen, schädlichen Prioritäten. Wollen und Handeln richten sich darauf aus, Kokain zu beschaffen, zu konsumieren und die negativen (sozialen, psychischen, gesundheitlichen, juristischen, finanziellen) Konsequenzen zu kompensieren. Zunehmend und nachdrücklich dominiert die Abhängigkeit den handlungsbestimmenden Willen des Konsumenten. Auf diese krankmachende Konsequenz – aber auch auf die Möglichkeiten einer wirksamen Behandlung – wird in den nachfolgenden Kapiteln ausführlich eingegangen.

Dieses Buch folgt einer doppelten Zielsetzung. In verständlicher Sprache will es einen möglichst breiten Leserkreis umfassend informieren. Anderseits soll es auch für Spezialisten und suchtmedizinisch Kundige eine nützliche Quelle zum Nachschlagen sein. Es brauchte daher einen Kompromiss zwischen allgemeinverständlicher Umschreibung und medizinischer Fachsprache. Ob er gelungen ist, mag der aufmerksame Leser selbst entscheiden.

Einige Menschen haben mich bei der Arbeit an diesem Buch sehr unterstützt. Ihnen danke ich von ganzem Herzen. Diejenigen, die gemeint sind, wissen es.

 

Basel, im August 2017

Gerhard A. Wiesbeck

 

 

 

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Einleitung

1.1       Geschichte und Herkunft

Die getrockneten Blätter des Kokastrauchs werden von den indianischen Ureinwohnern der Andenländer seit über 5.000 Jahren als Genussmittel, aber auch zu medizinischen oder religiösen Zwecken genutzt. Noch heute ist es in einigen Ländern Südamerikas verbreitete Sitte, einen Klumpen Kokablätter zusammen mit einer Prise Kalk im Mund zu haben. Die spanischen Eroberer staunten über das hohe Ansehen, das dem Kokastrauch von der indianischen Bevölkerung entgegengebracht wurde. Der spanische Chronist Gareilaso de Vega schrieb, dass es die Hungrigen sättige, dem Müden und Erschöpften neue Kraft verleihe und die Unglücklichen ihren Kummer vergessen lasse.

Einige Wissenschaftspioniere des 19. Jahrhunderts unternahmen Selbstversuche mit Kokablättern; so z. B. Paolo Mantegazza, ein italienischer Arzt und Erforscher psychotroper Pflanzen. Im Jahr 1853 berichtete er euphorisch: »Von zwei Cocablättern als Flügeln getragen, flog ich durch 77349 Welten, die eine prachtvoller als die andere. Gott ist ungerecht, dass er es so eingerichtet hat, dass der Mensch leben kann, ohne beständig Coca zu kauen. Ich ziehe ein Leben von zehn Jahren mit Coca einem Leben von hunderttausend Jahrhunderten ohne Coca vor…«

Perito Moreno, ein argentinischer Naturforscher des 19. Jahrhunderts, unternahm ebenfalls Selbstversuche mit Kokablättern. Er schrieb: »Man verliert das Bewusstsein nicht und doch fühlt man sich in einer phantastischen, ganz unbekannten Welt und erfreut sich eines unbeschreiblichen Wohlseins«.

Im Jahr 1863 versetzte der Korse Angelo Mariani erstmals einen Bordeauxwein mit Extrakten aus den Blättern der Kokapflanze und verkaufte ihn als »Vin Tonique Mariani à la Coca du Pérou«. Der französische »Mariani Wein« wurde wegen seiner stimulierenden Wirkung zu einem großen Verkaufserfolg. Ihm wurden heilsame Wirkungen gegen zahlreiche Krankheiten nachgesagt. So galt er u. a. als stimmungsaufhellend, verdauungsfördernd und appetitmindernd. Wegen seiner großen Popularität fanden sich bald zahlreiche Nachahmerprodukte, die als sog. Kokain-Weine bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein auf dem Markt waren.

Abgesehen von den Selbstversuchen einzelner Forscher blieb das wissenschaftliche Interesse an der Kokapflanze lange Zeit gering. Das lag vor allem daran, dass die Kokablätter, wenn sie nach langer Schiffsreise in Europa ankamen, ihre Frische und damit ihre Wirksamkeit weitgehend verloren hatten. Das änderte sich nach der sog. »Novara-Expedition«.

