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AMIR HASSAN CHEHELTAN

Aus dem Persischen
von Jutta Himmelreich

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DER STANDHAFTE PAPAGEI

ERINNERUNGEN AN TEHERAN 1979

Inhalt

Ein großes Ereignis

Unser Stadtviertel

Die Revolution beginnt

Die alte Frau am Straßenrand

Der Deserteur

Khomeinis Gesicht im Mond

Menschenschmuggel

Meuterei der Jungoffiziere

Der Streik ist beendet

Auftritt Metzger Maschallah Ghassab

Ein Fest der Rache

Der Schleier und eine Amerikanerin

Der Frühling der Hinrichtungen

Den Schah einlochen oder ermorden

Nacktfotos vom Hofstaat

Amerikanerbekämpfung

Mohammad Ringo

Auspeitschungen

Das Leben geht weiter

Teheran im Herbst

Explosionsgefahr in Teheran

Die Karten werden neu gemischt (Game Change)

Ein großes Ereignis

Für Herrn Firuz begann die Islamische Revolution im Iran am 5. November 1978, als sein Sohn Homajun und ein paar Mitstreiter sein Spirituosengeschäft stürmten und Homajun persönlich den ersten Stein in das über die gesamte Breite des Ladens reichende Schaufenster warf. Als Kopf einer Gruppe von Aktivisten fand er sich an jenem Tag, nachdem er reihum in der Nachbarschaft schon die Scheiben aller Bankfilialen zertrümmert hatte, plötzlich mit einem großen Stein in der Hand vor seines Vaters Laden wieder.

Augenzeugen berichteten, Homajun habe kurz gezögert beim Anblick seines Vaters, der ihn, die Hände hinterm Rücken verschränkt, das Kinn bebend vor Zorn, unverwandt ansah, ohne jede väterliche Nachsicht, herausfordernd, Auge in Auge. Homajuns Begleitern zufolge hielt ihr Anführer den Stein so fest umklammert, dass sämtliche Adern an seinem Hals hervortraten und alles Blut ihm ins Gesicht stieg.

Reza, der Kleinhändler unserer Nachbarschaft und Homajuns Kampfgefährte, sagte: »Wir dachten, bei diesem Laden müssen wir eine Ausnahme machen, und wollten schon weiterziehen. Aber Homajun hat sich nicht vom Fleck gerührt, war sogar noch fester entschlossen, vielleicht weil er gespürt hat, dass ein paar seiner Leute gehen wollten, während er es für seine revolutionäre Pflicht hielt, keine Ausnahme zu machen. Also hat er pflichtgemäß den ersten Stein geworfen, weil ein Stein ja ausreicht, wenn er passend gewählt ist und sein Ziel genau an der richtigen Stelle trifft. Das riesige Schaufenster ging komplett zu Bruch, auf einen Schlag, und Homajun war hochzufrieden, das hat man ihm angesehen.«

Das Klirren der einstürzenden Scheibe schallte durchs ganze Stadtviertel und kündigte Außergewöhnliches an. Dann gab Homajun den Befehl, das Geschäft zu plündern. Minuten später zerschlugen die Angreifer sämtliche Flaschen draußen auf dem Bürgersteig, ihr schaumiger Inhalt ergoss sich über den Gehweg und floss bis auf die Straße. Eine geschlagene Woche lang roch unsere ganze Nachbarschaft nach Alkohol.

An jenem Abend sagte mir Herr Firuz, bekümmert, ungläubig, und zugleich in mühsam unterdrücktem Zorn jedes Wort betonend: »Da braut sich was Großes zusammen.«

Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter und schüttelte mitfühlend den Kopf. Wie sollte man ein solches Ereignis bezeichnen? … Schicksalsbestimmend vielleicht! Dass Söhne sich gegen ihre Väter stellen oder sich Wortgefechte mit ihnen liefern, hatte es im Laufe unserer langen Geschichte so noch nicht gegeben. Daher rührten Herrn Firuz’ Betrübnis und Erschütterung, und genau deshalb war er überzeugt, dass ein großes Ereignis sich anbahnte.

Ich habe Herrn Firuz’ Naivität an jenem Abend insgeheim belächelt. Heute hingegen gestehe ich ihm zu, dass er eine Gabe hat. Er war der Erste in meinem Umfeld, der es gerochen hat, er hat dieses große Ereignis kommen sehen. Er hatte, wie Nietzsche, einen genialen Riecher.

