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New York Times-Bestsellerautor

STEVEN KOTLER &
JAMIE WHEAL

Stealing Fire

Spitzenleistungen aus dem Labor:
Das Geheimnis von Silicon Valley,
Navy Seals und vielen mehr

Mit einem Vorwort von Christian Angermayer

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Stealing Fire: How Silicon Valley, the Navy SEALs, and Maverick Scientists
Are Revolutionizing the Way We Live and Work

ISBN 978-0-06-242965-0

Copyright der Originalausgabe 2017:

Copyright © 2017 by Steven Kotler and Jamie Wheal.

All rights reserved.

Published by arrangement with Dey Street Books,
an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

Copyright der deutschen Ausgabe 2018:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Hubert Mania

Gestaltung Cover: Johanna Wack

Gestaltung, Satz und Herstellung: Martina Köhler

Lektorat: Egbert Neumüller

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-561-8

eISBN 978-3-86470-562-5

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks,
der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken
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Für Julie, Lucas und Emma, sine qua non.

– J.W.

Für William James, der es zuerst erkannte

– S.K.

INHALT

Vorwort von Christian Angermayer

Einführung

Die unendliche Geschichte

Der unabsichtliche Prometheus

ERSTER TEIL:
DAS PLÄDOYER FÜR EKSTASE

Kapitel Eins: Was ist dieses Feuer?

Der Schalter

Die hohen Kosten für Ninja-Attentäter

Google geht angeln

Sich in die Ekstase hacken

Mind Gym

Die Ökonomie der veränderten Bewusstseinszustände

Kapitel Zwei: Warum sie es wert sind

Der Botschafter der Ekstase

Selbstvergessenheit

Zeitlosigkeit

Mühelosigkeit

Vielfalt

Ausgezeichnete Lösungen für schwerwiegende Probleme

Kapitel Drei: Warum wir es verpasst haben

Jenseits des Zauns

Der Zaun der Kirche

Der Zaun des Körpers

Der Zaun des Staates

Rattenfänger, Kulte und Kommunisten

ZWEITER TEIL:
DIE VIER KRÄFTE DER EKSTASE

Kapitel Vier: Psychologie

Die Wandlung übersetzen

Wenn dein Stündlein schlägt

Mad Men

Das Abartige wird salonfähig

Gut gegen deine Schmerzen

Von veränderten Zuständen zu veränderten Charakterzügen

Kapitel Fünf: Neurobiologie

Außerhalb des Glases

Ich fühle mein Gesicht nicht mehr

Die KI-Seelenklempnerin

Die Vorkenntnis ist da (aber das wussten Sie ja schon)

Der Ursprung der Neurotheologie

Von OS zu UI

Kapitel Sechs: Pharmakologie

Everybody must get stoned

Der Schöpfer neuer Psychedelika

Dies ist Ihr Gehirn auf Drogen

Das Hyperraum-Lexikon

Die Moleküle der Begierde

Kapitel Sieben: Technologie

Deans dunkles Geheimnis

Wenn der Bass in der Brust wummert

Der digitale Schamane

Erleuchtungstechnik

Das Flow-Dojo

DRITTER TEIL: DER WEG NACH ELEUSIS

Kapitel Acht: Feuer fangen

Der Sandkasten der Zukunft

Wenn der Damm bricht

Aus dem Konzept gebrachte Brahmanen

Die Mittelschicht wird high

Nichts Neues unter der Sonne

Kapitel Neun: Das Haus niederbrennen

Der atomare Esel

Wer kontrolliert den Schalter?

Von Schnüfflern zu Irren

Soma, köstliches Soma

Die Ekstase will frei sein

Kapitel Zehn: Hedonistische Technik

„Bekannte Probleme“ mit STER

Selbstvergessenheit: Es geht nicht um Sie

Zeitlosigkeit: Es geht nicht um das Jetzt

Mühelosigkeit: Seien Sie kein Glücksjunkie

Vielfalt: Tauchen Sie nicht zu tief

Die Ekstase-Gleichung

Hedonistischer Kalendereintrag

Da ist ein Riss in allem

Schluss

Ein Boot, das fliegen kann?

Ein nachträglicher Einfall

Dank

Kurze Anmerkungen zu Insider-Begriffen

Anmerkungen

Über die Autoren

VORWORT

Liebe Leser,

machen Sie einmal folgenden Test: Fragen Sie zehn Freunde, was ihnen im Leben wichtig ist, und Sie werden verschiedene Antworten bekommen: Freunde, Familie, Geld, Anerkennung et cetera. Geben Sie sich aber dann nicht mit den Antworten zufrieden, sondern fragen Sie weiter. WARUM ist Ihren Freunden die Familie wichtig. WARUM Geld, WARUM Anerkennung. Wenn Sie lange genug „warum“ fragen, werden alle das Gleiche sagen: weil sie glücklich sein wollen.

Glücklich zu sein – und damit meine ich nicht das kurzfristige, oberflächliche Glück, sondern ein tief anhaltendes Gefühl, dass alles in einem selbst und um einen herum im Lot ist – ist der ultimative Wunsch eines jeden Menschen. Doch leider haben die meisten modernen, westlichen Kulturen es verlernt, den Menschen Wege aufzuzeigen, dies auch zu erreichen. Und die großen Religionen haben das Eintreten tiefen Glücklichseins zusammen mit wahrer Spiritualität aus machtpolitischen Gründen vom Diesseits ins Jenseits verbannt.

Die wichtigste Voraussetzung zum Glücklichsein ist die Selbsterforschung. Nur wenn man weiß, was man im Leben wirklich will und was einem wirklich wichtig ist, kann man sein Leben auch danach ausrichten. Doch auch hier versagt unsere Kultur: Anstatt jungen Menschen Werkzeuge an die Hand zu geben, die ihnen helfen zu erforschen, was sie wirklich aus tiefstem Herzen wollen, lernen die meisten Menschen schon von Kindesbeinen an, was ANDERE von ihnen wollen und erwarten.

Ein Schlüssel zur Selbsterkenntnis in allen spirituellen Kulturen und Religionen ist „Ekstase“, das Heraustreten aus sich selbst, das Zurücklassen des Egos, sodass der Blick frei wird auf das große Ganze.

„Stealing Fire“ gibt dem Leser verschiedene Werkzeuge an die Hand, um diese „Ekstase“ zu erreichen. Einige davon mögen gewagt klingen, doch ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung versprechen: Sie werden Ihr Leben mehr als bereichern und den Weg zu wahrem Glück eröffnen.

– Christian Angermayer

Christian Angermayer ist Unternehmer und Investor und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema „Glück“ aus den verschiedensten Perspektiven. Er ist Produzent von „Hectors Reise oder Die Suche nach dem Glück“, basierend auf dem gleichnamigen Millionen-Bestseller, und Lead Investor zusammen mit Peter Thiel und Mike Novogratz in COMPASS Pathways. COMPASS Pathways befindet sich in fortgeschrittenen klinischen Studien zur Behandlung von therapieresistenter Depression mit Psilocybin, dem aktiven Wirkstoff in „Magic Mushrooms“.