Mitte des 19. Jahrhunderts unternahm die österreichische Marine mit der Fregatte »Novara« eine weltumspannende Forschungsreise, die von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien wissenschaftlich geleitet wurde (Novara-Expedition: 1857-1859). Ein Ballen peruanischer Kokablätter, den man aus Südamerika mitbrachte, kam nach Göttingen, wo dem Chemiker Albert Niemann 1860 gelang, was mehrere Wissenschaftler vor ihm vergeblich versucht hatten. Er isolierte die eigentliche Wirksubstanz, das Kokain, in reiner, kristalliner Form. In seiner Dissertation »Über eine neue organische Base in den Cocablättern« erfolgte die erste chemische Charakterisierung der neuen Substanz. Dem späteren Nobelpreisträger Richard Willstätter gelang es 1898, die Molekularstruktur aufzuklären, und 1923 synthetisierte er als Erster Kokain im Labor.

Im Jahr 1883 erprobte der deutsche Militärarzt Theodor Aschenbrandt die neue Kokainlösung an erschöpften Soldaten nach einem Herbstmanöver. Wiederum zeigte sich die muntermachende, leistungssteigernde Wirkung der Substanz. Aschenbrandts Veröffentlichungen darüber wurden u. a. von Sigmund Freud und Karl Koller gelesen, zwei Assistenzärzten am Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Zusammen erforschten sie 1884 den Effekt von Kokain auf die Muskelkraft. Dabei entdeckte Karl Koller, ein angehender Augenarzt, im Selbstversuch die betäubende Wirkung von Kokain auf seine Mundschleimhaut und verwendete es daraufhin als Lokalanästhetikum am Auge. Durch seine Entdeckung wurde mittels einiger Tropfen Kokain-Lösung erstmalig ein schmerzfreies Operieren am Auge möglich.

Auch Sigmund Freud unternahm Selbstversuche mit Kokain. Am 30. April 1884 – er soll sich an diesem Tag besonders müde und niedergeschlagen gefühlt haben – nahm er zum ersten Mal in Wasser gelöstes Kokain auf oralem Weg zu sich. Kurz darauf fühlte er sich wohltuend leicht, in gehobener Stimmung, ja geradezu euphorisch. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Nach zahlreichen weiteren Selbstversuchen veröffentlichte Freud seine positiven Erfahrungen in einem Artikel »Über Coca«, in dem er die Substanz als unbedenkliches Heilmittel gegen allerlei körperliche und psychische Beschwerden empfahl. Sein Irrtum löste die erste Kokainwelle aus. Die Droge wurde zeitweise so populär, dass selbst Arthur Conan Doyles Romanheld Sherlock Holmes ihr verfiel. Im Jahr 1886 injizierte sich der britische Meisterdetektiv zum ersten Mal Kokain, um klarer denken zu können. Und in Atlanta (USA) erfand 1887 der Apotheker John Smith Pemperton das Coca-Cola, das bis 1906 tatsächlich Kokain enthielt.

Der zunehmenden Popularität der Droge wurden bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts hinein keine gesetzlichen Grenzen gesetzt. Offermann (1926) schrieb darüber: »Da trat mit epidemischer Wucht auf noch unbekanntem Wege eine neue Sucht mit unheimlicher Infektiosität auf, der Schnupfcocainismus. Der Herd dieses neuen Lasters sass tief im verschlungenen, von Lust und Leid verknoteten Gewebe der Demimonde und Bohème des Montmartre und in den dunkeln Winkeln des Studentenviertels Quartier Latin. Von hier aus verbreitete sich die Sucht mit embolischer Wirksamkeit über die verschiedensten Länder aus, über England, Amerika, Russland und von hier durch die Kontagiosität der Nachkriegszeit nach Wien und Berlin… Eigene Komitees und Bekämpfungsausschüsse entstanden in den Ministerien, man verlangte internationale Reglementierung und Verbot der Cocainproduktion. Die strengsten Gesetze erliess Frankreich, mit dem Erfolg, dass sich das Laster nur mehr in seine Höhle verkroch und noch weniger zu ergreifen war.« (Offermann 1926).