Damals ahnte noch niemand, dass das Klirren der berstenden Scheibe des Spirituosengeschäfts noch jahrzehntelang im ganzen Iran, ja im gesamten Mittleren Osten nachhallen würde, doch Herr Firuz mit seinem untrüglichen Instinkt hatte das erkannt. Muslimen gilt der Konsum von Alkohol als größtes Zeichen des Unglaubens; einer Gesellschaft, die ihre Revolution in Kürze durch »Allahu akbar!«-Rufe vorantreiben würde, war die Vernichtung aller Beweise für solchen Unglauben oberstes Gebot.

Kaum ein Iraner ist sich mit Herrn Firuz über den historischen Beginn der Revolution einig; hierzulande hat jeder seine eigene Auffassung davon, wann sie ihren Anfang nahm. Für die einen begann sie damit, dass der Schah am 6. November 1978 im Fernsehen auftrat und Versäumnisse eingestand. Damals hatte er dem iranischen Volk gesagt: »Ich habe euren Revolutionsruf gehört.« Die Verfechter dieser Ansicht sind überzeugt, jenes Eingeständnis habe des Schahs Ende eingeläutet und seine Gegner zu heftigen Protesten ermuntert, insbesondere dazu, am 9. und 10. November, an Tasua und Aschura, millionenfach durch die Straßen zu ziehen und letztendlich seinen Sturz herbeizuführen. Für andere beginnt die Revolution mit den Tötungen vom 8. September 1978, dem Tag, an dem Leute auf dem Teheraner Jaleh-Platz zusammenkamen, um, wie schon tags zuvor, einen großen Protestmarsch zu veranstalten. Damals versammelten sich Leute ungeachtet des erst eine Stunde zuvor im Radio verkündeten Ausnahmezustands und wurden von Soldaten des Schahs unter Beschuss genommen. Nach Ansicht der Vertreter dieser Auffassung offenbarte jener Tag, der mehr als tausend Menschenleben forderte, dass eine Versöhnung mit dem Schahregime aussichtslos war. Für wieder andere begann die Revolution am 7. Januar 1978, als in einer der drei wichtigsten Tageszeitungen der Hauptstadt ein verunglimpfender Artikel über Ajatollah Khomeini erschien. Tags darauf trafen gegen diesen Artikel Protestierende in der heiligen Stadt Ghom auf militärischen Widerstand; die Zusammenstöße forderten Tote und viele Verwundete. Dieses Blutbad wiederum löste eine Reihe verlustreicher Demonstrationen aus, die schließlich zum Sturz des Schahs führten. Noch andere sind allerdings der Meinung, die Revolution habe mit dem Amtsantritt des US-Präsidenten Carter und seinem Eintreten für die Menschenrechte begonnen, was den Schah zur Mäßigung seiner harten Linie in Sachen Bürgerrechte bewogen habe. Ajatollah Khomeinis geistliche Anhängerschaft ging später noch weiter in der Zeit zurück und bezeichnete seine berühmte Rede in Ghom, im Januar 1963, die zu seiner Verhaftung, zu ausgedehnten Demonstrationen und schließlich zu seiner Verbannung ins Exil geführt hatte, als den Auslöser der Revolution.

Am Tag des Ansturms auf Herrn Firuz’ Spirituosengeschäft endete die Amtszeit von Dschafar Scharif-Emami, der etwa zwei Monate zuvor, am 27. August und nach dem Rücktritt von Premierminister Amuzegar, mit der Bildung eines Kabinetts beauftragt worden war. Seine erste Amtshandlung hatte darin bestanden, den Beginn des Kalenderjahres wieder an der Hidschra des Propheten Mohammed (Gott segne ihn und schenke ihm Heil) auszurichten, nachdem der Schah ihn zwei, drei Jahre zuvor vom Tag der Hidschra des Propheten (Gott segne ihn und schenke ihm Heil) auf den Tag der Krönung des Achämenidenkönigs Kyros verlegt hatte. In einem weiteren Schritt schloss er Kasinos und Kabaretts, unternahm aber nichts gegen die Spirituosengeschäfte, vielleicht, weil Kasinos und Kabaretts – anders als die Spirituosengeschäfte – von nur wenigen Leuten aufgesucht wurden. Jedenfalls hatte er in der Absicht gehandelt, den Gesetzen der Scharia Geltung zu verschaffen. Meiner Erinnerung nach war das der Zeitpunkt, zu dem erstmals ein so hochrangiges Regierungsmitglied davon sprach, im Rahmen der Rechtsprechung auch religiöse Gesetze zu achten. Zugleich ließ das Regime, das bisher stets erklärt hatte, die Lage sei normal, durch ihn nun erstmals verlauten, die Nation befinde sich in Gefahr. In Wahrheit hatte eine Welle von Demonstrationen und Protesten das Land erfasst, und in keiner Stadt herrschte auch nur ein Tag Ruhe.

