Ines Witka

DIE NACHT DER MASKEN

 

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Inhalt

Die Nacht der Masken

Die Interviews

CLAUDIUS

OLIVIA UND ANDREAS

STINA UND JACK

SABAH, JEAN-PIERRE, OASIS, CLAUDE UND VALMONT

DIETMAR

MIRJAM UND ANSGAR

HELEN & JOHANNES

PIA

CHRISTEL & FREDI

DAS GESPRÄCH MIT DEN MACHERN DIESES EINZIGARTIGEN EVENTS

Masken und Erotik

Quellen

Impressum

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Die Nacht der Masken

Reportage

 

Als ich die Kunstgalerie betrat, wartete Julia bereits auf mich. Neben den gedrungenen Formen der Skulpturen wirkte sie wie ein Model. Wir küssten uns rechts und links auf die Wangen, plauderten über dies und das. Ihre schlanken Finger spielten unablässig mit einer langen Perlenkette. Ich spürte, dass sie mir etwas sagen wollte, und als sie tief Luft holte, beugte ich mich unwillkürlich zu ihr hin.

»Ich habe mit meinem Freund eine geheime Party auf einem Schloss besucht«, flüsterte sie leise in mein Ohr. Dann schaute sie mich erwartungsvoll an. »Ah, ja? Und was war das Geheime daran?« »Alle trugen Masken, ich auch. Dabei habe ich mich gefühlt, als sei ich in den Film Eyes Wide Shut von Stanley Kubrick versetzt worden; in die Szene in der schlossartigen Villa, die man nur mit einem Passwort betreten kann. Kennst du den Film?« Als ich nickte, redete sie schnell und atemlos weiter, ihre Finger drehten unablässig den Perlenstrang: »Die Frauen tragen venezianische Masken und die Männer Mönchskutten über ihren Anzügen. Erinnerst du dich? Ich fand das irre erotisch, wie dieser düstere Zeremonienmeister mitten in einem Kreis von wunderschönen, fast nackten Frauen steht, dann streng auf eine Lady zeigt und sie einem der geladenen Männer zuweist. Reihum.« In ihren Augen glitzerte es: »Eine Maske zu tragen, fand ich ziemlich scharf. Du weißt, dass dich keiner erkennt, du kannst dich einfach treiben lassen. Dann erlebst du Momente, die du sonst nie zulassen würdest.«

»Welche denn?«, fragte ich und versuchte dabei nicht allzu neugierig zu klingen. Sie antwortete nicht gleich, zupfte erst noch an ihrem perfekten Haarschnitt herum: »Hast du schon einmal eine Frau geküsst? Oder anderen beim Vögeln zugesehen?« Als ich mehr erfahren wollte, schüttelte sie den Kopf: »Ich habe eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben. Wenn es dich interessiert, gehe selber hin. Außerdem bin ich noch verabredet und spät dran.« Dann ging sie auf ihren hochhackigen Pumps davon, und mir war klar, dass sie es genossen hatte, sich mir gegenüber als moderne, erotisch aufgeschlossene Frau zu präsentieren. Julia hatte es geschafft, meine Phantasie war beflügelt, und da ich immer auf der Suche nach interessanten Themen bin, über die ich schreiben kann, startete ich eine Recherche im Internet. Dabei stieß ich auf unendlich viele Erotikpartys und Fetischveranstaltungen. Die Anzahl der möglichen Veranstaltungen grenzte sich auf einige wenige ein, denn ich suchte eine exklusive Party, die auf einem Schloss stattfindet und nicht in einem Swingerclub im Industriegebiet, eine, auf der sich meine Freundin Julia wohlfühlen würde. Als ich über die Nacht der Masken las, dass sie auf einem historischen, herrschaftlichen Schloss in der Mitte von Deutschland stattfinden sollte, dass an diesen Abenden Maskenzwang herrscht und dass die Karten 500 Euro kosten, wusste ich, dass ich Julias geheimnisvolle Party gefunden hatte. Mutig bestellte ich zwei Karten. Obwohl auf der Website versprochen wurde, dass es sich um das erotischste Schloss-Event der Welt handeln sollte, war die eingehende E-Mail sehr sachlich: »Bitte bezahlt innerhalb von drei Tagen. Die Tickets gehen wie immer erst nach Zahlungseingang an Euch raus.« Also überwies ich die 500 Euro und las mich in das Masken-Thema ein.

