Personenregister

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Die Oblonskijs

Die Karenins

Die Wronskijs

Die Schtscherbazkijs

Die Ljewins

weitere Personen

8

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Sobald der Professor gegangen war, wandte sich Sergei Iwanowitsch seinem Bruder zu.

»Ich freue mich sehr, daß du hergekommen bist. Bleibst du lange in Moskau? Was macht die Wirtschaft?«

Ljewin wußte, daß die Wirtschaft seinen älteren Bruder wenig interessierte und er sich nur aus freundlichem Entgegenkommen danach erkundigte; daher beschränkte er sich auf einige Mitteilungen über den Verkauf des Weizens und über Geldangelegenheiten.

Ljewin hatte dem Bruder von seinen Heiratsabsichten sagen und ihn um seinen Rat bitten wollen; er hatte es sich sogar ganz fest vorgenommen. Aber als er seinen Bruder gesehen und sein Gespräch mit dem Professor mit angehört hatte und als er nun den unwillkürlich gönnerhaften Ton hörte, in dem sich der Bruder nach den Wirtschaftsangelegenheiten erkundigte (das Gut, das ihrer Mutter gehört hatte, war nicht geteilt worden, und Ljewin verwaltete beide Anteile), da fühlte er, daß er es nicht fertigbrächte, mit seinem Bruder über seine Absicht, sich zu verheiraten, zu reden. Er hatte die Empfindung, sein Bruder werde die Sache nicht so anschauen, wie es ihm erwünscht wäre.

»Nun, und was macht euere Kreisverwaltung?« fragte Sergei Iwanowitsch, der sich für diese Einrichtung lebhaft interessierte und ihr große Bedeutung beimaß.

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Aber bist du denn nicht Mitglied der Verwaltung?«

»Nein, ich bin nicht mehr Mitglied; ich bin ausgetreten«, erwiderte Ljewin. »Ich besuche auch die Versammlungen nicht mehr.«

»Das ist ja schade!« versetzte Sergei Iwanowitsch, die Stirn runzelnd.

Um sein Verhalten zu rechtfertigen, begann Ljewin zu erzählen, wie es bei diesen Versammlungen in seinem Kreise zugehe.

»Ja, so ist das doch immer!« unterbrach ihn Sergei Iwanowitsch. »Wir Russen sind immer so! Vielleicht ist das ja auch ein ganz guter Zug in unserem Charakter, daß wir einen Blick für das haben, was bei uns mangelhaft ist. Aber wir fassen diese Mängel zu schlimm auf und finden unser Vergnügen an einer ironischen Kritik, die uns immer auf der Zunge bereit liegt. Ich will dir nur sagen: wenn man die Rechte, mit denen unsere ländliche Selbstverwaltung ausgestattet ist, einem anderen europäischen Volke verliehe, – die Deutschen und die Engländer würden auf dem Grundpfeiler dieser Rechte das Gebäude ihrer Freiheit errichten; aber wir lachen und spotten nur.«

»Aber was ist zu machen?« erwiderte Ljewin etwas schuldbewußt. »Das war mein letzter Versuch. Und ich hatte ihn aus ganzem Herzen unternommen. Ich kann nicht mehr. Ich bin dazu unfähig.«

»Unfähig bist du dazu nicht«, sagte Sergei Iwanowitsch, »du betrachtest die Sache nur von einem falschen Standpunkte aus.«

»Mag sein«, antwortete Ljewin bedrückt.

»Weißt du auch schon: unser Bruder Nikolai ist wieder hier.«

Dieser Nikolai war Konstantin Ljewins älterer rechter Bruder, Sergei Iwanowitschs Stiefbruder, ein verkommener Mensch, der den größten Teil seines Vermögens durchgebracht hatte, in ganz sonderbarer, schlechter Gesellschaft verkehrte und mit seinen Brüdern zerfallen war.

»Was sagst du da?« rief Ljewin erschrocken. »Woher weißt du das?«

»Prokofi hat ihn auf der Straße gesehen.«

»Hier in Moskau? Wo ist er? Weißt du es?« Ljewin sprang vom Stuhle auf, als ob er sogleich zu Nikolai hineilen wolle.

»Es tut mir schon leid, daß ich dir etwas davon gesagt habe«, erwiderte Sergei Iwanowitsch und schüttelte den Kopf über das aufgeregte Benehmen seines jüngeren Bruders. »Ich habe Erkundigungen einziehen lassen, wo er wohnt, und ihm den Wechsel, den er diesem Menschen, dem Trubin, ausgestellt hatte und den ich eingelöst habe, zugesandt. Hier ist die Antwort, die er mir geschickt hat.«

Sergei Iwanowitsch nahm unter dem Briefbeschwerer einen Zettel hervor und reichte ihn seinem Bruder hin. Dieser las folgendes, was in einer sonderbaren, ihm so wohlvertrauten Handschrift geschrieben war: »Ich bitte ergebenst, mich in Ruhe zu lassen. Das ist das einzige, was ich von meinen lieben Brüdern verlange. Nikolai Ljewin.«

Als Ljewin dies durchgelesen hatte, blieb er, ohne den Kopf aufzurichten, mit dem Zettel in der Hand vor Sergei Iwanowitsch stehen.

In seiner Seele kämpften miteinander der Wunsch, den unglücklichen Bruder jetzt zu vergessen, und das Bewußtsein, daß dies eine Schlechtigkeit wäre.

»Er will mich offenbar beleidigen«, fuhr Sergei Iwanowitsch fort, »aber mich zu beleidigen ist er nicht imstande; ich wünschte von ganzem Herzen, ihm zu helfen; aber ich weiß, daß das ein Ding der Unmöglichkeit ist.«

»Jawohl, jawohl«, versetzte Ljewin. »Ich verstehe und achte dein Benehmen ihm gegenüber; aber ich meinerseits will doch zu ihm gehen.«

»Wenn du dazu Lust hast, so gehe hin; aber raten kann ich dir nicht dazu«, erwiderte Sergei Iwanowitsch. »Das heißt, für mich selbst habe ich dabei keine Besorgnis; er wird dich nicht mit mir entzweien; aber in deinem Interesse möchte ich dir raten, lieber nicht hinzugehen. Zu helfen ist ihm nicht. Handle jedoch, wie du willst.«

»Vielleicht ist ihm wirklich nicht zu helfen; aber ich fühle, und ganz besonders in diesem Augenblicke – aber das ist eine andere Sache –, ich fühle, daß ich sonst nicht ruhig sein kann.«

»Nun, dafür habe ich kein rechtes Verständnis«, sagte Sergei Iwanowitsch. »Eines aber weiß ich«, fügte er hinzu, »es ist dies für uns eine Lehre in der Demut. Ich habe über das, was man Gemeinheit nennt, anders und nachsichtiger zu urteilen angefangen, seitdem unser Bruder Nikolai das geworden ist, was er jetzt ist. Du weißt, was er getan hat.«

»Ach, es ist schrecklich, ganz schrecklich!« seufzte Ljewin.