Scharif-Emami ließ die Parlamentarier die aktuelle Lage aufs Schärfste kritisieren, wobei alle beteuerten, den Schah persönlich treffe keine Schuld am Verfall und Autoritarismus der letzten Jahrzehnte. Diesem Arrangement ordneten sie alles unter, um den Schah zu retten.

Auf dem Basar sanken die Preise für Luxusgüter von Tag zu Tag, weil durch die Enthüllungen über das offenbar marode Regime die Unsicherheit unter den Reichen und im Hofstaat wuchs und alle zugleich ihr Hab und Gut verkauften, um sich auf ihre Flucht vorzubereiten. Es hieß, ein dressierter Hund, der auf den Hinterpfoten stehen, einen Gehstock in die Vorderpfote nehmen und sich vor Passanten verbeugen konnte, habe für nur 25 Dollar den Besitzer gewechselt. Der Käufer sei übrigens eine knappe Stunde später an den Ort der Transaktion zurückgekehrt, habe die erworbene Ware beanstandet und fünf Dollar zurückgefordert.

Für Scharif-Emami war der polizeilich nicht unterbundene Marsch von einer Million Menschen am 4. September, zum Ende des Fastenmonats Ramadan, ein Alarmsignal, gleich in den ersten Tagen seiner Amtszeit. An jenem Tag flogen Helikopter über die Köpfe der Menge hinweg. In einem dieser Helikopter saß vermutlich der Schah, wohl erstmals mit der bitteren Wahrheit konfrontiert, wie zahlreich seine Gegnerschaft war. Es hieß, er habe nach der Rückkehr in seinen Palast Amir Abbas Howeyda, den Mann, der ihm als Premierminister dreizehn Jahre lang geschmeichelt und die Welt schöngeredet hatte, geohrfeigt und ihm folgende Frage gestellt: »Warum haben Sie mir die Lage im Land über all die Jahre hinweg verschwiegen?« Diese Frage haben andere später ins Lächerliche gezogen und angeführt, der Schah sei nur gute Nachrichten zu ertragen imstande gewesen, und man habe ihm stets berichten müssen, im Lande sei alles in bester Ordnung und das Volk damit beschäftigt, sich für die Wohltaten Seiner Kaiserlichen Hoheit dankbar zu zeigen!

Die Protestmärsche offenbarten auch, wie gut der religiöse Flügel der Bewegung organisiert war, denn an diesem Festtag hatte die Menge sich tatsächlich im Anschluss an das Freitagsgebet in Marsch gesetzt. Obwohl die Regierung tags darauf solche Aufmärsche verboten hatte, zogen die Menschen drei Tage später, am 7. September, erneut durch die Straßen und skandierten: »Wir zerschlagen keine Scheiben, wir zerschlagen falsche Götter!«, um den von der Regierung seit Tagen gegen sie erhobenen Anschuldigungen zu begegnen. Offiziell hieß es, die Demonstranten hätten am 4. September Busse mit Steinen beworfen, Telefonzellen zerstört und Fensterscheiben von Bankfilialen zertrümmert.

Am frühen Abend jenes Tages kam der Kleinhändler Reza zwar erschöpft, aber aufgewühlt vom Protestmarsch zurück und berichtete, die Demonstranten hätten sich auch für den nächsten Tag, einen Freitag, zu einem Protestmarsch verabredet. Mohssen, ebenfalls ein Kleinhändler aus der Nachbarschaft, nahm Rezas Nachricht mit Zurückhaltung und wohl auch mit Skepsis auf.

Dass ein weiterer Protestmarsch vereinbart war, bereitete einigen Militärberatern des Schahs damals offenbar eine schlaflose Nacht, in der sie, um zu verhindern, dass derlei Märsche sich in Teheran nun täglich wiederholten, nach intensiven Beratungen entschieden, den Ausnahmezustand zu verhängen. Der Beschluss wurde um sieben Uhr früh landesweit im Radio verkündet.

Während eines Ausnahmezustands sind Zusammenkünfte von mehr als drei Personen verboten. Ich saß beim Frühstück, als ich die Nachricht im Radio hörte, und machte mich eilends auf zu Reza, um ihn davon abzubringen, sich dem für heute geplanten Protestmarsch anzuschließen. Ich erklärte ihm, die Radiomeldung habe durchaus bedrohlich geklungen. Er versprach mir mit unverhohlenem Widerwillen, nicht an der Demonstration teilzunehmen, gestand mir am nächsten Tag aber, doch mit von der Partie gewesen zu sein. Was er uns über die Ereignisse vom Vortag berichtete, sorgte im gesamten Viertel für eine Fülle zwiespältiger Gefühle, die von Angst über freudige Erregung bis hin zu Feindseligkeit und Rachsucht reichten.