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EINFÜHRUNG

Die unendliche Geschichte

Manche Revolutionen fangen mit einem Gewehrschuss an, andere mit einer Feier. Diese hier1 wurde an einem Freitagabend des Jahres 415 v. u. Z. mitten in Athen angezettelt. Alkibiades, ein berühmter griechischer General2 und Politiker, hatte ein paar Freunde zu einer Feier in seine Villa eingeladen, die sich zu einem der anrüchigsten Exzesse aller Zeiten entwickeln sollte. Eingehüllt in den gestohlenen Ornat eines Hohepriesters rauschte Alkibiades die Marmortreppe herab, murmelte eine verbotene Beschwörung und brachte eine kunstvoll verzierte Weinkaraffe zum Vorschein. Sorgfältig goss er jedem Gast einen kleinen Schluck einer dunklen Flüssigkeit ins Glas. Ein paar Worte noch, übermütiges Gelächter, und jeder leerte sein Glas.

Kaum eine Stunde später setzte die Wirkung ein. „Schrecken, Zittern, Angst, Schweiß und Staunen“,3 berichtete der Historiker Plutarch später. „Danach aber tritt ihr ein wunderbares Licht entgegen; reine Orte und Wiesen nehmen sie auf, wo es Stimmen und Tänze und erhabene, heilige Offenbarungen und heilige Erscheinungen gibt.“

Als die Sonne aufging, waren die Visionen verflogen, aber im Alltag setzten die Nachwirkungen ein. Die illegale Feier des Alkibiades hatte eine Kette von Ereignissen ausgelöst, die ihn zwangen, aus Athen zu fliehen, einem Todesurteil zu entgehen, seine Regierung zu verraten und den Prozess und die Hinrichtung seines geliebten Lehrers Sokrates in Gang zu setzen.

Alkibiades war bekanntlich gutaussehend, redegewandt und ehrgeizig, seine Fehler waren so zahlreich wie seine Talente. Er bot Sokrates Sex im Austausch für die tiefsten Geheimnisse des Philosophen an. Bevor sich seine Frau wegen seiner Affären von ihm scheiden lassen konnte, zerrte er sie an ihren Haaren aus dem Gerichtssaal. Auf politischer Ebene spielte er beide Flügel gegen die Mitte aus, und treu war er nur seiner eigenen Karriere. Als daher seine Rivalen Wind von dem skandalösen Abend bekamen, verpfiffen sie ihn beim höchsten Athener Gericht wegen des Diebstahls von kykeon, des heiligen Elixiers, das er mit seinen Gästen geteilt hatte. Er wurde in Abwesenheit für ein Verbrechen verurteilt, das mit dem Tod bestraft wurde – er hatte die Mysterien gelästert.

Und nicht irgendwelche Mysterien, sondern die eleusinischen Mysterien,4 ein zweitausend Jahre altes Initiationsritual, das enorme Auswirkungen auf die westliche Philosophie hatte und einige der berühmtesten griechischen Bürger zu ihren Auserwählten zählte. Grundlegende Vorstellungen wie die platonischen Körper und die Sphärenmusik des Pythagoras waren durch diese Rituale angeregt worden. „Unsere Mysterien hatten eine ganz reale Bedeutung“,5 erklärte Platon, „dass … der Gereinigte aber und Geweihte, wenn er dort angelangt ist, bei den Göttern wohnt“. Cicero ging noch weiter6 und nannte diese Rituale den Höhepunkt der griechischen Errungenschaften: „Denn dein Athen scheint mir viel Hervorragendes und Göttliches erzeugt und in das Leben der Menschen hineingebracht zu haben, vor allem aber jene unübertrefflichen Mysterien, durch die wir … die Grundlagen des Lebens kennengelernt und die Möglichkeit nicht nur eines Lebens in Freude, sondern auch eines Sterbens in der Hoffnung auf ein besseres Leben bekommen haben.“

In zeitgemäßerer Sprache ausgedrückt waren die Eleusinischen Mysterien ein ausgeklügeltes neuntägiges Ritual, das dazu bestimmt war, die gewohnten Bezugsrahmen hinter sich zu lassen, das Bewusstsein nachhaltig zu verändern und ein erhöhtes Erkenntnisniveau zu erreichen. Zu den Mysterien gehörte vor allem eine Reihe zustandsverändernder Techniken – Fasten, Singen, Tänze, Trommeln, Kostüme, dramatisches Erzählen, körperliche Erschöpfung und eben Kykeon (die Substanz, die Alkibiades für seine Feier stahl) – um eine kathartische Erfahrung von Tod, Wiedergeburt und „göttlicher Inspiration“ herbeizuführen.

So überwältigend war die Erfahrung und so bedeutungsvoll waren die Erkenntnisse, dass die Mysterien länger als zweitausend Jahre Bestand hatten. Ein weniger wichtiges Ritual wäre verpufft oder zumindest zu einer leeren Geste geraten, ohne seine ursprüngliche Kraft aufrechtzuerhalten. Eleusis, so sagen uns die Historiker, überdauerte aus einigen wesentlichen Gründen Zeit und Turbulenzen. Erstens bewahrten die Eingeweihten das Rätsel des Mysteriums – eines seiner Geheimnisse zu verraten, wie Alkibiades es tat, galt als Kapitalverbrechen. Und zweitens haute einen das Kykeon, diese dunkle Flüssigkeit im Zentrum des Rituals, aus den Socken.

Für Anthropologen ist die Aufklärung der Bestandteile des Kykeon zu einer Art Suche nach dem Heiligen Gral geworden. Es nimmt denselben Rang ein wie die Entschlüsselung von soma, des uralten indischen Sakraments, das Aldous Huxley zu der Glücksdroge in seinem Roman „Schöne neue Welt“ anregte. Der Schweizer Chemiker Albert Hofmann7 und der in Harvard ausgebildete Altphilologe Carl Ruck haben behauptet, dass die Gerste im Kykeon mit einem Mutterkornpilz angereichert gewesen sein könnte. Derselbe Pilz erzeugt Lysergsäure, eine Vorstufe zu LSD, das Hofmann bekanntermaßen im Sandoz-Labor künstlich herstellte. Wird Mutterkorn unabsichtlich konsumiert,8 löst es Wahnvorstellungen, ein Prickeln in den Gliedmaßen und Halluzinationen aus, Empfindungen, die als „Antoniusfeuer“ bekannt sind. Nimmt man es vorsätzlich und im Rahmen eines intensiven Initiationsrituals ein, hat man alle Bestandteile einer höchst wirksamen Ekstasetechnik zur Verfügung – so wirksam (und vermutlich so angenehm), dass Alkibiades bereit war, sein Leben zu riskieren, um es für eine Feier zu stehlen.