Nachdem Ljewin sich von Sergei Iwanowitschs Diener die Wohnung des Bruders hatte angeben lassen, stand er schon im Begriffe, sofort zu ihm zu fahren; aber nach kurzer Überlegung entschied er sich dafür, diesen Besuch bis zum Abend zu verschieben. Vor allen Dingen mußte er, um sein seelisches Gleichgewicht wiederzuerlangen, die Angelegenheit zur Entscheidung bringen, um derentwillen er nach Moskau gekommen war. Daher fuhr er von seinem Bruder Sergei zu Oblonski nach dessen Dienstgebäude, und nachdem er von diesem Auskunft über Schtscherbazkis erhalten hatte, fuhr er dorthin, wo er nach Oblonskis Angabe Kitty zu treffen hoffte.

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Die Ausführung dieses Planes machte viele Schwierigkeiten; aber Ljewin setzte all seine Kraft daran und erreichte, wenn auch nicht alles, was er wünschte, so doch so viel, daß er ohne Selbstbetrug glauben konnte, die Sache sei die darauf verwandte Mühe wert. Eine der Hauptschwierigkeiten lag darin, daß die Wirtschaft bereits im Gange war und es unmöglich war, alles zum Stillstand zu bringen und von neuem anzufangen, sondern gleichsam die Maschine, während sie ging, umgeändert werden mußte.

Als er gleich noch an demselben Abend, an dem er nach Hause zurückgekehrt war, dem Verwalter seine Pläne mitteilte, da stimmte dieser sichtlich mit Vergnügen dem Teile der Auseinandersetzung zu, in dem Ljewin nachwies, daß alles bisher Unternommene Unsinn und unvorteilhaft sei. Der Verwalter bemerkte dazu, das habe er schon längst gesagt; man habe nur nicht auf ihn hören wollen. Was aber den von Ljewin vorgetragenen Plan anlangte, sich als Genossenschafter mit den Arbeitern zusammen an dem ganzen landwirtschaftlichen Unternehmen zu beteiligen, so setzte der Verwalter demgegenüber nur eine sehr trübselige Miene auf, sprach gar keine bestimmte Meinung aus und begann sogleich von der Notwendigkeit zu reden, am nächsten Tage die noch übrigen Roggenhaufen einzufahren und das Land umackern zu lassen, so daß Ljewin merkte, der Verwalter halte den jetzigen Zeitpunkt nicht für geeignet zu solchen Neuerungen.

Als er dann über denselben Gegenstand mit den Bauern sprach und ihnen den Vorschlag machte, ihnen unter neuen Bedingungen Land zu überlassen, da stieß er wieder auf dieselbe Hauptschwierigkeit, daß sie nämlich von der laufenden Tagesarbeit zu sehr in Anspruch genommen waren, als daß sie Zeit gehabt hätten, die Vorteile und Nachteile des Unternehmens ordentlich zu überlegen.

Ein treuherziger Bauer, der Viehwärter Iwan, schien Ljewins Vorschlag, an dem Ertrage des Viehhofes mit seiner Familie Anteil zu erhalten, vollständig zu begreifen und das Unternehmen durchaus zu billigen. Aber sooft Ljewin ihm die künftigen Vorteile klarzumachen versuchte, prägte sich auf Iwans Gesichte eine gewisse Unruhe und ein Bedauern darüber aus, daß er die Auseinandersetzung nicht bis zu Ende anhören könne, und er fand schleunig irgendeine Arbeit für sich, die angeblich keinen Aufschub duldete: entweder griff er nach der Heugabel, um Heu aus dem Schuppen herauszuwerfen, oder er machte sich daran, Wasser einzugießen oder den Dünger auszuräumen.

Eine zweite Schwierigkeit bestand in dem unbesiegbaren Mißtrauen der Bauern, die schlechterdings nicht glauben wollten, daß der Gutsbesitzer ein anderes Ziel im Auge haben könne, als sie soviel wie möglich auszubeuten. Sie waren fest davon überzeugt, daß (er möge zu ihnen sagen, was er wolle) seine wirkliche Absicht immer in dem stecken werde, was er zu ihnen nicht sage. Und wenn sie selbst über den Plan sich äußerten, so sprachen sie zwar sehr viel, verrieten aber niemals ihre wahre Absicht. Außerdem (und hier merkte Ljewin, daß der gallige Gutsbesitzer recht hatte) war die erste und unumstößliche Bedingung, die die Bauern für irgendwelche Zustimmung ihrerseits aufstellten, die, daß sie zu keinerlei neuem Verfahren bei der Landwirtschaft und zu keiner Benutzung neumodischer Geräte gezwungen werden dürften. Sie gaben zu, daß der moderne Pflug besser pflüge, daß der Saatdecker erfolgreicher arbeite; aber sie brachten tausend Gründe vor, weswegen sie weder den einen noch den andern benutzen könnten; und obgleich Ljewin der Überzeugung war, daß er den Stand seines Wirtschaftsbetriebes etwas herabsetzen müsse, so tat es ihm doch leid, auf Vervollkommnungen verzichten zu müssen, deren Vorteile augenfällig waren. Aber trotz aller dieser Schwierigkeiten beharrte er auf seinem Sinne, und zum Herbst kam die Sache in Gang, oder wenigstens schien es ihm so.

Anfangs hatte Ljewin vorgehabt, die ganze Wirtschaft, so wie sie war, den Bauern, den Arbeitern und dem Verwalter unter den neuen genossenschaftlichen Abmachungen zu überlassen; aber sehr bald hatte er sich überzeugt, daß das unmöglich sei, und war zu dem Entschlusse gekommen, die Wirtschaft zu teilen. Der Viehhof, der Obstgarten, der Gemüsegarten, die Wiesen und Felder wurden in verschiedene Abteilungen zerlegt und sollten getrennte Betriebsgebiete bilden. Der treuherzige Viehwärter Iwan, der nach Ljewins Ansicht die Sache von allen am besten begriffen hatte, wählte sich noch einige Genossen dazu, vorzugsweise aus seiner eigenen Familie, und wurde Genossenschafter beim Viehhofe. Ein weit entferntes Feld, das acht Jahre lang brachgelegen hatte, wurde mit Hilfe des klugen Zimmermannes Fjodor Rjesunow von sechs Bauernfamilien auf Grund der neuen genossenschaftlichen Abmachungen übernommen, und der Bauer Schurajew übernahm auf derselben Grundlage die sämtlichen Gemüsegärten. Alles übrige blieb vorläufig noch beim alten; aber diese drei Abteilungen bildeten den Anfang der neuen Wirtschaftsordnung und beschäftigten Ljewin vollauf.