Am vereinbarten Tag waren manche Leute ahnungslos zum festgelegten Treffpunkt gegangen, während andere, wie Reza, vom Ausnahmezustand zwar gewusst hatten, sich aber nicht darum scherten. Rezas Worten zufolge hatten Soldaten die Leute zunächst per Megafon aufgefordert, sich zu zerstreuen, und hatten einen von der Menge mit Buhrufen quittierten Text über die Verhängung des Ausnahmezustands in Teheran verlesen. Zuerst hatte jemand ein Furzgeräusch imitiert, dann hatten alle »Buh!« gerufen, woraufhin der Brigadeführer ein Warnsignal befohlen hatte. Als die Menge weder seiner Warnung noch den durch die Luft sirrenden Kugeln Beachtung schenkte, senkten die Soldaten ihre Gewehre, und im nächsten Augenblick lag die erste Reihe des Demonstrationszugs in ihrem Blut.

Wer mit dem Leben davongekommen war und den Mut aufbrachte, über diesen Tag zu sprechen, erinnerte sich nicht daran, den Feuerbefehl gehört zu haben, doch die Schüsse waren gefallen. Die erste Reihe, dann die zweite Reihe, dann die … Wo in der Menge hatte Reza gestanden? Jener Tag hatte mehr als tausend Opfer gefordert.

»Ein junger Kerl, ungefähr in meinem Alter, war neben mir gestürzt, ich hab ihn mir sofort auf die Schultern geladen, bin Richtung Bürgersteig gelaufen, in eine Seitenstraße. Eine Frau kam weinend hinter mir her. Als der junge Mann sie sah, hat er sie beruhigt: ›Keine Angst, Mama, mir geht’s gut.‹ Das waren die letzten Worte, die wir ihn sagen hörten. Er ist noch auf meinen Schultern gestorben.« Die Leute brachten die blutüberströmten Körper ihrer Angehörigen – die einen tot, andere noch am Leben – zu sich nach Hause, weil sie sie, argwöhnisch geworden, weder den Friedhöfen noch den Krankenhäusern überlassen mochten. Schwarzer Freitagag nannten sie jenen Tag, und nicht wenige waren überzeugt, dass von nun an kein Weg zur Versöhnung mit dem Schah mehr gangbar war. Am nächsten Tag hieß es, nicht iranische, sondern israelische Soldaten hätten das Feuer auf die Menge eröffnet. Später erwies sich diese Vermutung als falsch, während es sehr wohl der Wahrheit entsprach, dass Israelis die Folterknechte des SAVAK ausgebildet hatten. Nach dem Schwarzen Freitag wurden verstärkt geheime Flugblätter – meist Botschaften des Ajatollah Khomeini aus dem irakischen Exil – in Nadschaf verteilt, und nachts wurden überall in der Hauptstadt immer mehr Parolen an Mauern und Hauswände geschrieben.

Am Schwarzen Freitag selbst war der Chef der Kommunistischen Partei der Volksrepublik China, Hua Guofeng, beim Schah und dessen Gattin zu Gast, und das anlässlich dieses Staatsbesuchs ausgerichtete Festbankett wurde am Abend landesweit im Fernsehen übertragen. Daraus haben die Iraner, denen das Lachen auch in schwierigsten Zeiten nicht vergeht, eine Anekdote gemacht, die sofort in aller Munde war. »Wie viele Oppositionelle gibt es in Ihrem Land?«, fragt der Schah seinen Staatsgast. Der antwortet: »Ungefähr 35 Millionen.« Was der Schah mit Interesse zur Kenntnis nimmt: »Erstaunlich«, erwidert er, »auch meine Regierung hat 35 Millionen Gegner.« Der Iran hatte damals 35 Millionen Einwohner.