Als ich zehn Tage später den Umschlag der Eventagentur aufriss, klopfte mein Herz schneller als sonst. Schon die Eintrittskarten waren ein Versprechen, eine junge Frau mit langen Haaren und wohlgeformtem Mund lächelte mich verführerisch an. Ein Verhaltenskodex erklärte die Regeln, die Wegbeschreibung sollte die Paare zu dem verheißungsvollen und bis jetzt geheim gehaltenen Ort führen. Die Verschwiegenheitserklärung lag ebenfalls bei. Nun galt es, meinen Freund Thomas für das Vorhaben zu gewinnen, denn das Schloss der Lust wollte und durfte ich nach den Regeln der Veranstalter nicht allein erkunden. Als er hörte, dass er seine Personalien angeben muss, reagierte er zurückhaltend. Als ich ihm die Internetseite zeigte, staunte er. Und nachdem er gelesen hatte, dass uns dort ein sinnliches Fest, dekadente Ausschweifungen und prickelnde Erotik erwarten würden, zögerte er nicht länger: »Wenn es dir bei deinen Recherchen hilft – warum nicht?« Dabei grinste er.

 

 

Endlich ist es so weit, am letzten Freitag im November steuert Thomas sein BMW Cabrio in der Festkleidung eines Adligen. Die weißen Rüschenmanschetten fallen locker über seine Hände, das passende Spitzenjabot auf der Brust lugt aus dem Ausschnitt seines roten Gehrocks, die ledernen Stulpenstiefel gehen weit über die Knie. Während er zufrieden mit seiner Kleiderwahl ist, hadere ich mit meiner: »Hätte ich dich doch lieber zum Kostümverleiher begleiten und ein sittsames historisches Kleid nehmen sollen? Oder das kurze, dekolletierte silberne Cocktailkleid mit Nahtnylons?« Er schaut kurz zu mir herüber: »Meine Abenteurerin, ich finde dich hinreißend schön.« Je näher wir dem Ziel kommen, desto enger schnürt mich die goldglänzende Korsage ein, der farblich passende Rock scheint mit jedem Kilometer kürzer zu werden. Nervös reibe ich meine glänzenden Beine aneinander: »Egal was uns dort erwartet, wir beobachten nur. Vergiss nicht: Du bist mein zweites Paar Augen und Ohren, denn Aufnahmen darf ich dort keine machen, weder Bild noch Ton.« Thomas legt seine Hand auf meinen Oberschenkel und streichelt mit dem Daumen die nackte Haut, die über dem glatten Abschluss des halterlosen Strumpfes unter dem Rock hervorblitzt. »Wenn alle Frauen dort so aussehen wie du, wird das aber schwierig mit der Konzentration werden. Vielleicht ist die gesamte Aufmachung der Internetseite aber auch nur ein Marketingtrick, um ein Vier-Gänge-Menü möglichst teuer zu verkaufen.« Unser Ziel, ein Dorf, dessen Hauptattraktion das Schloss ist, liegt in einer dünn besiedelten, waldreichen Gegend. Thomas parkt neben einem Porsche mit Hamburger Kennzeichen, der Sportwagen ist nicht die einzige Edelkarosse, die hier steht. Bevor wir aussteigen, setzen wir unsere Masken auf. Thomas trägt ein schlichtes silbernes Modell und ich ein kunstvoll gearbeitetes Meisterwerk aus Venedig. Voilà, das Spiel kann beginnen, wir sind bereit für die Nacht der Masken!