Erst in den folgenden Jahrzehnten wurde Kokain nach und nach in fast allen westlichen Ländern verboten. Parallel dazu wurde es jedoch zur beliebten Droge in Künstler- und Literatenkreisen. Richard Strauss, Jean Cocteau, Hans Fallada, Gottfried Benn, Otto Dix und viele andere versuchten sich daran. Eine rigorose Verbotspolitik, wirksame Strafverfolgungsmethoden und chemisch erzeugte Alternativpräparate (Amphetamine) führten zu einem Rückgang des Kokainkonsums. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Droge wieder populär. Filme wie »Easy Rider« oder Stars aus der Rockmusikerszene trugen dazu bei, dass es erneut »schick« wurde, Kokain zu konsumieren.

Es entstanden die ersten Drogenkartelle, die USA erklärten den »War on Drugs« und marschierten 1989 in Panama ein, um den dortigen Kokainanbau zu bekämpfen. Der »Siegeszug« der Droge in der leistungsorientierten Yuppie-Gesellschaft war dennoch nicht aufzuhalten. Der steigende Bedarf bei zugleich rigoroser Verbotspolitik führte zu riesigen Gewinnmargen im illegalen Kokainhandel. Dass sich die Finanzkrise 2008 nicht zur weltweiten Finanzkatastrophe entwickelte, sei u. a. den »Narco-Dollars« der Kokainmafia zu verdanken, behauptet der Mafia-Experte Roberto Saviano (2013). Die milliardenschweren Gewinne aus dem Kokainhandel, so Saviano, sollen damals durch ihre Rückführung in den legalen Geldkreislauf etliche Banken stabilisiert und den drohenden Zusammenbruch des weltweiten Finanzsystems mit verhindert haben. Kokain, die Rettung für Millionen von Kleinsparern?

Im Jahr 2004 schaffte es Kokain sogar auf die Titelseite des Schweizer Nachrichtenmagazins FACTS. Unter der Überschrift »Schnee bis in die Niederungen« war zu lesen, dass die »neue Volksdroge« zu günstigen Preisen nun auch bei Handwerkern, Hausfrauen und Jugendlichen angekommen sei.

Merke

Kokain konnte seinen weltweiten »Siegeszug« erst antreten, nachdem es 1860 gelungen war, die Reinsubstanz aus den Blättern des Kokastrauchs zu isolieren, seine Molekularstruktur aufzuklären (1898) und im Labor künstlich herzustellen (1923). Der »Kokainismus« traf die westlichen Gesellschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit solcher Wucht, dass die Droge in den meisten Ländern verboten wurde.

1.2       Künstlerische und biographische Themenbezüge

Das Kokain hat seinen Weg als Sujet in die Kunst auf vielerlei Weise gefunden. Sogar die Musik hat sich der Droge als Thema angenommen. So besingt beispielsweise die deutsche Rock-Band Rammstein die »weiße Fee« im brachialen Stil der sog. neuen deutschen Härte und die amerikanische Garage-Punk-Band FIDLAR hat ein Musikvideo namens »Cocaine« ins Netz gestellt. Andere Musikrichtungen haben sich des Kokains ebenfalls bedient. So z. B. J. J. Cale oder Jackson Taylor, die beide »Cocaine« im Musikstil des Countrysongs vertonten. Robin Thicke und Mr. Vik sind weitere Beispiele für zeitgenössische Musiker und die »Gitarrenlegende« Eric Clapton besang das »Cocaine« sogar in der Royal Albert Hall. Der jamaikanische Reggae-Musiker »Dillinger« landete mit seinem Song »Cocaine in my brain« in den 70er Jahren auf Platz 35 auf der Hitliste der deutschen Singlecharts. Ein Klangerlebnis, das vermutlich mehr mit Kommerz als mit Kunst zu tun hat, ist das sog. »I-Dosing Cocaine«. Dabei handelt es sich um ein internetbasiertes Audioangebot, das ein akustisches Rauscherlebnis vermitteln soll. Über Kopfhörer werden beide Ohren unabhängig voneinander mit Tönen unterschiedlicher Frequenzen, sog »binaural beats«, beschallt. Angeblich können damit rauschähnliche Zustände hervorgerufen werden, die an die Wirkung von Kokain erinnern sollen…