Zwei Wochen vor dem Sturm auf Herrn Firuz’ Spirituosengeschäft hatte Scharif-Emami bekannt gemacht, er werde in einer großzügigen Geste am 26. Oktober, dem Geburtstag des Schahs, eintausend politische Gefangene begnadigen. Während man am Geburtstag des Herrschers bisher alljährlich im ganzen Land besondere Feste gefeiert hatte, war in diesem Jahr von derlei Feierlichkeiten keine Rede. Am 26. Oktober strömten auch Menschen, die die Begnadigten nicht einmal namentlich kannten, mit Blumen in den Händen vor die Gefängnistore und lieferten den Zeitungen unter leicht gelockerten Zensurbedingungen Stoff für bewegende, zuweilen recht stark ausgeschmückte Geschichten. Auch Hassan Agha, der Schneider aus unserer Nachbarschaft, zählte zu den Freigelassenen.

Bald waren die Zeitungen voll mit Berichten über die Häftlinge, die jetzt, nach überstandener Folter, mit ausgebreiteten Armen auf die Leute zugingen und laut riefen: »Ihr habt uns befreit!« Damals wurde die Universität unverhofft zu einem bedeutenden Ort, an dem die ehemaligen Gefangenen zusammenkamen, um über ihre Mithäftlinge zu berichten, die Folterungen ausgesetzt gewesen waren. Ein Häftling hatte nach dreißig Jahren seine Freiheit wiedererlangt, zwei Ajatollahs aber waren die bedeutendsten Begnadigten: Ajatollah Taleghani und Ajatollah Montaseri, die später beide eine für die Revolution wichtige Rolle spielen sollten.

Und dann sprachen alle vom 29. Oktober, an dem eine landesweite Demonstration unweigerlich zu heftigen Zusammenstößen zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung führen und Teheran in ein Blutbad verwandeln würde. Doch am 29. Oktober geschah nichts Besonderes. Wohl aber am 5. November, jenem Tag, an dem Homajun den kämpferischen Blick seines Vaters trotzig erwidert und den Stein in seiner Faust in die Scheibe des Spirituosengeschäfts geschleudert hatte.

Vierzehn Jahre zuvor war Ajatollah Khomeini genau an einem solchen Tag aus dem Iran verbannt worden. Damals hatten sich alle Stadtviertel Teherans, auch unseres, in allgemeinem Aufruhr erhoben. Einen ganzen Tag lang hatte Teheran im Feuer wutentbrannter junger Leute gelodert. Spirituosengeschäfte, Kinos, Hotels und Banken waren in Flammen aufgegangen. Vor der Universität von Teheran war die Situation eskaliert. Junge Leute hatten einen Doppeldeckerbus in Brand gesteckt, um Pkw und Panzern den Weg zu versperren, und schließlich waren Militärbrigaden angerückt. Diese hatten erst durchs Gittertor der Uni geschossen und waren dann auf das Gelände vorgedrungen. Abends war im Fernsehen ein kurzer Bericht zu sehen gewesen, der diese Ereignisse schilderte und eine Szene zeigte, in der ein junger Mann nach einem Schuss zu Boden ging. Meine Eltern und ich hatten gebannt auf den Fernsehbildschirm gestarrt, und mein Vater hatte sich überzeugt geäußert, das alles sei nur vorübergehend. Der Iran habe in seiner jüngsten Geschichte solche Unruhen schon sehr häufig erlebt, und anschließend sei stets wieder Normalität eingekehrt.

Am nächsten Tag wurde ein Militärkabinett gebildet, und Stunden danach erschien der Schah im Fernsehen, übernahm die Verantwortung für die Fehler der Vergangenheit und bat die Menschen im Land, Ruhe zu bewahren. Zugleich erklärte er, dass er zur Wiederherstellung der Ordnung im Lande gezwungen gewesen sei, das Militär an der Kabinettsbildung zu beteiligen; woraufhin das Gerücht entstand, das Schah-Regime habe bei den Tumulten am Vortag die Hände im Spiel gehabt, um die Einsetzung des Militärs problemlos rechtfertigen zu können.

Unser Stadtviertel

Unser Stadtviertel zeichnete sich durch die ganz eigene Zusammensetzung seiner Bewohner aus und war eines der wenigen ohne soziale Klassenstruktur. Ganz in der Nähe lagen auf der einen Seite die Universität von Teheran, auf der anderen das Parlament. Neben dem fehlenden Klassenbewusstsein sorgte die besondere geografische Lage unseres als zentral geltenden Viertels für diese untypischen Verhältnisse, zu denen wohl auch die Landflucht und das rasche Anwachsen der Stadt beitrugen, deren Einwohnerzahl sich in nur drei Jahrzehnten vervierfacht hatte. So lebte zum Beispiel am einen Ende des Viertels ein reicher Basari, am anderen jemand, der als Wachposten bei einer Bank tätig war. Sogar Reza hatte ein Zimmer im Souterrain einer Dienstwohnung und zählte als Straßenhändler ebenso zu unseren Nachbarn wie ein Mann namens Hassan Khanom, am Schlachthof von Teheran angestellt, sowie dessen Frau, Leichenwäscherin auf dem städtischen Behescht-e Zahra-Friedhof, und sein Stiefsohn, der im Krankenhaus arbeitete. In unserem Stadtteil lebten Lehrer, Fabrikarbeiter und Einzelhändler Seite an Seite mit einem Arzt, einem Kapitalisten und sogar einem Mullah. Auch ein pensionierter General lebte hier, mit einem großen Hund, dem einzigen Haushund in unserer Nachbarschaft.