An Thomas' Arm stöckle ich vorsichtig über das Pflaster, der Wind bauscht meinen langen Samtmantel kurz auf. Fackeln beleuchten das große hölzerne Tor. Vor uns geht ein Pärchen in Wintermänteln. Sie hat ihre Maske mit einem Kranz aus schillernd blauen Federn schon auf, er trägt eine weiße Larve in der Hand. Der Eingang wird von zwei Männern in wattierten Jacken bewacht. Die Masken dienen als Erkennungszeichen, dass wir zu den fünfzig Paaren jenes elitären Zirkels gehören, der die ehemalige Sommerresidenz der großherzoglichen Familie dieser Region heute in ein Lustschloss verwandeln wird. Ob das dem Landgrafen recht wäre? Vielleicht, der Adel hat schon immer gern dekadent gefeiert. Ohne viel zu fragen, öffnen die ›Wachen‹ uns das Tor und zeigen Richtung Hauptturm. Ich gehe hinter Thomas eine schmale Treppe nach oben, die Decke ist so niedrig, dass er den Kopf einziehen muss. Im ersten Raum sitzt eine Frau mit pechschwarzen Haaren in einem roten, tief dekolletierten Abendkleid an einem Tisch, über den eine dunkle Samtdecke gebreitet wurde. Ihr reiche ich unsere Personalausweise und Eintrittskarten. Sie vergleicht die Namen mit der Liste der Anmeldungen, die unterschriebenen Verschwiegenheitserklärungen heftet sie in einem bereits gut gefüllten Ordner ab. Mit freundlichem Lächeln erklärt sie: »Bitte habt Verständnis dafür, dass Ramona einen Blick in eure Tasche werfen wird. Kameras und Fotohandys sind bei uns verboten.« Wir werden sogar kurz abgetastet, erst dann dürfen wir eintreten. Eine steile Treppe führt in die kleine feine Bar hinunter, deren Fensterfront sich zum Innenhof der Burg öffnet. Thomas nimmt zwei Gläser Sekt von einem Tablett, und wir setzen uns auf eines der Ledersofas. Neben mir unterhält sich eine Rokokodame mit ihrem Begleiter auf Französisch. Eine junge Frau lehnt lässig an der Theke, das eng geschnürte rote Oberteil formt ihr eine sehr schlanke Taille, auf dem kupfernen Haar sitzt frech ein burleskes Hütchen mit Schleier. Sie bestellt sich »One glass of white wine, please«. Im Spiegel sehe ich mich, eine geheimnisvolle Frau, die Steine auf der Maske funkeln im Licht der Bar, zwei dämonische Köpfe zieren rechts und links meine Schläfen, zwei Eidechsen winden sich bis zu den Lippen hinunter. Die Echsenaugen glitzern gefährlich, während meine im Dunkeln liegen.

Der Mann am Klavier spielt gelassen It's ecstasy when you lay down next to me von Barry White, und ich frage mich, was er schon alles auf der Nacht der Masken gesehen hat. Mehr als Augenkontakte und Wortgeflüster? Sanfte Berührungen? Handfeste Begegnungen? Der Gastgeber René, in schwarzer Husarenuniform mit glänzenden Messingknöpfen, klopft an sein Glas: »Willkommen, liebe Gäste, welcome und bonsoir. Wir freuen uns, dass wieder so viele von euch unserem Wunsch gefolgt sind und die zahllosen Möglichkeiten, sich erotisch zu kleiden, so phantasievoll genutzt haben. Das macht die Atmosphäre unserer Nacht aus.« Die Frau, die gemeinsam mit uns die Burg betreten hatte, lässt die Hände über ihr Kleid gleiten, das mehr Haut entblößt als bedeckt. Mit ihrer Figur könnte sie ein Bikini-Model sein. »Wer die extravaganten Fetischoutfits, die historischen Kostüme und die vielen verführerischen Ideen unserer schönen Gäste sieht, weiß, warum wir zusammen sind. Wir sind hier, um gemeinsam einen sündigen Abend zu erleben.« Das Versprechen lässt die Augen der Gäste leuchten, wie zur Bestätigung nicken sich einige kurz zu.

 

 

»Bevor wir zum Essen gehen, möchte ich noch an unsere Spielregeln erinnern. Wachsspiele sind nicht erlaubt, auch nicht im Gewölbekeller – das ist dem Schlossbesitzer zu gefährlich. In den Gemächern der Burg haben wir wieder SM-Spielgeräte aufgestellt. Das Verlies ist geheizt, und wem es dort zu hart zugeht, verlässt bitte ruhig den Raum, ohne das Szenario zu stören. Es gibt für jeden erotischen Wunsch einen Ort. Respektiert bitte die Lust des anderen und vergesst nicht: Wir sind eine tolerante Gesellschaft. Genug der Worte, lasst uns feiern! Folgt mir über den Hof in den Rittersaal.« Er öffnet die Tür, kalte Novemberluft dringt in die Bar. Die Damen ziehen fröstelnd die dünnen Seidenstolas um die nackten Schultern. Ein Spalier von Feuerschalen beleuchtet den Innenhof, der Schein der Flammen verbreitet orangefarbenes Licht, die Schatten der über den Hof eilenden Paare tanzen auf den alten Burgmauern.

