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Philipp Schönthaler

Nach oben ist das Leben offen

Erzählungen

Matthes & Seitz Berlin

Nach oben ist das Leben offen

Das Wetter war den ganzen Tag unbeständig. Nach dem Mittagessen haben dicke, schwarze Wolken das Blau des Himmels bedeckt. Ein Höllengewitter hat dann bis zum Abend angehalten. – Wir standen in unsere mit Daunen gefütterten Sportjacken gehüllt, die Hände in den Taschen vergraben. Mit den aufgeschlagenen Kragen unserer Jacken wärmten wir unsere Hälse. Zum Schutz hatten wir um Hals und Kinn zusätzlich dünne Schals geschlungen. Vom Tal herauf wehte der von der Nässe schwere Wind, griff in unsere kurzgeschorenen Haare, wir mussten unsere Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen. Hätten wir unsere verspiegelten Brillen zur Hand gehabt, wir hätten sie aufgesetzt. So kehrten wir den Windböen den Rücken zu, machten auf der überdachten Terrasse, wo man vormals auf hölzernen Liegestühlen in graue Steppdecken gewickelt lag, nun unsere Übungen: Die Fersen gehoben, den Rumpf aus dem Lot und nach vorne gebeugt, das Gewicht auf den Fußballen, trippelten wir, rissen die Knie in Hüfthöhe, hielten sie für zehn Schritte flach über dem Boden, rissen sie erneut für zehn Schritte über die Hüften hinaus, die Arme schnellten im Takt der Schritte versetzt vor und zurück, den Atem gleichmäßig halten, ermahnte der Trainer, er stand abseits im windgeschützten Eingangsbereich, den Kopf zwischen den Schultern vergraben, trat auch er von einem Bein auf das andere, wohl zum Schutz gegen die zunehmende Kälte, während er laut das Tempo vorgab.

Das Sportheim lag etwa fünfzig Meter oberhalb des Orts, im Prospekt steht hundert, aber es war höchstens halb so weit, wir liefen die Strecke fast täglich ab, unsere Schritte hatten wir oft gezählt. Im Ort gab es eine Gemischtwarenhandlung, eine Bäckerei, die ein oder andere Gaststätte mit Wochenendbetrieb; man benötigte drei Minuten, um die Hauptstraße abzulaufen. Nur vereinzelt zweigten Schotterstraßen ab, die zu einem Wohn- oder Ferienhaus führten. Hangabwärts lag ein Bauernhof. Abends konnte man die Anwohner in den erleuchteten Fenstern ihrer Wohnungen sehen, hier und dort flackerte das Bild eines Fernsehers. Wollten wir in eine Kneipe, Unterhaltung, mussten wir 300 Meter absteigen. Unser Heim lag 1900 Meter über dem Meeresspiegel. Die Reaktionsschwelle des menschlichen Organismus auf die Veränderungen in der Höhenluft liegt bei 2000 Metern. Die Störungswelle bei 3000. Wir alle waren hier oben an die Luftzusammensetzung gewöhnt, sie konnte unserer körperlichen und geistigen Verfassung nichts anhaben. Meist suchten wir die Höhen von 2500 Meter und darüber hinaus auf, living high – training high, um nur ab und zu ins Flachland hinunterzustoßen. –