Als die Unruhen einsetzten, äußerte sich des Generals jüngster Sohn, der etwa in unserem Alter war, widersprüchlich. Er sagte zum Beispiel: »Klar ist das ganze Land korrupt und verlogen, aber der Schah hat davon keinen blassen Schimmer, der Arme.«

Weil er ein umgänglicher Kerl war und sich mit allen in der Nachbarschaft gut verstand, hatten wir den Eindruck, dass er einfach das wiedergab, was sein Vater ihm eingeredet hatte. Ein Vater, der übrigens Blumen liebte und Lyrik, sich mit Leib und Seele der Pflege seines großen Gartens widmete – nach all den Jahren sehe ich ihn noch heute vor mir, mit einer Gartenschere in der Hand, einem großzügigen Lächeln auf den Lippen –, der zugleich einen besonders herzlichen Umgang mit den Jugendlichen pflegte, ihnen sogar Geld lieh, kurzum, ihre Kameradschaft suchte, was in unserer Nachbarschaft natürlich so manches Gerücht nährte.

Ich war zwar damals erst zweiundzwanzig, glaubte aber, als Student im letzten Studienjahr und auf dem Höhepunkt meiner jugendlichen Unerfahrenheit, besser als die einfachen Leute um mich herum zu verstehen, wie die Welt sich drehte. Da ich einige Bücher gelesen hatte und mir sicher war, als Einziger im Umkreis deren Inhalt zu begreifen, bildete ich mir ein, über visionäre Kräfte zu verfügen und die Zukunft vorhersehen zu können. Auch meine Umgebung schien diese Illusion zu hegen, denn seit Beginn des vergangenen Sommers schauten sie sich, sobald sie mich in einem Eckchen von Herrn Firuz’ Laden allein antrafen, erst aufmerksam um, beugten sich dann dicht zu mir und flüsterten mir höchst diskret ihre Frage ins Ohr: »Welches Ende wird’s denn nehmen mit dem Schah?«

Man kann wohl ohne Übertreibung und im Einvernehmen mit der Mehrheit der jungen Leute sagen: Wer sich unterhalten wollte, fand in unserer Nachbarschaft keinen passenderen Treffpunkt als Herrn Firuz’ Laden. Zudem machte nur eines die heißen Sommer in unserem Stadtteil erträglich: Herrn Firuz’ kühles Bier in dem gemütlichen, aufgeräumten – und einzigen – Ausschank des Viertels.

Ein Pfau, der, wenn er bei Laune war, stolz und prahlend sein farbenprächtiges Rad schlug, nun aber in seinem großen Gitterkäfig an der Ladendecke hing wie ein Häuflein Elend, war das einzige Schmuckstück im Raum. Herr Firuz, so hieß es, habe ihn als ganz junger Mann von einer Indienreise mitgebracht. Er habe seine Arbeit immer wieder unterbrochen, verliebte Blicke in Richtung Käfig geworfen und »Ich liebe dich!« geseufzt. Dann habe er Verse des großen Hafis rezitiert, in denen von Wein die Rede war, von Liebe und auch vom treulosen Freund. Der Vogel habe angeblich einst einem Mädchen gehört. Die junge Inderin und Herr Firuz seien sehr ineinander verliebt gewesen. Weil sie Herrn Firuz aber nicht in den Iran habe begleiten können, habe sie ihm den Pfau zum Abschied geschenkt, um die Erinnerung an ihre Liebe lebendig zu halten.