Im Hauptbau schreiten wir eine Wendeltreppe hinauf, die uns in den Rittersaal führt. Auf einer kleinen Bühne spielen zwei Musiker klassische Musik. Die Tische sind mit silbernen Leuchtern, Masken und Federschmuck festlich dekoriert. Schwarz gekleidete Kellnerinnen und Kellner bieten eisgekühlten Chardonnay oder einen wohltemperierten Merlot an. Gläser klirren aneinander, Gelächter weht durch den Raum.

Wer bereits an den Tischen sitzt, verfolgt mit neugierigen Blicken diejenigen, die einen Platz suchen – sehen und gesehen werden scheint ein Teil des Vergnügens zu sein. Während ich auf schwindelerregend hohen Schuhen unsicher durch den Saal schreite, fühle ich mich trotz Maske ziemlich verletzlich und überhaupt nicht mehr als Undercover-Reporterin. Zögerlich gehe ich auf einen halb besetzten Tisch zu. Sofort springt ein Herr im historischen Festgewand auf. Die Schnallenschuhe, die brokatene Manteljacke und die lockige Langhaarperücke kennzeichnen ihn als Mann des Hochadels. Zuvorkommend rückt er mir einen Stuhl zurecht: »Darf ich uns vorstellen?« Er weist auf seine Begleiterin, die huldvoll das Haupt neigt. »Marie Angélique, die Mätresse des Königs.« Mit einer leichten Verbeugung zeigt er auf sich: »Wir sind König Ludwig XIV.«

Er redet von sich nur im Pluralis Majestatis, fällt während des gesamten Essens nicht aus seiner Rolle. Ein Pärchen aus Holland kommt hinzu. Sie trägt ein Kleid aus schwarz glänzendem Satin, die Taille ist mit einem Korsett eng geschnürt, der Rock fällt lang zu Boden. Aber das Besondere ist, dass bei dem Kleid der O, und um ein solches handelt es sich, die Brust unverhüllt ist. Die Holländerin hat eine gewaltige Oberweite, und fasziniert schaue nicht nur ich auf diese prächtigen weißen Brüste. Als Schmuck trägt sie ein Halsband mit einer Öse, ihr devotes Bekenntnis ihrem Mann gegenüber. Er, im klassisch schwarzen Abendanzug, von Beruf Arzt, stellt einen kleinen Lederkoffer neben sich ab.

Seine Maske mit Schnabelfortsatz erweist sich beim ersten Gang, einem köstlichen Steinpilz-Tiramisu, als tückisches Hindernis. Nach einem leichten Cremesüppchen und vor dem gebratenen Wolfsbarschfilet steht der Arzt auf, seine Frau folgt ihm mit gesenktem Kopf. Was wird mit ihr geschehen?

Diesem ersten Geheimnis des Abends möchte ich unbedingt auf die Spur kommen, und so lasse ich mich in den Gewölbekeller locken. Mit seinem Andreaskreuz und den Käfigen wirkt er wie ein mittelalterlicher Folterkeller. Kleine Rollwägen, bestückt mit Kondomen, Desinfektionsspray und Kosmetiktüchern, stehen neben dem Sklavenstuhl und der Streckbank. Düstere Choräle unterstreichen die schaurige Atmosphäre. Doch für das holländische Paar scheint es der richtige Ort zu sein: Sie senkt den Kopf vor ihm, er nimmt ihre Demutsgeste an und befiehlt ihr, sich an das Andreaskreuz zu stellen. Dort fixiert er sie mit stabilen Ledermanschetten, seinem Koffer entnimmt er eine Gerte. Ich wage nicht weiter hinzuschauen, beim Verlassen des Raumes begleitet mich das klatschende Geräusch von Leder, das auf nackte Haut trifft. Von ihr höre ich keinen Laut. Als die beiden wieder bei uns am Tisch eintreffen, zeigen die imposanten Brüste der O deutlich die Spuren seines Handelns, und sie wird von Ludwig XIV. zu diesem Umstand befragt. Mit niedergeschlagenen Augen, aber mit Stolz in der Stimme gesteht sie: »Das hat mein Meister getan.« Ludwig XIV. ist sprachlos.