Allerdings ging die Sache auf dem Viehhofe einstweilen nicht besser als vorher, und Iwan widersetzte sich energisch der Unterbringung der Kühe in warmen Ställen und der Bereitung der Butter aus süßer Sahne, indem er behauptete, die Kuh brauche im Kalten weniger Futter, und das Buttern aus saurer Sahne sei ergiebiger. Auch forderte er seinen Lohn wie bei der alten Einrichtung, und es war ihm ganz gleichgültig, daß das Geld, das er erhielt, nicht Lohn, sondern ein Vorschuß auf seinen Anteil am Gewinn war.

Allerdings unterließ es Fjodor Rjesunows Genossenschaft, das Land vor der Aussaat nochmals mit modernen Pflügen umzuackern, wie doch verabredet war, und entschuldigte sich damit, die Zeit sei zu kurz gewesen. Allerdings bezeichneten die Bauern dieser Genossenschaft, obgleich sie mit Ljewin übereingekommen waren, die Bewirtschaftung auf der neuen Grundlage durchzuführen, dieses Land dennoch nicht als gemeinschaftliches, sondern als auf Halbpart gepachtetes, und mehr als einmal hatten sowohl die Bauern dieser Genossenschaft wie auch Rjesunow selbst zu Ljewin gesagt: »Sie hätten eine bestimmte Geldsumme für das Land nehmen sollen; dann hätten Sie mehr Ruhe, und wir hätten mehr freie Hand.« Außerdem schoben diese Bauern immer unter verschiedenen Vorwänden die mit ihnen vereinbarte Erbauung eines Viehhofes und einer Getreidedarre auf diesem Lande auf und zogen die Sache bis zum Winter hin.

Allerdings hatte Schurajew die größte Lust, die von ihm übernommenen Gemüsegärten in kleinen Losen an einzelne Bauern zu verpachten. Er hatte offenbar die Bedingungen, unter denen ihm das Land übergeben war, völlig mißverstanden, und zwar, wie es schien, absichtlich mißverstanden.

Allerdings hatte Ljewin oft, wenn er mit den Bauern sprach und ihnen alle Vorteile des Unternehmens darlegte, die Empfindung, als ob die Bauern dabei nur auf den Tonfall seiner Stimme hörten und sich fest vornähmen, er möge sagen, was er wolle, sich nicht von ihm hinters Licht führen zu lassen. Ganz besonders hatte er dieses Gefühl, wenn er mit dem Klügsten unter den Bauern, mit Rjesunow, sprach und in dessen Augen ein heimliches Aufleuchten bemerkte, in dem sowohl der Spott über ihn, Ljewin, wie auch die bestimmte Überzeugung deutlich zum Ausdruck kam, daß, wenn jemand bei der Sache geprellt werden sollte, dies jedenfalls nicht er, Rjesunow, sein werde.

Aber trotz alledem meinte Ljewin doch, daß die Sache nun in Gang gekommen sei und daß, wenn er nur streng Rechnung führe und bei seinem Vorsatze beharre, er in Zukunft die Bauern von den Vorteilen einer solchen Einrichtung schon noch werde überzeugen können und daß dann die Sache ganz von selbst gehen werde.

Durch diese Geschäfte und dazu noch durch den übrigen Wirtschaftsbetrieb, der in seinen Händen geblieben war, sowie auch durch die schriftstellerische Tätigkeit an seinem Buche, durch all dies war Ljewin den ganzen Sommer über so stark in Anspruch genommen, daß er fast gar nicht auf die Jagd fuhr. Ende August erfuhr er von dem Oblonskischen Diener, der ihm den Sattel zurückbrachte, daß die Familie wieder nach Moskau gereist sei. Er sagte sich, daß er durch die Unhöflichkeit, mit der er den Brief Darja Alexandrownas unbeantwortet gelassen hatte – ein Benehmen, an das er nicht ohne Schamröte zurückdenken konnte –, seine Schiffe hinter sich verbrannt habe und sich bei dieser Familie nie mehr blicken lassen könne. Ebenso unartig hatte er sich auch gegen Swijaschski benommen, indem er, ohne Lebewohl zu sagen, abgefahren war. Er nahm sich vor, auch zu diesem nie wieder hinzufahren. Aber jetzt war ihm das gleichgültig. Die Angelegenheit mit der Umgestaltung seiner Wirtschaft beschäftigte und interessierte ihn so wie bisher noch nie etwas in seinem Leben. Er las die Bücher durch, die ihm Swijaschski gegeben hatte, ließ sich andere, die dieser nicht besaß, von einer Buchhandlung schicken, und las auf diese Art eine Menge nationalökonomische und sozialistische Schriften über diesen Gegenstand, fand aber, wie er das auch erwartet hatte, nichts darin, was auf sein eigenes Unternehmen besonderen Bezug gehabt hätte. In den nationalökonomischen Büchern, zum Beispiel bei Mill, den er zuerst und mit großem Eifer durchstudierte, in der Hoffnung, jeden Augenblick bei ihm die Lösung der ihn beschäftigenden Fragen zu finden, fand er Gesetze, die aus der Lage der europäischen Landwirtschaft abgeleitet waren; aber er konnte nicht einsehen, mit welchem Rechte diese auf Rußland nicht anwendbaren Gesetze als allgemeingültig bezeichnet wurden. Dieselbe Beobachtung machte er bei den sozialistischen Büchern: entweder waren es schöne, aber nicht zu verwirklichende Phantasien, ähnlich denen, für die er sich ehemals in seiner Studentenzeit begeistert hatte, oder Verbesserungen desjenigen Zustandes der Dinge, der in Europa vorhanden war, mit dem aber der Betrieb der Landwirtschaft in Rußland nichts gemein hatte. Die Nationalökonomie behauptete, die Gesetze, nach denen sich der Wohlstand Europas entwickelt habe und noch jetzt entwickle, seien allgemeingültig und zweifellos richtig. Die sozialistische Lehre behauptete, eine Weiterentwicklung nach diesen Gesetzen werde zum Untergange führen. Aber weder bei den Nationalökonomen noch bei den Sozialisten war eine Antwort oder auch nur ein Schatten von Antwort auf die Frage zu finden, was er, Ljewin, und alle russischen Bauern und Landbesitzer mit ihren Millionen von Händen und Deßjatinen anfangen müßten, damit diese dem allgemeinen Wohlstande die größtmögliche Förderung brächten.