In Herrn Firuz’ Laden kamen junge Leute zusammen, denen man das Biertrinken erst jüngst gestattet hatte. Junge Männer, die zwei, drei Jahre zuvor im Vorbeigehen noch neugierig, sehnsüchtig hineingeschaut und darauf gebrannt hatten, den Laden bald betreten zu dürfen. Der Zutritt zu diesem Reich galt als Zeichen dafür, dass man endlich zu den Älteren zählte und Zugang hatte zu ihrer rätselhaften, komplexen Welt. Auch der General gesellte sich gelegentlich zu den jungen Männern. Und wenn er länger blieb und ein Fläschchen Wodka intus hatte, steckten in einem Eckchen des Ladens bald alle die Köpfe zusammen und senkten die Stimmen. Dann machten Zoten und anzügliche Anekdoten die Runde, und ein ums andere Mal stieg lautes, schallendes Lachen bis unter die niedrige Ladendecke und verfing sich dort. So berichteten es zumindest die Kinder aus der Nachbarschaft. Wenn ich jedoch erschien, der als fleißig geltende Student, dann verhielt sich der General angemessen und würdevoll. Manchmal erzählte er sogar Geschichten aus Rumis Masnawi, mit denen er uns indirekt zu verstehen gab, dass die politische Lage seiner Ansicht nach zu wünschen übrig ließ.

Es gab nur wenige Sitzplätze in Herrn Firuz’ Laden. Die Kundschaft trank meist im Stehen, oder nahm ihre Ware von Herrn Firuz in eine Tüte gehüllt entgegen, und verließ den Laden wieder. Ich kann weder behaupten, dass die Leute im Viertel Herrn Firuz’ Beruf für ehrbar hielten, noch, dass die Eltern dieser jungen Leute es guthießen, wenn ihre Söhne sich in seinem Laden trafen, doch dessen ungeachtet sahen die meisten Nachbarn in Herrn Firuz einen rechtschaffenen Mann, der niemandem in die Quere kam, seiner Arbeit nachging, überdies sein Geschäft an religiösen Feiertagen schloss und die Fenster des Ladens während des Fastenmonats Ramadan mit Zeitungspapier als Blickschutz verhängte. Zudem gewährte er Kredit und war überzeugt, die einsichtigen jungen Leute im Viertel würden ihm nie lange Geld schuldig bleiben. Sein Laden war also in jeder Hinsicht ein wichtiger Bestandteil unserer Nachbarschaft, genau wie ein staunenswertes Kunstwerk, eine Touristenattraktion.

Natürlich gab es in unserem Stadtteil auch eine Moschee. Die meisten Menschen, die in die Moschee gingen, setzten keinen Fuß in Herrn Firuz’ Laden, während Herrn Firuz’ Stammkunden die Moschee mieden. Zwischen den Lagern aber gab es Leute, die beide Orte aufsuchten. Dem Vernehmen nach trank Herr Adeli, unser direkter Nachbar, abends sein Gläschen Schnaps, spülte sich dann den Mund mit Wasser aus, nahm die rituelle Waschung vor und verrichtete anschließend sein Gebet. Den Verfechtern dieser Lebensart kam die Rolle der Brückenbauer zu, die beide Welten – die Moschee und Herrn Firuz’ Geschäft – miteinander verbanden, und für deren freundschaftliche Koexistenz sorgten. Zu leugnen, dass die eine oder die andere Welt bestand, änderte nichts an den Tatsachen, förderte höchstens die Verbreitung von Lügen und Heuchelei. Erst Jahre später wurde mir klar, dass Herr Adeli der Archetyp eines Iraners war, ein Mensch mit unterschiedlichen Erfahrungsebenen!

An jenem historischen Tag wurde zwar Herrn Firuz’ Laden gestürmt und geplündert, die Lagerbestände im Keller seines Hauses aber blieben unversehrt. Nur sehr wenige Menschen wussten davon, sein Sohn war zweifellos einer von ihnen. Sobald die Lage sich wieder beruhigt hätte, würde auch Herr Firuz seinen Geschäften wieder nachgehen müssen, um seine fünfköpfige Familie ernähren zu können, was gewiss auch sein Sohn verstand. Ich bin mir sicher, dass Herr Firuz schon kurz nach dem Angriff auf seinen Laden seine Alkoholvorräte auf dem Schwarzmarkt zu einem Preis anbot, der nicht nur die durch den Verlust der großen Mengen Alkohols und durch die Schäden an seinem Laden entstandenen finanziellen Einbußen ausgleichen, sondern ihm auch den sonst üblichen Ertrag einbringen sollte. Damit erzielte Herr Firuz wohl den ersten saftigen Gewinn im Vorfeld der Islamischen Revolution, die, wie er bereits vermutet hatte, genau an jenem Tag begann.