Daraus lässt sich schließen: Soweit wir die westliche Zivilisation zurückverfolgen können, finden wir, versteckt in den Geschichten, die Schüler schon immer zu Tode gelangweilt haben, Erzählungen über rebellische Emporkömmlinge, die willens sind, für einen veränderten Bewusstseinszustand alles in die Waagschale zu werfen. Und das ist ganz und gar kein isoliertes Ereignis, sondern lediglich ein früher Hinweis auf ein beständiges Muster unter der Oberfläche der Menschheitsgeschichte, verschüttet unter den Namen und Zeitangaben, die wir so gut kennen.

Im Mittelpunkt dieser Dynamik steht der Mythos des Prometheus.9 die Geschichte des ursprünglichen rebellischen Emporkömmlings, der den Göttern das Feuer stahl und es der Menschheit schenkte. Und er stahl nicht einfach bloß eine Schachtel Streichhölzer, sondern auch die Macht, eine Zivilisation zu begründen: Sprache, Kunst, Medizin und Technik. Erzürnt darüber, dass die Sterblichen nun dieselbe Macht wie die Götter besaßen, legte Zeus Prometheus in Ketten, schmiedete ihn an einem Felsen fest und ließ Adler kommen, die ihm für alle Zeiten seine Eingeweide herausreißen.

Diese Geschichte hat sich durch die Zeitalter hindurch laufend wiederholt. Typischerweise stiehlt ein Rebell, Sucher oder Betrüger (Trickster) den Göttern das Feuer. Das kann die Form einer wirkungsvollen festlichen Zeremonie, einer ketzerischen neuen Schrift, einer obskuren spirituellen Praxis oder einer geheimen, zustandsverändernden Technik annehmen. Was es auch sein mag, der Rebell schmuggelt die Flamme aus dem Tempel heraus und teilt sie mit der Welt. Es funktioniert. Es wird aufregend. Erkenntnisse häufen sich an. Schließlich und unausweichlich läuft die Feier aus dem Ruder. Die Hüter von Gesetz und Ordnung – nennen wir sie Priester – erspähen das hedonistische Aufflammen, spüren den Dieb auf und machen den Laden dicht. Und so geht es weiter, bis der nächste Zyklus beginnt.

„Stealing Fire“ ist die Geschichte der aktuellen Runde in diesem Zyklus, und vielleicht haben wir ja zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Aussichten auf ein anderes Ende. Es ist die Geschichte einer völlig neuen Art prometheischer Emporkömmlinge – Manager aus dem Silicon Valley, Mitglieder der amerikanischen Spezialeinheiten, um nur einige zu nennen –, die Ekstasetechniken anwenden, um ihr Bewusstsein zu verändern und ihre Leistung zu steigern. Und das Verrückteste daran? Es ist eine Revolution, die sich in aller Öffentlichkeit verbirgt.

Der unabsichtliche Prometheus

Sollte es zu einer Revolution gehören, dass man ihr über den Weg läuft, dann waren wir es – Ihre Autoren Steven und Jamie – die vor ein paar Jahren darüber stolperten. Und ganz ehrlich, wir hätten es eigentlich kommen sehen müssen.

Und zwar weil wir beim Flow-Genomprojekt10 die Beziehung zwischen veränderten Zuständen und Spitzenleistungen untersuchen und uns dabei auf die Erfahrung konzentrieren, die Flow genannt wird. Dieser Begriff wird als „der optimale Bewusstseinszustand“ definiert, „in dem wir uns am wohlsten fühlen und das Beste leisten können“. Flow bezieht sich auf jene Augenblicke „in der Zone“, wo die Konzentration so intensiv wird, dass alles andere verschwindet. Handlung und Achtsamkeit beginnen zu verschmelzen. Unser Selbstgefühl verschwindet. Unser Zeitgefühl ebenfalls. Und sämtliche Aspekte geistiger und körperlicher Tätigkeit schnellen in die Höhe.

Wissenschaftlern war seit mehr als hundert Jahren die Beziehung zwischen Flow und Spitzenleistung bekannt,11 aber ein wirkliches Verständnis dafür ist erst langsam gereift. Das Hauptproblem waren entgegengesetzte Motivationen. Diejenigen, die gut in den Flow hineinfanden, zumeist Künstler und Sportler, waren selten daran interessiert, ihn zu analysieren. Und diejenigen, die an einer Untersuchung des Flows interessiert waren, nämlich hauptsächlich Akademiker, schafften es nur selten, in ihn hineinzukommen.

Wir gründeten das Flow-Genomprojekt als Versuch, dieses Problem zu lösen. Unser Ziel war ein multidisziplinärer Ansatz, um die Neurobiologie des Flows zu kartieren und anschließend quelloffene Ergebnisse zu präsentieren. Doch um dies tun zu können, mussten wir eine gemeinsame Sprache für diese Zustände finden. Deshalb schrieb Steven „The Rise of Superman“, ein Buch über die Neurowissenschaft von Spitzenleistung und Abenteuersportarten.

Nach der Veröffentlichung des Buches kamen wir mit grundverschiedenen Leuten ins Gespräch. Anfangs waren es Begegnungen mit Einzelpersonen und Organisationen – beispielsweise Profisportler und Angehörige des Militärs –, die ein persönliches Interesse am Konkurrenzkampf hatten, bei dem viel auf dem Spiel steht. Doch bald öffneten wir uns auch für Fortune 500-Unternehmen, für Finanzgesellschaften, Technologiefirmen, Gesundheitsdienstleister und Universitäten. Die Vorstellung, dass ungewöhnliche Bewusstseinszustände die Leistung verbessern konnten, sickerte aus dem Milieu der Extremfälle in den Mainstream hinein.

Doch was unsere Aufmerksamkeit wirklich erregte, waren die Gespräche, die wir nach solchen Präsentationen führten. Bei zahllosen Gelegenheiten zogen uns Leute beiseite, um uns von ihren heimlichen Experimenten mit „Ekstasetechnologien“12 zu erzählen. Wir lernten hochrangige Militärs kennen, die sich in die Abgeschiedenheit monatelanger Meditationskurse begaben, Wall-Street-Händler, die ihr Gehirn mit Elektroden aufbrezelten, Strafverteidiger, die sich einen Vorrat an nicht rezeptpflichtigen Pharmazeutika zulegten, berühmte Gründer von Tech-Firmen, die transformatorische Festivals besuchten, und Ingenieurteams, die mikrodosierte Psychedelika schluckten. Mit anderen Worten, wohin wir auch kamen, irgendjemand versuchte immer, das Kykeon zu klauen.