Mittlerweile ist es im Rittersaal sehr heiß. Die Frauen fächeln sich Luft zu, die Männer öffnen die Anzugjacken. Ein weibliches Künstlerpaar bietet auf einer improvisierten Bühne eine kleine szenische Performance. Thomas ist entzückt, wird die junge Frau, die einen knabenhaften Pagen spielt, dabei doch von der Schlossherrin entkleidet. Als diese dann gänzlich undamenhaft ihren Rock rafft, kommt ein schwarzer Umschnalldildo zum Vorschein. Sie zieht ihre junge Gespielin auf den Schoß und vögelt sie, die silbern leuchtenden Sterne auf den Brustwarzen des Pagen wippen heftig auf und ab.

 

 

Anregende Inspiration bietet nicht nur die kleine Theaterinszenierung, nein, die Maskenträger selbst sind das Programm. Die weiblichen Gäste genießen es, sich zu präsentieren und ihre körperlichen Reize gekonnt in Szene zu setzen. Entsprechen sie auch nicht alle dem gängigen Schönheitsideal, so stört das die erotische Atmosphäre doch keineswegs. Durchtrainierte Herren zeigen sich im Kettenhemd, im Rock und einer, sehr gewagt, zwar mit Smokinghemd und Stiefeln, allerdings ohne Hose. Einige Gäste haben den Saal bereits vor dem letzten Gang, der Crème brûlée mit Cassis-Eis, verlassen. Aber nun, da das Mahl beendet ist, strömen auch die anderen rasch hinaus. Ich dränge Thomas zum Aufbruch, um nichts von dem sinnlichen Live-Schauspiel zu verpassen, das die Paare, die sich die Lizenz zur Ausschweifung gegeben haben, sicher bieten werden. Den roten Lichterschlangen folgend gehen wir einen langen Flur entlang, rechts und links führen Türen in Liebeszimmer. Die Mätresse des Königs Marie Angélique hat ihr historisches Gewand wohl an der Garderobe abgegeben, denn sie liegt statt im edlen Kleid nur noch mit Netzstrümpfen und High Heels bekleidet auf dem breiten Bett und lässt sich gleich von mehreren Herren des Hofes verwöhnen. Die nächste Tür ist angelehnt, beim Vorbeigehen vernehmen wir lustvolles Stöhnen und das rhythmische Klatschen von Haut auf Haut. Diskret huschen wir weiter, während andere sich genau dort hineindrängen. Der Mann mit der weißen Larve trägt statt Krawatte jetzt ein stabiles Seil um den Hals, und seine Bikini-Schönheit zieht ihn in einen der herrschaftlichen Säle. Sprachlos bleibe ich im Eingang stehen. Im Halbdunkel finden die Maskierten zusammen, lieben sich in einer freien, wilden Choreografie, die dezente Musik untermalt das erregte Seufzen und Keuchen. Doch bei genauerem Hinsehen löst sich das Bild in einzelne Szenen auf. Ein Paar bewegt sich als Schattenspiel hinter einem Paravent, er kniet zwischen ihren weit gespreizten Beinen, sie biegt den Kopf zurück, die Silhouette seines Schwanzes ragt kurz steil empor, bevor er in sie eindringt. Ein indischer Maharadscha kniet auf einem Bänkchen vor seiner Tempeltänzerin, die sich lasziv auf einem gynäkologischen Stuhl räkelt. Sein Zungenspiel scheint virtuos zu sein. Sie stöhnt erst verhalten, dann lauter, ab und an von kleinen Lustschreien unterbrochen. Thomas gibt mir einen sanften Schubs, so dass ich die Schwelle zum Saal überschreite, vor der ich unwillkürlich verharrt habe. Wir gesellen uns zu den Zuschauern, die an der Wand lehnen, um das Treiben zu beobachten. Das Paar neben mir tauscht verliebte Blicke aus, bevor sie ihren Rock nach oben schiebt, den Po dichter an den Körper ihres Liebsten drängt, und er seine Finger zwischen Haut und Stoff schiebt. Es ist ein aufregendes Gefühl, Voyeur zu sein. Auch die Augen von Thomas glänzen, seine Grübchen sind doppelt so tief und sein Grinsen viel breiter als sonst. Diese eindeutigen Bilder machen an, und wenn wir uns nicht mitreißen lassen möchten, dann wird es jetzt Zeit für eine Pause. Leise schlage ich einen Wechsel in die Bar vor. Dort lassen wir uns kalten Champagner servieren. Der Mann am Klavier spielt When the wild roses grow, und wir träumen beide vor uns hin.