Homajun kehrte nach dem Anschlag auf seines Vaters Laden nicht wieder nach Hause zurück. Herr Firuz misstraute seinem Sohn mittlerweile. Zu Herrn Adeli hatte er gesagt: »Keinen Fuß setzt der mehr in mein Haus. Sonst zündet er es uns überm Kopf an, während wir schlafen.«

Noch als man Herrn Firuz die Nachricht vom Tod seines Sohnes überbrachte, saß dieses Misstrauen unverändert tief, denn als er sie hörte, fragte er: »Was hat er mit seiner Tat bezweckt?«Seine Frage schien auch ihn verblüfft zu haben, denn er hatte gleich darauf nachgehakt: »Wie bitte? Was hast du gesagt?«, und Herr Adeli war gezwungen gewesen, die Nachricht zu wiederholen.

Homajun, aus dem Elternhaus vertrieben, fand vorübergehend Unterschlupf bei Freunden. Tagsüber verbrachte er seine Zeit meist bei uns im Viertel, ging manchmal auch zu den Brennpunkten außerhalb, beteiligte sich an den rings um die Stadt angezettelten Unruhen und lieferte uns Informationen aus erster Hand. Er war unerschrocken und verstand sich meisterhaft auf Ablenkungsmanöver. Bei den stadtweit aufflackernden Protesten lenkten er und die Gruppe unter seiner Leitung die Sonderkommandos ab, indem sie in unmittelbarer Nähe neue Spannungsherde entfachten und den von der Polizei eingekreisten Aufständischen so die Möglichkeit gaben, aus der Gefahrenzone zu fliehen. Homajun war als einer der Ersten davon überzeugt, dass der Schah ausgedient hatte: »Ein Kaiser, der sein eigenes Volk lebendig ins Feuer wirft, hat keine Zukunft.«

Damit bezog er sich auf den Brand im Rex-Kino in Abadan, in dessen Flammen am 20. August 1978 vierhundert Kinobesucher bei lebendigem Leib verbrannten, und damit auf das Ereignis, mit dem seiner Ansicht nach die Revolution begann.

An jenem Tag stießen die vor dem Feuer fliehenden Kinobesucher auf verschlossene Türen. Die eintreffende Feuerwehr stellte fest, dass die Anschlüsse für die Löschwasserschläuche abgebrochen worden waren. Man machte den Schah für alles verantwortlich, dessen Gegner überzeugt waren, er habe die Tat ins Werk gesetzt, um sie den religiösen Kräften zuzuschreiben und sie beim Volk in Misskredit zu bringen. In deren Augen allerdings erging sich, wer Kinos besuchte, ohnehin in schändlicher Ausschweifung, beging eine große Sünde. Vermutlich sahen sie die Kinobesucher durch die Feuersbrunst gerecht bestraft.

Die Nachricht vom Kinobrand und von vierhundert lebendig verbrannten Opfern in Abadan erschütterte Teheran in der Tat wie eine Bombe, doch den Wendepunkt in der Geschichte der Islamischen Revolution markierte der Schwarze Freitag. Tags darauf verwickelten junge Schüler und Studenten die Streitkräfte in zermürbende Straßenschlachten, indem sie Fahrbahnen mit brennenden Autoreifen versperrten, Parolen riefen, Flugblätter an Mauern und Hauswände klebten und sich zerstreuten, sobald Soldaten auftauchten. Da die überall aufflammenden Proteste oft Verletzte oder gar Tote forderten, reichten Frauen den auf ihren Panzern sitzenden Soldaten von Beginn an Blumen, die manche stirnrunzelnd ablehnten, während andere die Frauen unverwandt ansahen und ihre Blicke hinausschrieen, dass sie insgeheim auf deren Seite seien, auch wenn sie die Blume verweigerten. Wieder andere hingegen nahmen sie an, steckten sie in ihre Gewehrläufe und sorgten mit ihrem mutigen Schritt für Bewunderung.

Als zu Herbstbeginn die Schulen und Universitäten ihren Unterricht wieder aufnahmen, begaben sich Schüler und Studenten zwar dorthin, allerdings nicht, um am Unterricht teilzunehmen, sondern um sich für den Straßenkampf zu rüsten, ihre Informationen zu verbreiten und die am Folgetag zu unternehmenden Schritte zu beschließen. Auch Leitfäden für die Widerstandskämpfer kamen in Umlauf, mit Hinweisen zum Verhalten gegenüber den Sonderkommandos der Polizei und Anleitungen zur Herstellung von Molotowcocktails.

In jenen Tagen hieß es, die irakische Regierung habe Ajatollah Khomeini auf Wunsch des iranischen Außenministeriums gewisse Beschränkungen auferlegt. Als die Nachricht sich verbreitete, strömten Schüler und Studenten auf die Straßen, Streiks weiteten sich aus. Dann kam plötzlich das