Jetzt wollten wir genau wissen, woher dieser Trend stammte und wie die führenden Personen ihre geistigen Zustände veränderten, um ihre Leistung zu erhöhen. Und so machten wir uns auf die Spur dieser prometheischen Menschen von heute. Im Laufe der vergangenen vier Jahre haben wir die ganze Welt bereist:13 Wir haben das Team Six der SEALs in Virginia Beach besucht, den Googleplex in Mountain View, das Festival Burning Man in Nevada, Richard Bransons Refugium in der Karibik, luxuriöse Datschen am Stadtrand von Moskau. Wir waren in der Firmenzentrale von Red Bull in Santa Monica, bei Nikes Innovationsteam in Portland, auf der Bio-Hacking-Konferenz in Pasadena und haben uns in New York mit Beratern der Vereinten Nationen zum Abendessen verabredet. Und die Geschichten, die wir hörten, haben uns verblüfft.

Jede dieser Gruppen hat auf ihre ganz eigene Weise mit unterschiedlichen Sprachen, Techniken und Anwendungen in aller Stille dasselbe angestrebt: erhöhten Informationsfluss und gesteigerte Inspiration, die mit veränderten Bewusstseinszuständen einhergehen. Sie kultivieren diese Zustände mit Absicht, um entscheidende Herausforderungen zu bewältigen und ihre Konkurrenz hinter sich zu lassen. Hier geht es nicht nur um Rückgrat oder bessere Angewohnheiten oder Überstunden, die die Besten vom Rest trennen. Hört man diesen Pionieren zu, dann sind es die Erkenntnisse, zu denen sie in solchen Zuständen gelangen, die den Unterschied ausmachen. Doch im Gegensatz zu früheren Zeiten, als Zurückhaltung geboten war, sprechen sie jetzt offener über ihre Abenteuer. Die Ekstatiker verlassen ihre Klausen.

Betrachtet man all diese Erfahrungen in ihrer Gesamtheit, dann sieht es wie der Anfang eines prometheischen Aufstands aus. Die Fortschritte in Wissenschaft und Technik verschaffen uns einen nie da gewesenen Zugang zum oberen Bereich menschlicher Erfahrungen und vermitteln uns Erkenntnisse über deren Inhalte, das wohl umstrittenste und am meisten missverstandene Territorium schlechthin. Auf der ganzen Welt machen Nachtschwärmer, Soldaten, Wissenschaftler, Künstler, Unternehmer, Techniker und Wirtschaftsbosse diese Erkenntnisse für ein gemeinsames Ziel nutzbar: für einen flüchtigen Blick über den Horizont hinaus. Früher waren sie auf sich allein gestellt, dann nahm ihre Zahl zu, und mittlerweile gibt es sie, wenn man weiß, wo man hinschauen muss, überall. Wir sind Zeugen einer Grundströmung, einer wachsenden Bewegung, die den Himmel stürmen und das Feuer stehlen will. Es ist eine Revolution des menschlichen Potenzials.

Und in diesem Buch geht es um diese Revolution.

Erster Teil

Das Plädoyer für Ekstase

Die Alternative ist die Gedankenlosigkeit,1
die Standardeinstellung, die Tretmühle – das ständige Nagen,
etwas Unendliches gehabt und verloren zu haben
.

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KAPITEL EINS

WAS IST DIESES FEUER?

Der Schalter

Eines der größten Probleme eines Navy SEALs2 ist es nicht, zu wissen, wann er schießen muss, sondern zu wissen, wann er nicht schießen soll. Und wir wissen auch, warum. Man sperre ein Dutzend Kerle in ein dunkles Zimmer und drücke jedem eine automatische Waffe in die Hand. Irgendeiner wird blinzeln. Oder zucken. Und dann geht’s los. Deshalb war die Gefangennahme von Al-Wazu3 eine solche Herausforderung, denn die SEALs mussten ihn unbedingt lebend fangen.

Es war Ende September 2004 auf einer vorgeschobenen Operationsbasis im nordwestlichen Zipfel von Afghanistan. Ein paar Dutzend Mitglieder der Eliteeinheit SEAL Team Six oder, in dem von ihnen bevorzugten Jargon, DEVGRU, waren hier stationiert, um Informationen zu sammeln und Einsätze vorzubereiten. Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte ein Funker eine Zunahme der Gespräche über Wazu bemerkt. Vielleicht versteckte er sich in den Wäldern südlich von ihnen. Möglicherweise hielt er sich in den Bergen auf, nördlich von ihnen. Dann wurden aus den Gerüchten Tatsachen. Wazu war tatsächlich in den Wäldern und in den Bergen, versteckt in einem Gebirgswald, gut hundert Kilometer westlich ihrer augenblicklichen Position.

Für die SEALs war das keine gute Nachricht. Das Terrain im Westen war eine Hochwüste – einsam, öde und rau. Keine ausreichende Deckung für einen Tarneinsatz. Unter diesen Umständen gab es keine Möglichkeit, ohne ein Feuergefecht hereinzukommen – keine Garantie, Wazu lebendig gefangenzunehmen.

Obwohl er früher nur ein Akteur der mittleren Ebene war, hatte sich Al-Wazus schlechter Ruf wie Donnerhall verbreitet, nachdem er ein Kunststück fertiggebracht hatte, das keinem anderen Al-Quaida-Agenten je gelungen war: den Ausbruch aus einem amerikanischen Untersuchungsgefängnis. Diese einzigartige Tat katapultierte ihn unter die obersten Ränge der Organisation und brachte ihm einen Trupp engagierter Anhänger ein sowie die allergrößte Ehre für einen Dschihadisten überhaupt: einen persönlichen Empfehlungsbrief von Osama bin Laden.

Seitdem war Wazu mit Rekrutierungen, Überfällen und Morden schwer beschäftigt gewesen. Deshalb brauchten die SEALs ihn lebendig. Sein Wert als Informationsquelle hatte sich vervierfacht. In seinem Kopf steckte genug Wissen, um den größten Teil der verbliebenen Zellen in der Region auffliegen zu lassen. Obendrein wollten die SEALs eine Botschaft senden.

Und an diesem Tag im September erhielten sie ihre Chance. Der Funkspruch traf am Nachmittag ein: Al-Wazu war unterwegs. Er hatte die Wälder verlassen und war von den Bergen herabgestiegen. Er bewegte sich direkt auf sie zu.

Für die SEALs veränderte das alles. Mit einem beweglichen Ziel vervielfachten sich die Variablen exponentiell. Jetzt konnte alles passieren. Das Team kam zusammen und analysierte den Einsatz genauestens. Notfallpläne wurden besprochen und Details dem Gedächtnis anvertraut. Es wurde Abend, und die Nacht brach herein.