An der Theke stehen ein Mann und eine Frau eng beisammen, die Rollen sind klar verteilt, Lederhose, schwarzes Hemd und Ledermaske kennzeichnen ihn als ihren Herren. Ein dunkelrotes Samtcape, ein breites Metallhalsband und hohe Lackpumps sind ihre einzige Bekleidung. Streng blickt er ihr in die Augen und befestigt eine Leine an der Öse ihres Halsbandes. »Ab in die Hölle«, flüstert sie mir ahnungsvoll zu, lässt sich aber bereitwillig davonziehen. »Lass uns den beiden folgen«, schlägt Thomas vor. »Im Verlies war ich noch nicht.«

Die junge Sklavin liegt auf der Streckbank, ihre helle Haut leuchtet verführerisch im Halbdunklen, an den Füßen trägt sie noch die Pumps. Das Cape dient als Unterlage, ihr nackter Körper ist schutzlos den Blicken der Zuschauer preisgegeben, die sich in diskretem Abstand aufgestellt haben. Sie genießt es, ausgeliefert zu sein, ihr glücklicher, beinahe entrückter Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel daran. Mit den Riemen einer Peitsche streichelt er zärtlich ihre schmale Taille, streift wie zufällig die Innenseiten ihrer Schenkel. Dann lässt er die Riemen kreisen und durch die Luft sausen, mit einem satten, schnalzenden Geräusch treffen sie auf den Venushügel. Sie ballt die Fäuste, ihre schwarz lackierten Fingernägel graben sich kurz in die Handballen, ihre roten Lippen öffnen sich leicht. Das Publikum verhält sich leise, fast andächtig, liturgische Gesänge verstärken die feierliche Stimmung.

Bevor die private Inszenierung der beiden zu Ende ist, verlassen wir den Gewölbekeller und steigen die Treppe hinauf ins große Renaissancezimmer. Erschöpft lasse ich mich auf einem der Sofas nieder – so viele Eindrücke, die ich festhalten möchte. Thomas fragt, ob er mich kurz allein lassen kann. Während ich ihm nachsehe, fällt mir ein Maskierter auf, seine goldene Maske passt perfekt zu seinem Hautton. Ich kann kaum den Blick von ihm wenden, so fasziniert er mich. Da nähert er sich mir.

 

 

Habe ich ihn zu lange betrachtet und damit ein Zeichen ausgesandt? Er fasst galant nach meiner Hand und küsst sie. Meine Nackenhaare stellen sich angenehm auf. Abwartend steht er da, bis ich eine einladende Geste mache, er setze sich nah zu mir.

»Darf ich Sie lieben?«, flüstert er mir ins Ohr: Neugierig wende ich mich ihm zu, haselnussbraune Augen blicken mich freundlich an: »Ich versuche bei jeder Nacht der Masken dabei zu sein, egal wo ich mich gerade aufhalte. Diesmal bin ich aus New York hergeflogen. Nur in Deutschland kann man so frei lieben. Die Amerikaner sind zu prüde für so ein amouröses Vergnügen, die Engländer trinken viel zu viel, und in Asien gibt es nichts Vergleichbares.« Dabei streichelt er mit seiner Hand meinen Arm hinauf, und ich vermeide es, ihm in die Augen zu sehen, während er mit dem Finger die Linie meines Halses nachfährt. Ich weiß nicht, wohin das führen soll, und hoffe, dass Thomas gleich wieder auftauchen wird. Stattdessen steht eine schlanke Frau vor mir, ich habe sie mit dem Goldmaskierten beim Essen gesehen. Lächelnd blickt sie zu mir herunter und legt mir ihre kostbare Stola wie einen Schleier über das Gesicht. Der Mann mit der Goldmaske streift mir den Mantel von den Schultern. Sie setzt sich auf meine andere Seite, nimmt meine Hand und führt sie zu ihren Lippen. Der Schleier, so zart und leicht, fast gewichtslos, hebt und senkt sich vom heißen Atem. Ich halte still, spüre ihren beschleunigten Herzschlag im Gleichklang mit meinem.