Von Richard Strauss (1864-1949) wird berichtet, dass er sich 1928 in einer Frankfurter Klinik einer Nasenscheidewandoperation unterziehen musste. Zur örtlichen Betäubung wurden ihm, wie damals üblich, zwei mit Kokain getränkte Wattebäusche in die Nasenlöcher geschoben. Dies hatte musikalische Konsequenzen. Als nämlich sein Arzt nach der Operation zur Visite erschien, war Richard Strauss eifrig am Komponieren. Krankenzimmer und Bett waren mit Notenblättern übersät. Der Komponist hatte gerade zwei der schönsten Arien für seine Oper »Arabella« beendet (»Aber der Richtige, wenn’s einen gibt für mich auf dieser Welt« sowie »Und du wirst mein Gebieter sein«). »Das Zeug« habe ihn »ganz munter gemacht«, so Richard Strauss über das Kokain und zu seinem Arzt gewandt soll er hinzugefügt haben: »Die Nachwelt wird Sie dafür verantwortlich machen« (Der Spiegel 17/1978).

Seltener als in der Musik findet man das Sujet Kokain in der Malerei. Berühmt geworden sind die Werke von Otto Dix, der die kokainverderbte Halb- und Nachkriegswelt der 1920er Jahre in seinen Bildern festgehalten hat. So z. B. sein »Portrait der Tänzerin Anita Berber« (1925): Es zeigt die berühmteste »Kokain-Kokotte« der 20er Jahre, die für ihren exzessiven Konsum berüchtigt war. Dix malte sie drei Jahre vor ihrem frühen Tod im enganliegenden Kleid, mit verlebten Augen, roten Haaren, spitzem Mund und kalkweißem Gesicht. Das ganze Bild leuchtet in obszönem Bordellrot.

Kokain, Prostitution und Malerei waren auch die Stichworte, die Jörg Immendorf 2003 in die Schlagzeilen brachte. Nach seinem Tod fragte sich die Kunstwelt, wie viele seiner zuletzt fabrikmäßig hergestellten Gemälde tatsächlich von ihm selbst stammten und bei wie vielen es sich vielleicht um »Werkstattkopien« handelte, mit denen er seine Kokainpartys finanzierte.

Am häufigsten findet man das Sujet Kokain in der Literatur. Zwei der bekanntesten Beispiele dafür sind die Gedichte »Cocain« und »Oh Nacht« des Arztes und Lyrikers Gottfried Benn (1886-1956):

Cocain (Gottfried Benn 1917)

Den Ich-Zerfall, den süßen, tiefersehnten,

Den gibst Du mir: schon ist die Kehle rau,

Schon ist der fremde Klang an unerwähnten

Gebilden meines Ichs am Unterbau.

Nicht mehr am Schwerte, das der Mutter Scheide

Entsprang, um da und dort ein Werk zu tun

Und stählern schlägt –: gesunken in die Heide,

Wo Hügel kaum enthüllter Formen ruhn!

Ein laues Glatt, ein kleines Etwas, Eben-

Und nun entsteigt für Hauche eines Wehns

Das Ur, geballt, Nicht-seine beben

Hirnschauer mürbesten Vorübergehns.

Zersprengtes Ich – o aufgetrunkene Schwäre –

Verwehte Fieber – süß zerborstene Wehr –:

Verströme, o verströme Du – gebäre

Blutbäuchig das Entformte her.

O Nacht (Gottfried Benn 1916)

O Nacht! Ich nahm schon Kokain

Und Blutverteilung ist im Gange,

das Haar wird grau, die Jahre fliehn,

ich muss, ich muss im Überschwange

noch einmal vorm Vergängnis blühn.

(Gedichte aus: Gottfried Benn. Sämtliche Gedichte. Klett-Cotta, Stuttgart 1998.)