Bis zum Morgengrauen hatten sie nur noch fünf Stunden, und das Ziel war immer noch nicht aufgekreuzt. Die SEALs brauchten die Dunkelheit. Tagsüber wurde der Einsatz viel komplizierter. Mehr Leute waren auf den Beinen, der Verkehr auf den Straßen nahm zu, und es gab einfach zu viele Möglichkeiten für einen Verdächtigen, in einer Menschenmenge zu verschwinden.

Doch endlich hatten sie ihn, nach all dem Warten, plötzlich ausgemacht. Al-Wazu hatte angehalten. Es war nur noch ein paar Stunden lang dunkel, und die SEALs konnten ihr Glück kaum fassen. Er hielt sich weniger als eineinhalb Kilometer von ihrer momentanen Position versteckt – sie konnten buchstäblich zu Fuß zum Einsatzort gehen.

Kommandeur Rich Davis (aus Sicherheitsgründen ist das nicht sein wirklicher Name) war sich jedoch nicht sicher, ob das wirklich so ein Glück war. Als Leiter der Einheit wusste er, wie sehr seine Männer darauf brannten, Al-Wazu zu schnappen. Sie waren angespannt. Eineinhalb Kilometer Fußmarsch war so gut wir gar nichts. Davis hätte einen dreistündigen Gewaltmarsch bergauf bevorzugt. Drei Stunden würden sie nicht ermüden, aber womöglich beruhigen. Ihre Konzentration stärken. Ihnen vielleicht helfen, zu verschmelzen.

Die Griechen hatten ein Wort4 für dieses Verschmelzen, das Davis gefiel – Ekstase – den Akt, „über sich selbst hinauszuwachsen“. Davis hatte aber auch sein eigenes Wort dafür. Er sprach von dem „Schalter“, von dem Augenblick, wenn sie keine eigenständigen Männer mehr waren mit eigenem Leben und Ehefrauen und Dingen, die ihnen etwas bedeuteten. Vom Augenblick, wenn sie, tja, es war gar nicht so einfach, das zu erklären – aber irgendetwas passierte definitiv da draußen.

Platon beschrieb Ekstase als einen veränderten Zustand, wenn unser normales Wachbewusstsein vollständig verschwindet und durch intensive Euphorie und eine starke Verbindung mit einer höheren Intelligenz ersetzt wird. Wissenschaftler von heute verwenden etwas andere Begriffe und Beschreibungen. Sie nennen die Erfahrung „Gruppen-Flow“. „[Es ist] ein Spitzenzustand“, erklärt Psychologe Keith Sawyer in seinem Buch „Group Genius“5, „eine Gruppe, die auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkeiten agiert. […] In Situationen rascher Veränderung ist es für eine Gruppe wichtiger denn je, imstande zu sein, Handlung und Achtsamkeit zu verschmelzen und sich durch Improvisation der Lage unmittelbar anzupassen.“

Wie auch immer die Beschreibung lauten mag, war der Schalter erst einmal umgelegt, war die Erfahrung für die SEALs unverkennbar. Sie handelten nicht mehr als Individuen, sondern fingen an, als ein Ganzes zu handeln – als eine einzige Einheit, als ein Schwarmdenken. In der gefährlich heißen Zone, in der sie ihren Job tun, ist dieses kollektive Gewahrsein, wie Davis sagt, „die einzige Möglichkeit, die Arbeit zu erledigen.“

Und ist das nicht merkwürdig? Das heißt doch, dass an dem fraglichen Abend während eines wichtigen Einsatzes jemanden gefangenzunehmen, aber nicht zu töten, ein veränderter Bewusstseinszustand das einzige war, was zwischen Al-Wazu und einem präventiven Doppelschuss in seine Brust stand. Als isolierte Individuen mit dem Finger am Abzug musste zwangsläufig irgendeiner zucken. Doch als Team, gemeinsam denkend und handelnd? Dabei wurde die Intelligenz erhöht und die Angst verringert. Das Ganze war nicht nur größer als die Summe seiner Teile, sondern auch schlauer und mutiger. Deshalb hoffte Kommandeur Rich Davis nicht nur, dass sie an diesem Abend den Schalter umlegten, sondern er rechnete fest damit.

„Mehr als auf jede andere Fähigkeit“, erklärt er, „verlassen sich die SEALs auf dieses Verschmelzen des Bewusstseins. In der Lage zu sein, diesen Schalter umzulegen – das ist das eigentliche Geheimnis eines SEALs.“

Die hohen Kosten für Ninja-Attentäter

Es kostet ungefähr 25.000 Dollar,6 einen Joe Normalverbraucher in einen kampfbereiten U.S.-Marine zu verwandeln. SEALs kosten inzwischen sehr viel mehr. Die Schätzungen für acht Wochen7 Navy-Grundausbildung, sechs Monate Unterwasserausbildung zum Kampfschwimmer, sechs Monate Arbeit an fortgeschrittenen Fähigkeiten sowie 18 Monate Zugausbildung vor dem ersten Einsatz – was alles erforderlich ist, um einen SEAL einsatzbereit zu machen – belaufen sich auf rund 500.000 Dollar pro Kopf. Das heißt, die Navy SEALs gehören zu den teuersten jemals zusammengestellten Frontkämpfertruppen.

Und das sind nur die Kosten für die Ausbildung von Feld-Wald-und-Wiesen-Ninjas. Um es in die Eliteeinheit DEVGRU zu schaffen, muss man sich zuerst in einigen anderen SEAL-Teams bewähren (von denen es insgesamt neun gibt). Da es ungefähr eine Million Dollar pro Jahr kostet8, einen Froschmann in Alarmbereitschaft zu halten, und diese Rotationen bis zu ihrem Abschluss einige Jahre beanspruchen, kommen weitere zweieinhalb Millionen Dollar zur Rechnung hinzu. Schließlich stehen noch ein paar zusätzliche Monate Geiselbefreiungstraining an, was die Spezialität von DEVGRU ist und pro Mann noch mal 250.000 Dollar kostet. Rechnet man das alles zusammen, dann waren die paar Dutzend Mann unter dem Kommando von Rich Davis, die SEAL-Einheit, die beauftragt war, Al-Wazu nur gefangenzunehmen und nicht zu töten, eine außergewöhnlich gut geölte, 85 Millionen Dollar teure Maschine.

Was bekommen also die amerikanischen Steuerzahler für ihr Geld?