Erst gestern waren wir von einem Wettkampf im Norden zurückgekehrt. Wir waren noch am selben Nachmittag des Wettkampftags aufgebrochen, um auf dem schnellstmöglichen Weg das Land zu durchqueren und zurück in die Berge zu gelangen. Der Fahrer trieb den Kleinbus durch den einsetzenden Regen. Wir versuchten unsere pulsierenden Beine mehr schlecht als recht auf die zwischen den Sitzreihen gelagerten Sporttaschen zu legen und unsere Körper auf den Rückbänken in eine entspannte Schräglage zu bringen. Kaum saßen wir im Wagen, wich die letzte Anspannung aus unseren Leibern. Wir spürten eine unendliche Erschöpfung; den Schaumstoff der Sitze in unseren Nacken, ergriff uns eine unüberwindbare Müdigkeit. Nur hin und wieder schoben wir unsere Arme durch den Gummibund unserer Trainingshosen und rieben uns eine große Portion Sportgel, die wir aus der Tube in unsere schalenförmige Handfläche drückten, auf unsere nackten, verhärteten Oberschenkel, die Waden. Anschließend warteten wir auf den Hitzeschwall, der über unsere Epidermis flutete, die Haut kurzzeitig in ein Flammenmeer verwandelte. Es war ein wohltuendes Gefühl, das uns unsere Schmerzen zeitweise vergessen ließ; das Menthol stach in unsere Nasen, wir mussten niesen, wir lachten. Im Anschluss an den Wettkampf waren wir nicht mehr in der Lage gewesen, feste Nahrung aufzunehmen, und so ließen wir nur die Wasserflaschen kreisen, nippten an dem zernagten Plastiktropf, um unseren Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Auch eine auf der Anfahrt geschmolzene Tafel Schokolade machte die Runde. Wir schabten jedoch nur mit den Spitzen unserer Zähne an der Zuckermasse, ließen sie geschmacklos auf unseren spröden Zungen zergehen. Während der Fahrt wechselten wir kaum Worte, nur der Motor war zu hören, der Regen, hin und wieder ein heftiger Windstoß, der mit einer unerwarteten Wucht von der Seite gegen die Karosserie schlug, den Wagen aus seiner Fluchtbahn stieß; der Fahrer fluchte. Mit der Klinge eines Taschenmessers stachen wir in die blutgefüllten Blasen an unseren Fußsohlen, ließen die Flüssigkeit in aufgefaltete Papiertaschentücher tropfen, sahen zu, wie sich unförmige Blüten bildeten, ausgebleicht, zu den Rändern hin bildeten sich dunkel gekrakelte Linien. Draußen schloss sich der Regen wie eine schwarze Filzmatte um den Wagen. Der Fahrer hatte das Radio aufgedreht, suchte nach einem Sender. Wir lagen regungslos, unsere Sweatshirts bis über die Brust hoch gezogen, unsere Bäuche entblößt, lüfteten unsere Körper, noch immer sickerte uns der Schweiß aus den Poren. Wir waren zu müde, um zu schlafen, und zu müde, um wach zu sein. Wenn wir unsere Füße bewegten, schmerzten die Fußballen und Fersen. Gegenseitig nahmen wir unsere nackten Füße in die Hände, kneteten sie zwischen den Handflächen, ohne auf den Schmerz zu achten, der unsere Beine bis zu den Kniekehlen durchzuckte. Einzelne Beinhaare, die wir unter unseren Fingern ertasteten, griffen wir mit den Fingernägeln, um sie mit der Wurzel herauszureißen. Durch die getönten Scheiben des Kleinbusses war kaum etwas zu sehen, nur die Wassertropfen, die in sich verzweigenden Bahnen zögernd über die Fenster krochen, hin und wieder ein Wagen, auf der Gegenspur grelle Scheinwerfer, die auf uns zu rasten.

Wir waren erst im Morgendämmern zum Sportheim zurückgekehrt. Der Kleinbus keuchte, aus dem Kühler stiegen milchige Dunstschleier auf; der Fahrer blieb am Steuer sitzen, die Stirn auf das Lenkrad gestützt, stöhnte, als hätte er soeben den Bus, in ein Geschirr gespannt, eigenhändig die Serpentinen heraufgezogen. Selbst den Aufstieg hatten wir verschlafen, die Straße, die sich in endlosen Kurven den Berg hinaufwindet, am Eingang ins Dorf ist sie nur noch eine Spur breit, die Leitplanken enden bereits am Ausgang des Orts unterhalb unseres Sportheims. Sogleich stürzten wir in die Küche, schnitten dicke Scheiben von einem Graubrot ab, nur aus dem offenen Kühlschrank drang ein fahler Lichtkegel, ansonsten war es finster. Die Brotscheiben belegten wir großzügig mit Käse und Wurst, wir machten uns nicht die Mühe, die klebrige Teigmasse zu kauen, schluckten die Nahrung mit gierigen Bissen hinunter. Auf unsere Zimmer zurückgekehrt, spülten wir unsere Rachen mit Mundwasser, ließen die bittere, grüne Flüssigkeit durch unsere gespitzten Lippen ins weiße Porzellan der Waschbecken spritzen. Dann gingen wir noch immer benommen, nur mit einem Handtuch um unsere Hüften geschlungen, in unsere Betten.