»Deine Korsage sitzt viel zu locker. Darf ich sie dir enger schnüren?« Wortlos drehe ich ihr den Rücken zu. Sie löst erst die Bänder, um sie dann doppelt so fest zuzuziehen. Ich bekomme kaum noch Luft, auch weil der Fremde seine Hand auf meinen nun ansprechend präsentierten Busen legt. Thomas, beobachtet er uns vielleicht schon und fragt sich, ob ich meinem Vorsatz, nur zu beobachten, untreu werde? Vorsichtig hebe ich den Schleier und sehe dem Goldmaskierten direkt in die verheißungsvollen Augen. Ich will mich diesem einfühlsamen Spiel des unbekannten Paares nicht abrupt entziehen, aber es doch beenden. Mit einem bedauernden Lächeln sage ich: »Sorry, ich suche keinen Sex mit Fremden.« Jetzt blicken seine Augen verständnislos. Oh verdammt, da hätte mir wirklich etwas Charmanteres einfallen können. Hilfe suchend blicke ich zur Tür, da steht Thomas und lächelt. Ich bin sehr froh, ihn zu sehen. Langsam stehe ich auf, lege der Schönen die Stola wieder um die Schultern, beuge mich kurz zu ihr und hauche ihr einen Kuss auf die Lippen.

»Na, genug gesehen?«, Thomas' Stimme ist weich und dunkel. »Lass uns aufs Zimmer gehen.« Das wollte ich auch gerade vorschlagen.

 

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Die Interviews

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CLAUDIUS

 

 

Er ist die perfekte Besetzung für den Mann am Klavier. Groß, blond, Anfang dreißig, gut aussehend. Er begleitet den Auftritt der phantasievoll gekleideten und maskierten Gesellschaft mit Klängen von Billy Joel. Mit blauen Augen und smartem Lächeln blickt er ab und zu von den schwarzweißen Tasten auf und sucht die Augen in den verhüllten Gesichtern. Als sich unsere Blicke treffen, ist mir sofort klar, dass ich mit ihm sprechen möchte. In einer seiner Spielpausen treffe ich ihn in der in dezentes Licht getauchten Bar.

 

Mit einem Glas Whisky in der Hand in einem Sessel sitzen, eine exzellente Cohiba-Zigarre rauchen und sich nett unterhalten, das kannst du in jeder guten Lounge. Aber das, was ich zu sehen bekomme, das gibt es in so ungezwungenem Rahmen nur hier. Das ist der ganz besondere Reiz an diesem Engagement. Wenn ich in meinem beruflichen Umfeld, ich bin Rechtsanwalt, ein paar Tage freinehme, um hierherzukommen, erzähle ich die halbe Wahrheit. Meist sage ich, dass ich auf einem Schloss bei einer sehr eleganten Veranstaltung Klavier spiele. Wenn der eine oder andere Kollege Näheres wissen möchte, frage ich einfach: »Kennst du Eyes Wide Shut?« Die meisten antworten: »Ja, klar.«

»So ähnlich ist es dort – und ich, ich bin der Mann am Klavier.« Genau das ist meine Rolle, ich bin Nick Nightingale, der Freund von Bill Harford aus dem Film Eyes Wide Shut oder Nachtigall, der Pianist aus Schnitzlers Traumnovelle. Ich habe sowohl die Traumnovelle als auch den Film erst gelesen beziehungsweise gesehen, nachdem ich schon über ein Jahr hier Klavier gespielt hatte. Aber ich dachte sofort: In der Tat, das ist genau mein Job. Nur dass mir nicht die Augen verbunden werden, ich darf zuschauen. Aber ansonsten ist die Parallele verblüffend, und ich genieße das sehr. Wobei Schnitzler das Treffen viel geheimnisumwobener dargestellt hat als Stanley Kubrick. In seiner Novelle sind die geladenen Gäste Mitglieder eines Geheimzirkels. In gewissem Sinne trifft das auch auf die Gäste der Nacht der Masken zu, das zeigen schon die Eingangskontrollen und das Prozedere, wie man überhaupt an Karten kommt. Auch hier trifft sich eine geschlossene Gesellschaft. Dass man sich für dieses Event nicht noch schnell an der Abendkasse eine Karte kaufen kann, trägt, genau wie das Ambiente, zum exklusiven Ruf dieser Veranstaltung bei. Es ist ein Abend, auf den man sich lange vorbereitet. Dem Besuch geht eine bewusste Entscheidung voraus, so kommt der elitäre Kreis zustande.