Angemessen wäre es, mit der Arbeitsplatzbeschreibung selbst anzufangen, oder sagen wir lieber, mit ihrem Nichtvorhandensein. SEALs sind Multifunktionswerkzeuge. Auf ihrer offiziellen Website9 steht: „Für einen Navy SEAL gibt es keinen typischen ‚Büroalltag‘. SEALs lernen ständig dazu, verbessern und verfeinern ihre Fähigkeiten bei der Arbeit mit ihren Teamkameraden. Ihr Büro weist nicht nur über die Elemente Meer, Luft und Land hinaus, sondern überschreitet auch internationale Grenzen sowie geografische Extreme und meistert das gesamte Konfliktspektrum.“

Der technische Begriff, den die SEALs verwenden, um diese Umstände zu beschreiben, lautet VUCA – Volatile, Uncertain, Complex und Ambiguous (flüchtig, unbestimmt, komplex und mehrdeutig). Um diese Art von Chaos zu beherrschen, ist ein erstaunliches Niveau kognitiven Geschicks erforderlich. Rich Davis sagt dazu: „Das teuerste Element dieser ohnehin schon teuren Frontkämpfer sind die drei Pfund graue Substanz in ihrem Schädel.“

Normalerweise fällt uns so etwas nicht ein, wenn der Name SEALs fällt. Wenn es um diese Sondereinheit geht, glauben wir am besten zu wissen, wie hart deren Mitglieder ihre Körper trainieren, aber an ihren Geist denken wir dabei nicht. Nehmen wir zum Beispiel die Höllenwoche. So heißt der Beginn ihres berüchtigten Ausleseverfahrens. Das sind fünfeinhalb Tage ununterbrochener körperlicher Strapazen und radikalen Schlafentzugs – Maßnahmen, die regelmäßig Weltklasseathleten in die Knie zwingen. Doch selbst bei dieser Feuerprobe geht es mehr um das Gehirn als um den Körper. Wie Mark Divine, der Gründer von SEALFit,10 kürzlich der Zeitschrift Outside sagte: „Das Training ist darauf angelegt, die wenigen zu finden, die die mentale Zähigkeit haben, die nötig ist, um ein SEAL zu werden.“

Rückgrat“ ist der Begriff, den Psychologen verwenden, um diese mentale Zähigkeit zu beschreiben – ein Sammelbegriff für Leidenschaft, Ausdauer, Widerstandskraft und in einem bestimmten Ausmaß auch für die Fähigkeit zu leiden. Und obwohl dies stimmt – SEALS haben ein Wahnsinnsrückgrat – ist das nur ein Aspekt des Ganzen. Denn „Rückgrat“ bezieht sich hier nur auf die individuelle Zähigkeit, während das Geheimnis, zum SEAL zu werden, ganz und gar mit dem Team zu tun hat. „Auf jeder Ausbildungsstufe“, sagt Davis, „vom ersten BUD/S-Tag (Basis Underwater Demolition/SEALs; Grundausbildung zum Kampfschwimmer) bis zu ihrem letzten Tag in der DEVGRU sortieren wir die Kandidaten aus, die es nicht schaffen, ihr Bewusstsein zu verlagern und mit dem Team eins zu werden.“

An der Oberfläche klingt das natürlich lächerlich. „Ekstase“ ist das Bezugswort für „Ecstasy“, das, sobald man über die Anspielungen auf die Klubdroge hinwegsieht, einen zutiefst ungewöhnlichen Zustand beschreibt, eine Erfahrung weit jenseits unseres normalen Selbstgefühls und definitiv kein Begriff, der normalerweise mit Eliteeinheiten in Verbindung gebracht wird. Jedenfalls taucht er nicht in den Rekrutierungsbroschüren auf.

Dennoch ist alles, was wir als SEAL-Ausbildung in Betracht ziehen, in Wirklichkeit ein brutales Auslesesystem, bei dem es, abgesehen von den offensichtlichen taktischen Fähigkeiten und dem körperlichen Durchhaltevermögen, ausschließlich um eine einzige Sache geht: Wird ein Akteur mit dem Rücken zur Wand sich auf sich selbst verlassen oder mit seinem Team verschmelzen? Das ist der Grund, warum sie in der Grundausbildung so unnachgiebig den „Schwimmkumpel“ hervorheben (den Partner, den man niemals im Stich lassen darf, komme, was wolle). Deshalb haben sie sogar beim Einsatz in Afghanistan – wo es über Tausende von Kilometern hinweg kein einziges Gewässer gibt – noch ihre „Schwimmkumpel“. Wichtig ist auch, wie sie in dem legendären Tötungshaus die Guten von den Großartigen unterscheiden. Das ist ihr eigens entworfenes Gebäude, um Geiselbefreiungen zu trainieren, und wo beurteilt wird, ob die Teams in der Lage sind, sich millimetergenau als eine Einheit fortzubewegen und wo der Erfolg von einer nahezu übermenschlichen kollektiven Achtsamkeit abhängt.

„Wenn SEALs ein Gebäude stürmen“, sagt Rich Davis, „dann ist Langsamkeit gefährlich. Wir wollen uns so schnell wie möglich bewegen. Um das tun zu können, gibt es nur zwei Regeln. Die erste Regel besteht darin, genau das Gegenteil von dem zu tun, was der Typ vor dir macht – wenn der also nach links schaut, dann schaust du nach rechts. Die zweite Regel ist heikler. Die Person, die weiß, was als Nächstes anliegt, ist der Anführer. In dieser Hinsicht sind wir ganz und gar nichthierarchisch. Aber in einer Kampfumgebung, wenn es auf Sekundenbruchteile ankommt, darfst du nicht zaudern. Tritt jemand vor, um neuer Anführer zu werden, dann folgen ihm die anderen sofort und automatisch. Nur so können wir gewinnen.“

Diese „dynamische Unterordnung“, wo die Führung fließend ist und durch die Bedingungen am Boden bestimmt wird, ist die Grundlage für das Umlegen des Schalters. Und selbst in früheren Zeiten, als die Teamführer viel weniger davon verstanden als heute, hatte die Herbeiführung dieser Grundlage absolute Priorität. „Das Kastensytem der Navy11“, schrieb Richard Marcinko, der schillernde Gründer von Team Six, in seiner Autobiografie „Rogue Warrior“, „hat den Ruf, genauso streng zu sein wie jedes andere auf der Welt“. Um solche Trennungen zu vermeiden, ließ Marcinko das strikte Regelwerk der Marine außer Acht. Die SEALs verzichteten auf die üblichen Kleidervorschriften und auf die Trennung zwischen Offizieren und Mannschaften. Sie trugen, was sie wollten, und legten keinen großen Wert auf den militärischen Gruß untereinander. Außerdem kam unter seiner Führung eine äußerst bewährte Technik zur Förderung von Freundschaften zum Einsatz: das gemeinsame Besäufnis. Vor einem Einsatz lud er sein Team zu einer letzten Sauftour in eine Bar in Virginia Beach ein. Wenn es schwelende Spannungen zwischen Mitgliedern gab, dann kamen sie unweigerlich nach ein paar Drinks zur Sprache. Am nächsten Morgen hatten die Männer womöglich rasende Kopfschmerzen, aber sie hatten sich untereinander ausgesprochen und waren bereit, als nahtlose Einheit zu funktionieren.