Wir teilten unsere Zimmer jeweils zu zweit. Die Zimmer lagen im neuen Anbau des ehemaligen Sanatoriums, allesamt im ersten Stock. Der Korridor war mit Kokosläufern ausgelegt. Die Wände schimmerten weiß und hart, mit einer lackartigen Ölfarbe überzogen. In südwestlicher Richtung öffneten sich die Zimmer ins Tal, rückwärtig stieg eine Wiese an, die nur einige hundert Meter weiter in eine senkrechte Felswand überging, die im Gipfel unseres sogenannten Hausbergs mündete. Wir alle wussten um die Theorie des Höhentrainings: Der wesentliche Faktor des Höhentrainings ist die Hypoxie. Die Hypoxie bezeichnet den Sauerstoffmangel durch den mit ansteigender Höhe absinkenden Sauerstoffpartialdruck (pO2). Der Ausgleich der Hypoxie geschieht über eine gesteigerte Produktion von roten Blutkörperchen und einen erhöhten Laktatanfall. Wir wussten, dass wir durch das klimatisch hervorgerufene Gefälle der Trainings- und Lebenssituation gegenüber den Normalbedingungen gezielt Einfluss auf unsere Organismen nehmen konnten, auf unser aerobes Leistungsniveau.

Nach der Rückkehr aus dem Flachland am frühen Morgen hatten wir den Tag über geruht. Wir saßen in unseren Zimmern auf Sesseln und in unseren Betten, blätterten gedankenverloren in unseren Büchern, in Leitzordnern, während draußen der Wind die Regenwolken über die Gipfel jagte. Die Umgebung war wie ausgestorben, nur hin und wieder trieb der Wind eine Hand voll schwarzer, krächzender Dohlen vom Tal herauf und über das flache Dach des Sportheims hinweg gegen die Felswand. Zu Mittag hatten wir uns im Speisesaal eingefunden. Es gab Spargelsuppe, gefüllte Tomaten, als Hauptgang Braten mit Bandnudeln in dunkler Jägersoße. Das Essen war gut, auch wenn wir uns einig waren, dass wir die Küche satt hatten, schon gewohnheitsgemäß schimpften wir auf die Mahlzeit, leerten unsere Teller mit hastigen Gesten. Zur Nachspeise gab es gesüßten Pudding mit zerhackten Dosenfrüchten. Wie meist nach einem Wettkampf war die Stimmung an den Tischen ausgelassen. Wir ließen unsere errungenen Medaillen kreisen, redeten mit vollen Mündern, fielen uns gegenseitig ins Wort, lärmten, lachten. Erst am Abend hatten wir uns wieder zusammengefunden; wir rekapitulierten den Verlauf des Wettkampfs, führten Analysen durch, besprachen unsere Ziele, Taktiken. Der Trainer schärfte uns ein, alles in unseren Vorteil zu verwandeln; Fehler waren dazu da, dass man sie einmal beging, danach nicht wieder. Wir vertrauten unserem Trainer. Er sprach zu uns allen, und alle hatten wir das Gefühl, dass er zu jedem Einzelnen von uns sprach. Im Anschluss an das Treffen gingen wir auf die Terrasse, um unsere Glieder in Bewegung zu halten. Gerade nach einem Wettkampf war es wichtig, dass die Muskeln sich nicht verhärteten. Wir dehnten uns, unsere Sehnen, Fasern, absolvierten unsere Übungen: Die Fersen gehoben, der Rumpf aus dem Lot und nach vorne gebeugt, das Gewicht auf den Fußballen, trippelten wir, rissen die Knie in Hüfthöhe, hielten sie für zehn Schritte flach über dem Boden, rissen sie erneut für zehn Schritte über die Hüften hinaus, die Arme schnellten im Takt der Schritte versetzt vor und zurück, unsere Atmung ging gleichmäßig.

Für den Abend waren wir nun entlassen, wir kehrten ins Heim zurück, verteilten uns im Gebäude, gingen hinunter in den Trainingskeller zu den Geräten, wir trafen uns im Fernsehzimmer, im Pool, zogen uns zurück, nahmen die Bücher und Hefte aus unseren Regalen, um zu pauken.