Die beiden Gedichte kündigten die große Kokainwelle der 1920er Jahre an, über die Carl Zuckmayer (1896-1977) schrieb: »Das Koksen war […] große Mode. Man hielt das Laster für interessant oder geniehaft […]. Ich selbst habe mich, obwohl in meiner Umgebung zeitweise das Kokain eimer- und mehlsacksweise verschnupft wurde, nie damit eingelassen. Mir war das ekelhaft, schon wegen der entzündeten Nasenlöcher«.

Der große »Skandalroman« der 1920er Jahre, der dies literarisch verarbeitete und der seine Schatten bis in die heutige Zeit wirft, war Pitigrillis »Kokain«. Dino Segre, ein 1893 in Turin geborener promovierter Jurist, Zeitungskorrespondent und Redakteur, veröffentlichte seinen Roman »Kokain« (Cocaina: romanzo) im Jahre 1922 unter dem Pseudonym Pitigrilli. Er lässt darin seinen Romanhelden im Pariser Halbweltmilieu der 20er Jahre die Wirkung von Kokain am eigenen Leib erfahren: »Als er das weiße Pulver durch die Nase einsog, hatte er die Empfindung einer aromatischen Erfrischung, als verflüchtigten sich ihm in der Kehle ätherische Öle aus Thymian und Zitrone. Einige winzige Teilchen, die durch die Nase ihm hinten in den Mund kamen, verursachten ein leichtes Brennen im Hals und einen bitteren Geschmack auf der Zunge […]. Ah, da kam es: ein Kältegefühl an der Nase, eine Lähmung inmitten des Gesichts; die Nase war völlig unempfindlich, sie existierte nicht mehr.« Unter dem Einfluss von Kokain erlebt der Romanheld allerlei sexuelle Eskapaden und Orgien, bis er sich am Ende selbst das Leben nimmt. Das Buch wurde mehrfach verboten, was seine Popularität ungeheuer steigerte, und bis heute ist die Kennzeichnung »Skandal-Roman« geläufig. Rainer Werner Fassbinder plante, das Buch zu verfilmen und Frank Castorf nahm es 2004 als Vorlage für seine Inszenierung von »Kokain« auf der Berliner Volksbühne.

Bis heute bleibt das Thema »Kokain« ein wiederkehrendes literarisches Sujet. Eine Anthologie mit Anspruch auf Vollständigkeit kann hier nicht geboten werden, aber einige bemerkenswerte Beispiele sind: »Annerl – Roman des Kokains« von Max Brod (1936), »Roman mit Kokain« des russischen Schriftstellers Mark Lasrewitsch Levi, der 1936 in Paris unter dem Pseudonym »M. Agejew« veröffentlicht wurde, »Was ich davon halte« von Eckart Nickel (2000) sowie zwei Bücher von Konstantin Wecker: »Und die Seele nach außen kehren – Ketzerbriefe eines Süchtigen« (1983) und »Uferlos« (2009).

In den 1990er Jahren schrieb der amerikanische Novellist und Essayist William S. Burroughs in seinem (zunächst verbotenen) Kult-Roman »Naked Lunch«: »A brain loaded with cocaine is a crazy pinball machine, whose blue and red lamps flash on and off in an electric orgasm« (Burroughs 1951).

In Joachim Lottmanns satirischer Romangroteske: »Endlich Kokain« greift die Hauptfigur zu einer radikalen Methode gegen ihre enorme Fettleibigkeit. Als der frühpensionierte Journalist erfährt, dass er nur noch wenige Jahre zu leben habe, setzt er sich selbst auf eine »Kokain-Diät«. Und mit jedem Pfund, das er verliert, verändert sich sein Charakter…

In Bettina Gundermanns Debutroman »lines« (2001) dreht sich alles um eine weiße Linie. Es geht »um die relativ kurzen Lebenslinien der Konsumenten, erzählt aus der Perspektive eines bekoksten Mannes, der sich als Zauberer mit spitzem Hut vorstellt« (Verna 2001). In Ich-Form schnüffelt sich der Erzähler entlang einer weißen Linie und erzählt dabei »von Süchtigen, die Kinder kriegen und sterben, von den Kindern der Süchtigen, die im Nonnenheim landen oder im Müllcontainer und zunächst überleben, von Selbstmörderinnen, die ebenfalls zunächst überleben, aber nur halb.« (Verna 2001a).