Ob es nun in den Achtzigerjahren Marcinkos Ad-hoc-Lösungen für das Umlegen des Schalters waren oder eher Davis’ raffiniertere Ansätze von heute – ein entscheidendes Problem bleibt bestehen: die Fähigkeit, das Selbst auszuschalten und mit dem Team zu verschmelzen, ist ein außergewöhnliches und seltsames Talent. Aus diesem Grund haben sich die SEALs jahrzehntelang auf ein derart rigoroses Ausleseverfahren verlassen. „Würden wir das Phänomen wirklich verstehen“, sagt Davis, „dann könnten wir das trainieren und müssten die Kandidaten nicht aussieben.“

Leider ist dieser Ausleseprozess teuer und so gar nicht effizient. Fast 80 Prozent der SEAL-Kandidaten fallen durch. Dabei bleiben massenhaft fähige Soldaten auf der Strecke. Während es 500.000 Dollar kostet, einen SEAL erfolgreich auszubilden, belaufen sich die Kosten für gescheiterte Kandidaten auf zig Millionen Dollar pro Jahr. Natürlich scheitern manche Kandidaten bei taktischen Ausführungen – sie erschießen eine Pappgeisel im Tötungshaus oder lassen eine Waffe aus dem Hubschrauber fallen –, aber wesentlich mehr Männern gelingt es nicht, sich kollektiv aufeinander abzustimmen. Das sollte nicht überraschen, denn der Umgang mit Ekstase steht in keiner Felddienstvorschrift. Er ist ein weißer Fleck auf ihren Landkarten und geht über den Horizont der meisten Kartografen und der eher rational veranlagten Leute hinaus.

Doch für die SEALs, die damit beauftragt waren, Al-Wazu zu fangen, aber nicht zu töten, war diese Fähigkeit nicht jenseits des Vorstellbaren. Es war genau das, was da draußen nun mal geschah. Und an diesem späten Septemberabend passierte es ziemlich schnell.

„Der Schalter wurde in dem Augenblick umgelegt, als wir aufbrachen“, sagt Davis. „Ich konnte es spüren, aber ich konnte es auch sehen: Der unsichtbare Mechanismus rastete ein, wir marschierten aufeinander abgestimmt, und jeder Hintermann nahm einen anderen Fokus ein: einer links, der nächste rechts, während die Rückendeckung unsere sechs absicherte. Sie wichen nicht zurück, aber hielten inne, drehten sich um, beobachteten, beschleunigten dann das Tempo, um die Gruppe einzuholen, bevor sich dasselbe wiederholte. Aus der Ferne betrachtet konnte man den Eindruck haben, als sei es einstudiert.“

War es aber nicht.

Der Spähtrupp war schnell. In weniger als 20 Minuten erreichte er das Grundstück: vier Gebäude, umgeben von einer hohen Betonmauer. Sie warteten einen Augenblick, letzte Überprüfungen, eine geringfügige Neuorganisation, dann wurde erneut in fünf Gruppen zu fünf Mann ausgeschwärmt. Eine Gruppe behielt den Westen und Norden im Visier, die zweite Osten und Süden, eine dritte blieb zurück, um ihnen den Rücken freizuhalten. Die beiden letzten Gruppen starteten den Hauptangriff. Jeder wusste, was zu tun war. Jetzt war Schweigen geboten, Funksprüche wurden untersagt. „Reden ist zu langsam“, sagt Davis. „Es macht alles nur komplizierter.“

Die Angriffsteams hatten die Mauer blitzschnell überwunden und waren in die Gebäude vorgedrungen. Der erste Raum war leer, der zweite war dunkel und überfüllt. Bewaffnete Wachen zwischen unbewaffneten Frauen und Kindern. Unter diesen Umständen sind falsch positive Reaktionen eher die Regel als die Ausnahme, und zu wissen, wann man nicht schießen darf, macht den Unterschied zwischen einem erfolgreichen Auftrag und einem internationalen Zwischenfall aus.

Das Bewusstsein ist ein leistungsfähiges Werkzeug, aber es ist langsam und kann nur eine geringe Informationsmenge auf einmal verarbeiten. Das Unbewusste hingegen ist wesentlich effizienter. Es kann mehr Daten in kürzeren Zeiträumen verarbeiten. In der Ekstase gönnt sich das Bewusstsein eine Ruhepause, und das Unbewusste übernimmt die Herrschaft. Während das geschieht, fluten zahlreiche leistungssteigernde Neurochemikalien das System, darunter auch Noradrenalin und Dopamin. Beide Chemikalien erhöhen Konzentration, Muskelreaktionszeiten und Mustererkennung. Wenn das Unbewusste die Leitung übernommen hat und diese Neurochemikalien im Spiel sind, können die SEALs auch in dunklen Räumen blitzschnell noch den flüchtigsten Gesichtsausdruck erkennen.

Wenn also ein Team feindliches Territorium betritt, kann es komplexe Bedrohungen in kontrollierbare Einheiten aufspalten. Rasch zerlegen sie das Kampfgebiet in vertraute Situationen, mit denen sie umgehen können – wie etwa Wachen, die sie entwaffnen oder Zivilisten, die sie einsperren müssen – und nicht vertraute Situationen – wie eine dunkle Gestalt in einer weit entfernten Ecke –, die bedrohlich sein könnten oder nicht. Ihre Köpfe und Bewegungen sind eng miteinander verbunden, deshalb tritt das Team als Einheit auf, bekommt die Situation in den Griff und entwaffnet den Gegner, ohne zu zögern oder einen Fehler zu machen.

An jenem Abend in Afghanistan zögerte niemand. Die SEALs brachten die Räume in wenigen Augenblicken unter ihre Kontrolle, ließen ein paar Männer zur Bewachung ihrer Gefangenen zurück und zogen weiter ins nächste Gebäude. Und dort erspähten sie ihn: Al-Wazu war dort, als sie hereinkamen. Er saß auf einem Stuhl, ein AK-47 um seine Schulter geschlungen.

Die üblichen Einsatzregeln lauten, dass ein bewaffneter Feind ein gefährlicher Feind ist, aber an dieser Situation war nichts normal. Der Mann vor ihnen war aus dem Gefängnis entkommen, hatte andere Terroristen ausgebildet und brutale Überfälle verübt. Er hatte getötet und würde es, wenn sich die Gelegenheit ergäbe, wieder tun. Aber da war noch ein winziges Detail, das jeder SEAL, der den Raum betrat, innerhalb von Millisekunden gesehen, verarbeitet und darauf reagiert hatte – oder vielmehr nicht darauf reagiert hatte. Das Detail war, dass in diesem besonderen Moment, die Augen ihrer Zielperson geschlossen waren. Wazu schlief tief und fest. Es war eine Festnahme ohne Blutvergießen. Keine Verwundeten, keine Toten. Absolut perfekt.