Da er diese Sache nun einmal in Angriff genommen hatte, so las er gewissenhaft alles durch, was sich auf diesen Gegenstand bezog, und faßte den Plan, im Herbste ins Ausland zu reisen, um diese Frage auch noch an Ort und Stelle zu studieren, damit es ihm auf diesem Gebiete nicht mehr so gehen könne, wie es ihm schon so oft auf verschiedenen anderen Gebieten ergangen war. Denn kaum hatte er manchmal im Gespräche die Ansicht dessen, mit dem er sich unterhielt, erfaßt und seine eigene Ansicht darzulegen begonnen, so wurde ihm sofort vorgehalten: »Aber Kaufmann und Jones und Dubois und Miceli? Die haben Sie offenbar nicht gelesen. Lesen Sie die; die haben diese Frage gründlich behandelt.«

Er sah jetzt klar, daß bei Kaufmann und Miceli nichts zu finden war, was er gebrauchen konnte. Er wußte, was er wollte. Er sah, daß Rußland gutes Land und gute Arbeiter besaß und daß in manchen Fällen, wie bei dem alten Bauern auf der Hälfte des Weges, die Arbeiter und das Land etwas Tüchtiges hervorbrachten, in den meisten Fällen aber, wo in europäischer Art Kapital angelegt war, nur wenig erzeugt wurde und daß dies lediglich daher kam, daß die Arbeiter nur auf ihre eigene Art arbeiten wollten und auch nur dann gut arbeiteten, und daß dieses Widerstreben nicht nur gelegentlich, sondern dauernd war und seine Grundlagen im Volksgeiste hatte. Er glaubte, daß das russische Volk, das den Beruf habe, ungeheure noch leerstehende Landstrecken zu besiedeln und zu bebauen, so lange, bis alles Land in Benutzung genommen sei, an der dafür notwendigen Art der Bewirtschaftung mit bewußter Absicht festhalten werde und daß diese Art der Bewirtschaftung ganz und gar nicht so schlecht sei, wie man gewöhnlich annehme. Das beabsichtigte er zu beweisen, theoretisch in seinem Buche und praktisch in seiner Wirtschaft.

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Ende September war das Holz für den Bau des Viehhofes auf dem der Arbeitsgenossenschaft überlassenen Stück Land angefahren; die Butter war verkauft und der Gewinn verteilt. In der Wirtschaft, in der Praxis, ging die Sache ausgezeichnet, oder wenigstens schien es Ljewin so. Um aber die ganze Sache theoretisch klarlegen und seine Abhandlung abschließen zu können, die, Ljewins kühnen Hoffnungen zufolge, bestimmt war, nicht nur einen Umschwung in der Nationalökonomie herbeizuführen, sondern diese Wissenschaft vollständig zu beseitigen und den Grund zu einer neuen Wissenschaft zu legen, über das Verhältnis des Volkes zum Erdboden: dazu brauchte er nur ins Ausland zu reisen und an Ort und Stelle alles, was dort nach dieser Richtung hin geschehen war, zu studieren und den zwingenden Beweis zu führen, daß alles, was dort geschehen war, nicht das Richtige und Nötige sei. Ljewin wartete nur, bis er den Weizen werde abgeliefert und das Geld dafür empfangen haben, um ins Ausland zu reisen. Aber es trat andauernder Regen ein, der es nicht nur unmöglich machte, die Kartoffeln, und was noch von Korn auf dem Felde stand, einzubringen, sondern überhaupt alle landwirtschaftlichen Arbeiten hemmte, ja selbst die Ablieferung des Weizens. Auf den Wegen war ein unergründlicher Schmutz; zwei Mühlen wurden durch plötzlich eintretendes Hochwasser weggerissen, und das Wetter wurde noch von Tag zu Tag schlechter.

Am 30. September ließ sich frühmorgens die Sonne wieder ein klein wenig blicken, und in der Hoffnung auf gutes Wetter traf nun Ljewin die endgültigen Vorbereitungen zur Abreise. Er ließ den Weizen aufschütten, schickte den Verwalter zum Händler, um das Geld in Empfang zu nehmen, und ritt selbst auf seinem ganzen Gebiete umher, um vor seiner Abreise die letzten Anordnungen zu treffen.

Nachdem Ljewin alle Geschäfte erledigt hatte, ritt er, ganz durchnäßt von den Regenbächlein, die ihm trotz seines Lederrockes teils in den Hals, teils in die Stiefelschäfte gelaufen waren, aber in der muntersten und angeregtesten Gemütsstimmung am Abend nach Hause zurück. Das Unwetter tobte gegen Abend noch schlimmer. Der Graupelschnee peitschte das Pferd, das am ganzen Leibe naß war und fortwährend Kopf und Ohren schüttelte, so schmerzhaft, daß es in schräger Haltung vorwärts schritt. Ljewin aber fühlte sich unter seiner Regenkappe ganz wohl und blickte fröhlich um sich, bald nach den trüben Bächlein, die in den Wagengeleisen dahinliefen, bald nach den Tropfen, die an jedem kahlen Zweige hingen, bald nach dem weißen Fleck noch nicht geschmolzenen Graupelschnees auf den Brückenbohlen, bald nach dem saftigen, noch fleischigen Laube einer Ulme, das in dicker Schicht um den entblätterten Baum herumlag. Trotz des düsteren Aussehens der ihn umgebenden Natur fühlte er sich in besonders gehobener Stimmung. Die Gespräche mit den Bauern auf dem weit entlegenen Felde hatten ihm gezeigt, daß sie anfingen, sich an ihre neuen Verhältnisse zu gewöhnen. Der alte Herbergswirt, bei dem er für ein Weilchen eingekehrt war, um sich zu trocknen, hatte sich über Ljewins Plan sehr beifällig geäußert und sich aus freien Stücken erboten, in die Genossenschaft als Vieheinkäufer einzutreten.

›Man muß nur beharrlich sein Ziel verfolgen‹, dachte Ljewin. ›Auf die Art werde auch ich das meinige schon erreichen. Und die Sache ist die darauf verwandte Mühe und Arbeit wert. Es ist das nicht etwa nur meine persönliche Angelegenheit, sondern hier handelt es sich um das Wohl der Gesamtheit. Die ganze Landwirtschaft, der wichtigste Teil des Volkslebens, muß vollständig umgestaltet werden. Statt der Armut allgemeiner Wohlstand und Zufriedenheit, statt der Feindschaft Eintracht und Interessengemeinschaft. Mit einem Worte: eine unblutige Umwälzung, aber eine ganz gewaltige Umwälzung, zuerst in dem kleinen Raume unseres Kreises, dann im Gouvernement, in Rußland, in der ganzen Welt. Denn eine wahre, gerechte Idee kann nicht ohne Frucht bleiben. Ja, das ist ein Ziel, für das zu arbeiten es sich verlohnt. Und daß gerade ich auf diese Idee gekommen bin, Konstantin Ljewin, derselbe Mensch, der einmal in schwarzer Krawatte zum Ball gefahren ist und dem Kitty Schtscherbazkaja einen Korb gegeben hat und der sich selbst so kläglich und unbedeutend vorkommt – das beweist gar nichts dagegen. Ich bin überzeugt, daß Franklin sich für ebenso unbedeutend hielt und ebensowenig Selbstvertrauen besaß, wenn er über seine gesamte Persönlichkeit nachdachte. Das will gar nichts besagen. Auch der hat gewiß seine Agafja Michailowna gehabt, der er seine Geheimnisse anvertraute.‹

Unter solchen Gedanken langte Ljewin (es war schon ganz dunkel geworden) wieder zu Hause an.