Ich weiß nicht, was für eine Musik Nachtigall gespielt hat, ich habe mich für stilvolle Barmusik entschieden. Genau wie dieser fiktive Pianist bin ich durch Zufall in den Zirkel geraten. Meine Exfrau ist gut mit den Veranstaltern Jaqueline und René befreundet. Wir waren bei ihnen privat zum Essen eingeladen. Nach dem Essen habe ich mich ans Klavier im Wohnzimmer gesetzt und gespielt. Sie waren sehr angetan und meinten, sie bräuchten noch einen Pianisten für ihre stilvollen Partys, ›Maskenbälle‹ nannten sie diese. Ohne weiter nachzufragen, habe ich gesagt: »Wenn ihr einen Pianisten braucht, dann bin ich euer Mann.« Das war 2003. Meine damalige Frau wusste wohl etwas mehr darüber, aber ich hatte keinen Schimmer. Als Jaqueline mir dann verraten hat, was sich hinter dem harmlosen Begriff ›Maskenball‹ verbirgt, war ich schon ziemlich aufgeregt. Ich war gerade Mitte zwanzig und hatte bis dahin keine Berührungspunkte zu der BDSM- oder Fetischszene. Für diejenigen, denen es so geht wie mir damals, eine kleine Erklärung des Begriffes BDSM. Es ist die englische Abkürzung für sexuelle Spielarten, die man früher einfach als Sadomasochismus bezeichnet hat: BD steht für ›Bondage and Discipline‹ – Fesslung und Disziplin. DS für ›Dominance and Submission‹, Dominanz und Unterwerfung. SM für ›Sadism and Masochism‹ – die Lust am Zufügen oder Empfangen von Schmerzen. Ich versuchte als Musiker eine professionelle Haltung einzunehmen und sagte: »Ich gehe dahin, mache meinen Job, und das war es.« Da sich Jaqueline meinen Auftritt stilvoll wünschte, habe ich mich für einen Smoking entschieden und mir eine Maske mit aufgedruckten Klaviernoten gekauft, die ich heute noch trage. Bei der ersten Veranstaltung saß ich verschüchtert am Klavier und beobachtete mit großen Augen, wie die maskierten Gäste mir eine Vorstellung gaben. Sie flirteten, streichelten, küssten und liebten sich so, als ob sie in ihren privaten Schlafzimmern wären und nicht in der Bar eines Schlosshotels. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Seitdem bin ich regelmäßig zwei bis drei Mal im Jahr dabei und spiele Klavier. Bin ich zum ersten Abend noch als reiner Dienstleister erschienen, komme ich seitdem auch aus eigener Überzeugung. Da viele Gäste regelmäßig kommen, habe ich schnell einige Besucher näher kennengelernt, und das Team natürlich, das die Partys ausrichtet. Es gibt einen konstanten Kern an Personen, mit denen ich nun seit Jahren gut befreundet bin, und ich freue mich immer, sie wiederzutreffen. Beim Aufbau erzählen wir uns, was jeder die vergangenen Monate über gemacht hat.

 

 

Bei der Nacht der Masken spiele ich in der Bar, bei der Nacht der Leidenschaft bin ich Gast. Wenn alles vorbei ist, beteilige ich mich auch am Abbau, das ist ein schönes Gesamtpaket, das sich für mich über drei bis vier Tage erstreckt. Anfangs war ich bei der Nacht der Leidenschaft nicht dabei, aber nach einer Weile hat sie mich interessiert und ich fragte Jacqueline, ob ich eine Nacht länger bleiben könnte. Das war überhaupt kein Problem. Ich schätze beide Veranstaltungen: An der Nacht der Masken liebe ich die dezente Hintergrundmusik, das Stilvolle, den beinahe förmlichen Ablauf und dass die Masken nicht vor Mitternacht fallen. Die Nacht der Leidenschaft ist lockerer, es sind wesentlich mehr Leute da, es geht ausgelassener und wilder zu. Egal für welche Party man sich entscheidet: Man genießt einfach einen großen Freiraum, innerhalb dessen man sich ausleben kann.