Natürlich ist das nicht die übliche Kriegsgeschichte. Sie würde es wahrscheinlich nicht in die Abendnachrichten schaffen oder verfilmt werden. Die Filmstudios von Hollywood ziehen einsame Helden gesichtslosen Teams vor, und ihre Erzählungen romantisieren Drama und Unglück. Doch was den SEALs bei ihrer Razzia gelang, kommt einer Veranschaulichung des wahren Kerns der Sondereinsatzkultur viel näher. Im besten Fall ist es immer ein anonymes Team. „Ich strebe nicht nach Anerkennung12 für mein Vorgehen …“, lautet der Kodex der SEALs. „Ich erwarte, zu führen und geführt zu werden … meine Teamkameraden festigen meine Entschlossenheit und lenken alle meiner Taten“. Und diese sittliche Gesinnung wird jedesmal verstärkt, wenn sie den Schalter umlegen, die Egos verschwinden und sie auf eine Art und Weise gemeinsam handeln, wie sie es allein nie könnten.

Ein SEAL muss wissen, wann er nicht schießt. Das ist die schwierigste Frage. Al-Wazu wurde lebendig zurück ins Gefängnis transportiert, und keine einzige Patrone war abgefeuert worden. Die Ausbildung zum SEAL gehört zu den teuersten Ausleseverfahren, die jemals erdacht wurden. Im Wesentlichen ist es konzipiert worden, um Ekstase zu ermöglichen. Was zu der Frage führt, was der wahre Wert dieser Ausbildung ist.

„Nun ja“, erzählt Davis, „als wir Wazu wachgerüttelt hatten und er in seinem Wohnzimmer in eiskalte Augen und in die mit schwarzer Tarnfarbe bemalten Gesichter der Navy SEALs schaute, hätten Sie sein Gesicht sehen sollen. Unbezahlbar.“

Google geht angeln

Von den afghanischen Jagdgründen in einem Hochwüstental am anderen Ende der Welt aus betrachtet, erkannten die jungen Gründer von Google, dass sie selbst ebenfalls einen besseren Filter für „Ekstase“ brauchten.

Und so schnell wie möglich.

Es war im Jahr 2001, drei Jahre vor Al-Wazus rauem Erwachen. Page und Brin standen vor der größten persönlichen Entscheidung in der Existenz ihres Start-ups. Ihr Einstellungsverfahren war ohnehin schon ein Affront. Die Kandidaten wurden rücksichtslos durchleuchtet, mussten ihre Notendurchschnitte sowie die Testergebnisses für ihre Studierfähigkeit offenlegen und ihre Fähigkeit beweisen, Denksportaufgaben zu lösen, die MENSA-Mitgliedern zur Ehre gereicht hätten. Doch den Gründern wurde klar, dass sie sich bei dieser nächsten Einstellungsrunde auf Zahlen und Tabellen allein nicht würden verlassen können.

Nach ein paar Jahren unfassbaren Erfolgs hatte der Google-Vorstand beschlossen, dass die Firma für den Horizont der Endzwanziger Larry und Sergey zu groß geworden war. Die Investoren hatten den Eindruck, ein wenig „Kontrolle durch Erwachsene“ sei geboten, und so veranlassten sie eine Suche nach einem Vorstandsvorsitzenden, die sich als eine der maßgeblichsten Personalentscheidungen der Hightech-Ära erweisen sollte.

Der Vorgang war für keinen Beteiligten einfach. Nachdem sie fast ein Jahr lang Gespräche geführt hatten, war es, wie Brin später der Presse erzählte, „Larry und mir gelungen,13 50 Spitzenmanager aus dem Silicon Valley zu verprellen“. Die Zeit lief ihnen davon. Wenn sie nicht bald einen Erfolg vorweisen konnten, würden sie beweisen, dass der Vorstand recht hatte: Sie waren der Sache nicht gewachsen.

Bei der Suche nach einem Vorsitzenden kamen Page und Brin zu dem Schluss, dass sie über ihr normales Ausleseverfahren hinausgehen mussten. Lebensläufe waren so gut wie sinnlos. Der technische Teil war mehr oder weniger eine Selbstverständlichkeit – es gab eine Menge kluger Köpfe im Valley, die einen Laden voller Codeaffen, wie unerfahrene Programmierer genannt wurden, schmeißen konnten. Doch in einer Stadt voller herausragender Persönlichkeiten mussten sie jemanden finden, der sein Ego zurückstellen konnte und kapierte, was Google zu erreichen versuchte. Jemanden, der, nach Einschätzung des Autors der New York Times, John Markoff,14 „Googles extravagante, ausschweifende Kultur in den Griff kriegen konnte, ohne dabei die Genialität abzuwürgen“.

Wenn sie es hinkriegten, würde die Suchmaschine für die nächsten zehn Jahre und darüber hinaus ihnen gehören. Vermasselten sie es, würden sie die Kontrolle über ihre Firma verlieren. Aus und vorbei. Zurück an die Uni.

Und so wandten sich Page und Brin mit dem Mut der Verzweiflung einem ungewöhnlichen Ausleseverfahren zu, einem brutalen Filtersystem, das einerseits dem BUD/S sehr ähnlich war und andererseits so grundverschieden, wie man es sich nur vorstellen konnte.

Wie in der berüchtigten Höllenwoche der SEALs musste ein Kandidat für den Google-Vorsitz fast fünf schlaflose Tage und Nächte in drückender Hitze, schneidender Kälte und rund um die Uhr ein Sperrfeuer von VUCA-Bedingungen (flüchtig, unbestimmt, komplex und mehrdeutig) aushalten. Bis an die körperlichen und psychischen Grenzen getrieben, gab es für den künftigen Unternehmensleiter keine Möglichkeit mehr, sich zu verstecken. Würde er sich in dieser Situation in sein Schneckenhaus zurückziehen? Oder konnte er mit dem Team verschmelzen?

Selbstverständlich gab es ein paar Unterschiede. Im Unterschied zum Strand von San Diego, wo die künftigen BUD/S sich beweisen müssen, war an dem Strand, den Page und Brin im Sinn hatten, in den letzten 15.000 Jahren kein fließendes Wasser mehr gesehen worden. Es war ein mittlerweile knochentrockenes Seebett mitten in den Black Rock Mountains in Nevada. Der Schauplatz des Burning Man, eines ziemlich schrägen modernen Übergangsrituals.

Und Übergangsritual ist hier der richtige Begriff. Dieser lebensfrohe kurzzeitige Karneval für Zigtausende hat seine eigenen skurrilen Bräuche, exotischen Rituale und eine besonders frenetische Fangemeinde. Es ist ein Eleusis unserer Tage, eine bacchantische Riesenfete, die Party am Ende der Zeit – wie immer man es nennen mag. Aber eins lässt sich nicht von der Hand weisen: Da draußen geschieht etwas.

Page und Brin nahmen regelmäßig und mit Begeisterung daran teil. Die Firma, die Maßstäbe für die Verpflegung15