Der Verwalter war von seiner Fahrt zu dem Händler zurückgekommen und hatte einen Teil des Geldes für den Weizen mitgebracht. Der Vertrag mit dem Herbergswirte wurde aufgesetzt. Unterwegs hatte der Verwalter bemerkt, daß das Getreide noch überall auf dem Felde stand, so daß, wie er hervorhob, seine noch nicht eingebrachten hundertsechzig Haufen nichts waren im Vergleich mit dem, was noch bei andern draußen war.

Nach dem Mittagessen setzte sich Ljewin wie gewöhnlich mit einem Buche in den Lehnstuhl und fuhr während des Lesens fort, zwischendurch an seine bevorstehende Reise und in Verbindung damit an seine Abhandlung zu denken. Heute trat ihm die ganze Bedeutsamkeit dieser seiner Arbeit besonders klar vor Augen, und ganz von selbst bildeten sich in seinem Kopfe vollständige Satzgefüge, die den Kern seiner Ideen ausdrückten. ›Das muß ich mir aufzeichnen‹, dachte er. ›Das soll eine kurze Einleitung bilden, die ich früher für unnötig gehalten habe.‹ Er erhob sich, um an den Schreibtisch zu gehen, und Laska, die zu seinen Füßen lag, stand, sich reckend, gleichfalls auf und sah ihn an, wie wenn sie fragte, wohin es gehen solle. Aber er fand keine Zeit, sich seine Aufzeichnungen zu machen, denn die Vorarbeiter waren gekommen, um sich Anleitungen zu holen, und Ljewin ging zu ihnen hinaus in die Vorhalle.

Nachdem er ihnen die erforderlichen Anleitungen erteilt, das heißt Anordnungen für die Arbeiten des nächsten Tages getroffen und auch alle Bauern empfangen hatte, die ihn sprechen wollten, kehrte Ljewin wieder in sein Zimmer zurück und setzte sich an die Arbeit. Laska legte sich unter den Tisch; Agafja Michailowna setzte sich mit ihrem Strickstrumpf auf ihren gewohnten Platz.

Nachdem Ljewin eine Zeitlang geschrieben hatte, erinnerte er sich auf einmal in ungewöhnlich lebendiger Weise an Kitty, an ihre ablehnende Antwort und an die letzte Begegnung mit ihr. Er stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Sie brauchten sich ja hier nicht mehr zu langweilen«, sagte Agafja Michailowna zu ihm. »Wozu sitzen Sie denn immer noch zu Hause? Sie sollten nach einem Badeorte mit warmen Quellen fahren; mit Ihren Vorbereitungen sind Sie ja glücklicherweise fertig.«

»Ich will ja auch übermorgen abreisen, Agafja Michailowna. Ich muß nur erst mein Unternehmen zum Abschluß bringen.«

»Na, Ihr Unternehmen, das ist schon so das Richtige! Sie haben so schon den Bauern mehr als genug in den Rachen geworfen. Sie sagen ohnehin schon: ›Euer Herr wird vom Zaren dafür eine Gnade erhalten.‹ Ich muß mich immer wundern: warum machen Sie sich so viel Sorge um die Bauern?«

»Ich mache mir nicht um die Bauern Sorge; ich tue das um meinetwillen.«

Agafja Michailowna wußte mit Ljewins wirtschaftlichen Plänen ganz genau Bescheid; Ljewin hatte ihr seine Absichten oft mit allen Einzelheiten auseinandergesetzt und nicht selten mit ihr gestritten und sich ihren Anschauungen nicht anschließen können. Aber jetzt hatte sie das, was er sagte, völlig mißverstanden.

»Ja, das ist gewiß, an sein Seelenheil muß man vor allen Dingen denken«, sagte sie mit einem Seufzer. »Da ist zum Beispiel Parfen Denisütsch; wenn er auch nicht lesen und schreiben konnte, aber er ist doch so gestorben, daß man nur Gott bitten möchte, jedem einen solchen Tod zu geben«, sagte sie; es war dies ein unlängst verstorbener Hofknecht. »Er hatte das Abendmahl genommen und die Letzte Ölung erhalten.«

»Davon rede ich nicht«, antwortete er. »Ich wollte sagen, daß ich um meines eigenen Vorteils willen so handle. Es ist für mich vorteilhafter, wenn die Bauern besser arbeiten.«

»Da können Sie tun, was Sie wollen: wenn so ein Bauer ein Faulpelz ist, dann wird er sich doch immer ungeschickt anstellen. Wenn einer ein Gewissen hat, wird er arbeiten; und wenn er keins hat, ist nichts dagegen anzufangen.«

»Aber Ihr habt doch selbst gesagt, daß Iwan jetzt besser für das Vieh sorgt?«

»Ich sage nur eins«, erwiderte Agafja Michailowna, und zwar offenbar nicht infolge eines plötzlichen Einfalls, sondern als Ergebnis eines streng logischen Gedankenganges: »Sie müssen heiraten, das ist die ganze Sache!«

Daß Agafja Michailowna ganz denselben Punkt erwähnte, an den er soeben gedacht hatte, ärgerte und verdroß ihn. Er runzelte die Stirn und setzte sich, ohne ihr zu antworten, wieder an seine Arbeit; er wiederholte sich noch einmal im Kopfe alles, was er sich vorhin über die hohe Bedeutsamkeit dieser Arbeit gesagt hatte. Nur zuweilen horchte er in der tiefen Stille auf das Klappern von Agafja Michailownas Stricknadeln, und wenn ihm dann das einfiel, woran er nicht denken wollte, so zog er wieder die Stirn in Falten.

Um neun Uhr wurde Schellengeläut hörbar und das dumpfe Geräusch eines Wagens, der in dem tiefen Schmutze hin und her schwankte.

»Nun, sehen Sie, da bekommen Sie Besuch; nun werden Sie sich nicht mehr langweilen«, sagte Agafja Michailowna, stand auf und ging nach der Tür hin. Aber Ljewin überholte sie. Seine Arbeit wollte ihm jetzt nicht recht von der Hand gehen, und er freute sich über jeden Gast, mochte kommen, wer da wollte.

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Als Ljewin die Treppe zur Hälfte hinuntergelaufen war, hörte er in der Vorhalle ein ihm wohlbekanntes Husten; aber er hörte es wegen des Geräusches seiner eigenen Schritte nur undeutlich und hoffte, sich geirrt zu haben; dann erblickte er die ganze lange, knochige, ihm so wohlbekannte Gestalt des Ankömmlings, und nun schien die Annahme, daß er sich doch vielleicht täusche, eigentlich nicht mehr möglich; aber immer noch hoffte er, daß er sich irre und daß dieser lange Mann, der da seinen Pelz auszog und so heftig hustete, nicht sein Bruder Nikolai sei.

Konstantin Ljewin liebte seinen Bruder; aber mit ihm zusammen zu sein, war ihm immer eine Qual gewesen. Und nun gar jetzt, wo Konstantin infolge jenes Gedankens, der zuerst ihm selbst in den Sinn gekommen und dann von Agafja Michailowna ausgesprochen war, sich in einem unklaren, verwirrten Seelenzustande befand, gerade jetzt erschien ihm das bevorstehende Wiedersehen mit seinem Bruder besonders peinlich. Statt mit einem lustigen, gesunden, fremden Gaste, der ihm, wie er gehofft hatte, bei seiner seelischen Benommenheit einige Zerstreuung gebracht hätte, mußte er nun mit seinem Bruder zusammen sein, der ihn durch und durch kannte, die geheimsten Gedanken aus ihm herauslocken und ihn zwingen würde, sich vollständig auszusprechen. Und das mochte Konstantin Ljewin nicht.

Aber sofort schalt er auch sich selbst wegen dieser häßlichen Empfindung aus und lief in die Vorhalle hinunter. Und sobald er seinen Bruder aus der Nähe gesehen hatte, war auch dieses Gefühl persönlicher Enttäuschung sofort verschwunden und ein tiefes Mitleid an seine Stelle getreten. Wie schrecklich Nikolai auch schon früher infolge seiner Abmagerung und Krankheit ausgesehen hatte, jetzt war er noch magerer und kraftloser geworden. Er war nur noch ein mit Haut überzogenes Gerippe.

Er stand in der Vorhalle, riß sich unter heftigen, zuckenden Bewegungen des langen, hageren Halses einen Schal ab und lächelte in einer seltsam kläglichen Art. Als Konstantin dieses stille, ergebungsvolle Lächeln sah, da fühlte er, daß ihm ein Krampf die Kehle zusammenpreßte.

»Siehst du wohl, da bin ich zu dir gekommen«, sagte Nikolai mit hohler Stimme, ohne die Augen auch nur eine Sekunde von dem Gesicht seines Bruders wegzuwenden. »Ich hatte es schon längst tun wollen, war aber immer kränklich. Aber jetzt habe ich mich recht erholt«, sagte er und wischte sich mit den großen, mageren Händen die Nässe aus dem Barte.

»Ja, ja!« antwortete Konstantin, und sein Entsetzen steigerte sich noch, als er seinen Bruder küßte und dabei mit den Lippen die Trockenheit seines Körpers fühlte und diese großen, seltsam glänzenden Augen ganz nahe vor sich sah.

Einige Wochen vorher hatte Konstantin Ljewin seinem Bruder geschrieben, daß jener kleine Teil des ererbten Landes, den die Brüder bisher noch ungeteilt zusammen besessen hatten, nunmehr verkauft sei und daß der Bruder jetzt als seinen Anteil gegen zweitausend Rubel zu erhalten habe.

Nikolai sagte, er sei jetzt gekommen, um dieses Geld in Empfang zu nehmen, hauptsächlich aber in der Absicht, einmal eine Zeitlang auf dem Familiensitze zu wohnen und den heimischen Erdboden zu berühren, um daraus wie jene Riesen Kraft für die ihm bevorstehende Tätigkeit zu gewinnen. Trotz seiner gekrümmten Haltung, mit der es noch schlimmer geworden war, trotz der bei seinem hohen Wuchse besonders auffälligen Hagerkeit waren seine Bewegungen, wie auch schon früher, schnell und hastig. Konstantin führte ihn in sein Arbeitszimmer.

Der Bruder kleidete sich mit besonderer Sorgfalt um, was früher nicht seine Art gewesen war, kämmte sein dünnes, schlichtes Haar und ging dann lächelnd hinauf.

Er befand sich in der freundlichsten, heitersten Stimmung, wie Konstantin ihn in ihrer Kinderzeit oft gesehen zu haben sich erinnerte. Selbst von Sergei Iwanowitsch sprach er ohne Bitterkeit. Als er Agafja Michailowna sah, scherzte er mit ihr und erkundigte sich nach den alten Dienern. Die Nachricht von Parfen Denisütschs Tode erweckte bei ihm eine unangenehme Empfindung; eine Art von Schrecken malte sich auf seinem Gesichte; aber er nahm sich sofort wieder zusammen.

»Er war ja auch schon alt«, sagte er und begann dann von etwas anderem zu sprechen. »Ja, ich möchte also etwa zwei Monate bei dir bleiben und dann nach Moskau fahren. Weißt du, Mjachkow hat mir eine Stelle versprochen; ich will in den Staatsdienst treten. Jetzt werde ich mir mein Leben ganz anders einrichten«, fuhr er fort. »Weißt du, diesem Frauenzimmer habe ich den Laufpaß gegeben.«

»Wem? Marja Nikolajewna? Wie ist das zugegangen? Warum denn?«

»Ach, sie war ein gräßliches Frauenzimmer! Sie hat mir eine Menge Unannehmlichkeiten gemacht.« Aber er erzählte nicht, von welcher Art diese Unannehmlichkeiten gewesen seien. Er konnte doch auch nicht sagen, daß er Marja Nikolajewna deshalb weggejagt hatte, weil sie ihm den Tee nicht so stark gekocht hatte, wie er ihn hatte haben wollen, und hauptsächlich deshalb, weil sie ihn wie einen Kranken gepflegt hatte. »Und dann will ich jetzt überhaupt mein Leben vollständig umgestalten. Ich habe ja natürlich Dummheiten gemacht, wie alle Menschen; aber mein Vermögen, das ist das letzte, worum es mir leid tut. Die Hauptsache ist doch immer, daß man gesund ist; nun, und meine Gesundheit hat sich, Gott sei Dank, gebessert.«

Konstantin Ljewin hörte zu und überlegte, was er nun seinerseits sagen könnte, vermochte aber keine passende Erwiderung zu finden. Wahrscheinlich fühlte Nikolai ihm das nach; er begann den Bruder nach dem Gange seiner Wirtschaftsangelegenheiten zu fragen, und Konstantin freute sich, von sich selbst sprechen zu können, weil er da reden konnte, ohne sich zu verstellen. Er erzählte dem Bruder von seinen Plänen und Unternehmungen.

Der Bruder hörte zu, interessierte sich aber augenscheinlich nicht dafür.

Diese beiden Menschen waren miteinander so eng verwandt und standen sich so nahe, daß die geringste Bewegung, der bloße Ton der Stimme für sie mehr besagte als alles, was man mit Worten sagen kann. Jetzt hatten sie beide nur einen Gedanken, der alles übrige erstickte: den an Nikolais Krankheit und nahen Tod. Aber weder der eine noch der andere wagte davon zu sprechen, und daher trug alles, was sie nur reden konnten, den Charakter der Unwahrhaftigkeit an sich, weil es nicht das zum Ausdruck brachte, was sie ausschließlich beschäftigte. Noch nie hatte sich Konstantin so sehr darüber gefreut, daß der Abend vorbei war und man schlafen gehen mußte, wie heute. Noch nie, keinem Fremden gegenüber und bei keinem bloßen Höflichkeitsbesuche, war er so verstellt und unaufrichtig gewesen, wie an diesem Tage. Und von dem Bewußtsein dieser Verstellung und dem Schamgefühl darüber wurde sein Benehmen noch unnatürlicher. Er hätte weinen mögen über seinen geliebten Bruder, der dem Tode entgegenging, und er mußte ihm zuhören, wie dieser seine künftige Lebensweise auseinandersetzte, und selbst darüber mitreden.

Da es im Hause feucht und nur ein Zimmer geheizt war, so ließ Konstantin für seinen Bruder in seinem eigenen Schlafzimmer ein Bett hinter einem Wandschirm zurechtmachen.

Nikolai legte sich hin; ob er nun schlief oder nicht, jedenfalls wälzte er sich wie ein Kranker umher; er hustete viel, und wenn er beim Husten die Kehle nicht ordentlich frei bekam, so brummte er etwas vor sich hin. Manchmal, wenn ihm das Atmen schwer wurde, sagte er: »Ach, mein Gott!« Manchmal, wenn ihn der Schleim zu ersticken drohte, fluchte er ärgerlich: »Zum Teufel nochmal!« Konstantin konnte lange nicht einschlafen, weil er ihn immer hörte. Seine Gedanken waren von sehr verschiedener Art, hatten aber alle ein und denselben Endpunkt: den Tod.

Der Tod, das unvermeidliche Ende von allem, trat ihm zum erstenmal mit unwiderstehlicher Gewalt vor Augen. Dieser Tod hauste bereits dort, in dem geliebten Bruder, der im Halbschlaf stöhnte und nach seiner Gewohnheit unterschiedslos bald Gott, bald den Teufel anrief, und war auch ihm, Konstantin, gar nicht so fern, wie es ihm früher geschienen hatte. Der Tod steckte auch schon in ihm selbst; das fühlte er. Wenn nicht heute, dann morgen; wenn nicht morgen, dann nach dreißig Jahren: kam das nicht auf dasselbe hinaus? Aber was dieser unvermeidliche Tod eigentlich war, das wußte er nicht, und er hatte auch niemals darüber nachgedacht, ja, er hatte auch gar nicht verstanden, darüber nachzudenken, und es nicht gewagt.

›Ich arbeite, ich will etwas schaffen, und ich habe vergessen, daß alles ein Ende nimmt, daß es einen Tod gibt.‹

Er setzte sich im Dunkeln auf dem Bette aufrecht, beugte sich vor, umfaßte seine Knie und dachte in dieser Haltung so angestrengt nach, daß er dabei den Atem anhielt. Aber je mehr er seine Denkkraft anstrengte, um so deutlicher wurde es ihm, daß es sich unzweifelhaft so verhielt: er hatte tatsächlich im Leben einen kleinen Umstand vergessen und übersehen, den Umstand, daß der Tod komme und alles ein Ende nehme, daß es nicht der Mühe lohne, etwas zu beginnen, und daß es dagegen schlechterdings keine Hilfe gebe. ›Ja, das ist furchtbar; aber es ist so.

Aber noch lebe ich ja. Was muß ich also jetzt tun? Ja, was?‹ fragte er sich verzweifelt. Er zündete ein Licht an, stand leise auf, ging zum Spiegel und betrachtete sein Gesicht und seine Haare. Ja, an den Schläfen waren schon graue Haare zu sehen. Er machte den Mund auf. Die Backzähne begannen bereits schlecht zu werden. Er entblößte seine muskulösen Arme. Ja, Kraft besaß er, viel Kraft. Aber auch Nikolai, der dort mit den kläglichen Resten seiner Lunge atmete, hatte ehemals einen gesunden Körper gehabt. Und auf einmal fiel ihm ein, wie sie als Kinder zusammen schlafen gegangen waren und oft nur darauf gewartet hatten, daß Fjodor Bogdanütsch aus der Tür ging, um sich wechselseitig mit den Kissen zu werfen und zu lachen, unbändig zu lachen, so daß selbst die Furcht vor Fjodor Bogdanütsch diese überströmende, überschäumende Lebensfreude nicht hatte hemmen können. ›Und jetzt diese verkrümmte, hohle Brust … und ich, der ich nicht weiß, wozu ich da bin, und was aus mir werden wird …‹

»Kcha! Kcha! Zum Teufel, was treibst du denn da? Warum schläfst du nicht?« rief ihm sein Bruder zu.

»Ich habe weiter nichts Besonderes; ich weiß nicht, ich kann nicht schlafen.«

»Aber ich habe gut geschlafen; ich schwitze jetzt gar nicht mehr. Überzeuge dich selbst; fühle nur mal mein Hemd! Nicht wahr, es ist gar nicht feucht?«

Konstantin befühlte das Hemd, ging dann wieder hinter den Wandschirm zurück und löschte das Licht aus; aber er konnte lange nicht einschlafen. Nun war er erst vor kurzem mit sich einigermaßen über die Frage ins klare gekommen, wie er leben müsse, und schon trat ihm eine neue, unlösbare Frage entgegen: der Tod.

›Er ist schon im Dahinsterben; im Frühjahr wird es mit ihm zu Ende sein; wie soll ich ihm helfen? Was kann ich zu ihm sagen? Was weiß ich über den Tod? Ich hatte ja sogar vergessen, daß es einen Tod gibt.‹

32

Zurück

Konstantin Ljewin hatte schon längst die Beobachtung gemacht, daß, wenn Leute einem den Verkehr mit ihnen durch übermäßige Nachgiebigkeit und Unterwürfigkeit unbehaglich gestalten, sie ihn einem sehr bald unerträglich machen durch übermäßige Ansprüche und Händelsucht. Er ahnte, daß es auch mit seinem Bruder so kommen werde. Und in der Tat dauerte die Sanftmut seines Bruders Nikolai nicht lange. Gleich am nächsten Morgen zeigte er sich reizbar und suchte geflissentlich Streit mit Konstantin, indem er dessen wundeste Punkte berührte.

Konstantin fühlte sich schuldig, ohne doch an der Sache etwas bessern zu können. Er wußte: wenn sie sich beide nicht verstellen, sondern ihre wahre Herzensempfindung aussprechen wollten, das heißt nur das, was sie wirklich dachten und fühlten, dann würden sie nur einer dem andern in die Augen sehen, und er, Konstantin, würde nur sagen: ›Du wirst sterben, du wirst sterben!‹ und Nikolai würde nur antworten: ›Ich weiß, daß ich sterben werde; aber ich fürchte mich davor, ich fürchte mich, ich fürchte mich.‹ Und weiter würden sie nichts sagen, wenn sie eben nur ihre Herzensempfindung aussprechen wollten. Aber in dieser Weise konnten sie natürlich nicht nebeneinander leben, und daher versuchte Konstantin zu tun, was er sein ganzes Leben lang zu tun versucht und nicht fertiggebracht hatte, was aber nach seiner Beobachtung viele Leute so ausgezeichnet verstanden und was im Leben geradezu eine Notwendigkeit ist: er gab sich Mühe, etwas anderes zu sagen, als was er dachte, und hatte dabei fortwährend die Empfindung, daß er den Eindruck der Unaufrichtigkeit mache, daß sein Bruder ihn durchschaue und darüber in gereizte Stimmung komme.

Am dritten Tage forderte Nikolai seinen Bruder auf, ihm nochmals seinen Plan vorzutragen, und verurteilte diesen Plan nicht nur als ganz verfehlt, sondern warf ihn auch absichtlich in einen Topf mit dem Kommunismus.

»Du hast lediglich einen fremden Gedanken aufgegriffen; aber du hast ihn verhunzt und willst ihn auf einem Gebiete anwenden, wo er gar nicht hinpaßt.«

»Aber ich sage dir ja, daß mein Unternehmen mit dem Sozialismus nichts gemein hat. Die Sozialisten leugnen die Berechtigung des Eigentums, des Kapitals, der Erbfolge; ich aber verwerfe diesen wichtigsten Ansporn menschlicher Tätigkeit nicht (es war ihm selbst widerwärtig, daß er solche Ausdrücke gebrauchte; aber seit er sich so eifrig der Arbeit an seiner Abhandlung widmete, hatte er unwillkürlich angefangen, immer häufiger nichtrussische Worte zu verwenden), ich will nur die Arbeit regeln.«

»Das ist es eben; du hast einen fremden Gedanken aufgegriffen, ihm alles das genommen, was seine eigentliche Kraft ausmacht, und möchtest einem nun einreden, das sei etwas Neues«, versetzte Nikolai und zerrte ärgerlich an seiner Krawatte.

»Aber mein Gedanke hat ja gar nichts gemein …«

»Beim Kommunismus«, fuhr Nikolai mit ironischem Lächeln fort, und seine Augen blitzten dabei recht boshaft, »beim Kommunismus kann man wenigstens an dem Reize der Klarheit und Zweifellosigkeit seine Freude haben, ich möchte sagen, so ähnlich wie bei der Mathematik. Mag sein, daß das Ganze ein Hirngespinst ist. Aber nehmen wir einmal an, es wäre möglich, mit der ganzen Vergangenheit reinen Tisch zu machen, das Eigentum, die Familie aufzuheben: dann würde sich auch die Arbeit regeln lassen. Aber bei dir ist ja gar nichts …«

»Warum rührst du meinen Gedanken mit dem Kommunismus zusammen? Ich bin nie Kommunist gewesen.«

»Aber ich bin einer gewesen und finde, daß der Kommunismus zwar verfrüht, aber doch etwas Verständiges ist und eine Zukunft hat; er befindet sich in derselben Lage wie das Christentum in den ersten Jahrhunderten.«

»Ich meine ja auch nur, man muß die Arbeitskraft vom naturwissenschaftlichen Gesichtspunkte aus betrachten, das heißt sie studieren, ihre Eigenschaften bestimmen und …«

»Ach was, das ist ganz zwecklos. Diese Kraft findet ganz von selbst, nach dem Maße ihrer Entwickelung, eine bestimmte Form, in der sie sich betätigt. Überall hat es Sklaven gegeben, dann später métayers1; auch bei uns gibt es die Halbpartarbeit, es gibt die Pacht, es gibt die Tagelöhnerarbeit; wonach suchst du eigentlich noch weiter?«

Bei diesen Worten seines Bruders geriet Konstantin plötzlich in Hitze, weil er in tiefster Seele fürchtete, daß jener recht habe und daß er, Konstantin, wirklich nur so eine Art Mittelding zwischen Kommunismus und festbestimmten Formen schaffen wolle – und daß das kaum möglich sei.

»Ich suche nach Mitteln, die Arbeit sowohl für mich als auch für den Arbeiter gewinnbringend zu machen. Es liegt mir daran, eine Organisation zu schaffen …«, antwortete er in starker Erregung.

»Es liegt dir gar nicht daran, eine Organisation zu schaffen. Du willst einfach, wie du das dein ganzes Leben lang getan hast, dich als Original hinstellen und zeigen, daß du die Bauern nicht in kunstloser Weise, sondern nach einem bestimmten Systeme ausbeuten kannst.«

»Nun, wenn du das glaubst, dann gib dich nicht weiter mit mir ab!« antwortete Konstantin; er fühlte, wie sein linker Backenmuskel unhemmbar zuckte.

»Du hast nie Überzeugungen gehabt und hast auch jetzt keine; du willst nur deiner Eitelkeit frönen.«

»Ausgezeichnet! Dann gib dich nicht weiter mit mir ab!«

»Ich will mich auch nicht weiter mit dir abgeben! Dumm von mir, daß ich es so lange getan habe! Hol dich der Teufel! Es tut mir nur leid, daß ich überhaupt hergekommen bin!«

Konstantin gab sich nachher die größte Mühe, seinen Bruder wieder zu beruhigen; aber Nikolai wollte nichts hören; er sagte, es wäre schon das beste, wenn er wieder wegführe, und Konstantin sah, daß seinem Bruder das Leben schon geradezu eine unerträgliche Pein war.

Nikolai hatte bereits alles zur Abreise zurechtgemacht, als Konstantin noch einmal zu ihm trat und ihn in gezwungen klingendem Ton um Verzeihung bat, wenn er ihn irgendwie gekränkt habe.

»Sieh mal, wie großmütig.« erwiderte Nikolai lächelnd. »Wenn du gern recht haben möchtest, so kann ich dir ja dieses Vergnügen machen. Also du hast recht; aber abreisen tue ich trotzdem!«

Erst unmittelbar vor der Abreise küßte Nikolai seinen Bruder, sah ihn auf einmal mit seltsam ernstem Blicke an und sagte: »Trotz alledem, Konstantin, gedenke meiner nicht im bösen!« Seine Stimme zitterte.

Das waren die einzigen Worte, die er in wirklich herzlichem Tone gesprochen hatte. Konstantin fühlte, daß er sich bei diesen Worten hinzudenken sollte: ›Du siehst und weißt, daß es mit mir schlecht steht; wir sehen uns vielleicht nicht wieder.‹ Konstantin verstand dies, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen. Er küßte seinen Bruder noch einmal; aber er konnte nicht reden und wußte auch nicht, was er ihm hätte sagen sollen.

Drei Tage nach der Abreise seines Bruders fuhr auch Konstantin Ljewin weg, ins Ausland. Auf der Eisenbahn traf er mit Kittys Vetter Schtscherbazki zusammen, und dieser war über Ljewins düsteres Wesen sehr erstaunt.

»Was hast du denn?« fragte ihn Schtscherbazki.