Früh am Morgen versammelten wir uns draußen auf dem Parkplatz, es dämmerte, wir standen in unsere mit Daunen gefütterten Sportjacken gehüllt, die Hände in den Taschen. Mit den aufgeschlagenen Kragen unserer Jacken wärmten wir unsere Hälse. Zum Schutz hatten wir um Hals und Kinn zusätzlich dünne Schals geschlungen. Bevor wir losliefen, hüpften wir locker auf unseren langgestreckten Beinen, nur die Ballen berührten den Boden, unsere Arme ließen wir seitlich kreisen, um dann in zügigem Tempo den Parkplatz zu überqueren und im Rücken des Heims dem ansteigenden Schotterpfad zu folgen, wo zwei Wochen zuvor am Fuß des Pfads Walter seinen epileptischen Anfall erlitten hatte. Für einen Moment hatte es so ausgesehen, als habe er noch etwas sagen wollen, sein Nacken abgeknickt, der Mund wie zum Ruf geöffnet, war er seitlich auf die Felsen gesackt, der Körper, der von Konvulsionen geschüttelt worden war. Wir hatten uns augenblicklich auf die rotierenden Gliedmaßen geworfen, einen abgebrochenen Ast vom Wegrand in seinen Mund zwischen seine stumpfen, verschleimten Zahnreihen gezwängt, die Zunge geschwollen, es kamen nur noch unartikulierte Laute über seine Lippen, dazwischen Speichelfäden, ein Röcheln. Wir hatten den Körper sogleich geschultert und zurück ins Heim getragen. Doktor Behrens war schon auf den Beinen, wir gingen regelmäßig in seinen Behandlungsräumen ein und aus, auf seinem Gesicht lasen wir weder Erstaunen noch Enttäuschung. Mit ruhigen Worten, Gesten, wies er auf die Liege im Nebenraum, wo wir den Leib arretierten – aber es war kaum mehr nötig. Aus dem kräftigen Körper war der Tonus gewichen, er hing jetzt müde und schlaff auf dem zerknitterten Plastikschutz der Pritsche. Wir lockerten Schal und Kragen, wischten die Schweißperlen von der bleichen Stirn, streiften die Schuhe von den Füßen. Behrens schickte uns erneut hinaus auf den Parkplatz, wo der Schotterpfad uns jetzt im Rücken des Heims im Laufschritt aufnahm, aufwärts führte, entlang der Felsen, über einen schmalen Gebirgsbach, bis er in einer Kehre jäh anstieg und in Serpentinen auf den Gipfel unseres Hausbergs mündete. Kaum waren wir zum Heim zurückgekehrt, stiegen wir unter die Dusche, ließen das kalte Wasser auf uns niederprasseln, jede Faser unserer Körper war zu spüren, wir entspannten uns, irgendwo spielte ein Radio, wir summten zur Melodie. Anschließend fanden wir uns im Speisesaal ein, frühstückten.

Die Vormittage verbrachten wir im Unterricht. Wir hatten verschiedene Lehrer, die meisten kamen aus dem Tal; einen Teil unserer Kurse absolvierten wir zudem über ein Fernstudium, saßen an unseren Computern, manchmal erhielten wir Material mit der Post. Auch suchten wir regelmäßig Doktor Behrens auf, er unterrichtete uns in Seminaren, wenn er sprach, wechselte er von der Medizin zur Biologie zur Anthropologie zur Zoologie, um zuletzt stets zu seinem Lebensthema, der Salutogenese zu gelangen. Das Wesen der Gesundheit ist so dunkel wie das Wesen des Lebens, wiederholte Behrens; er wurde nicht müde, uns in dieses Rätsel des Lebens einzuweihen. Er hatte zahlreiche Publikationen vorgelegt. Es sei an der Zeit, die Gesundheit zu entmystifizieren, sagte er. Mit dieser Botschaft reiste er unermüdlich auf Tagungen und Kongresse: Wenn man von Naturhistorikern hört, lehrte uns Behrens, dass weit mehr als 90 % der je existierenden Arten auf dem Planeten ausgestorben seien, so gewönne der Begriff des Lebens- und Berufsrisikos eine keineswegs triviale Bedeutung: Der Blick auf die Biologie werde uns zur Lehre einer historisch fundierten Thanatologie. Behrens sprach frei, er war ein guter Redner mit einer leicht näselnden Stimme, den Atem blies er von Zeit zu Zeit stoßweise durch die Nase. Mit einer Hand griff er seine langen, schütteren Haare, die ihm fortwährend in die Stirn fielen, bog sie seitwärts zurück, sein Blick nachdenklich über der rahmenlosen Lesebrille. Die Berge lehren uns, sagte Behrens, und hier ging sein Blick hinaus durch das Panoramafenster, dass alles Leben ein Überleben sei. Bis man das Flachland in eine Höhenkammer verwandelt, diesen natürlichen Steigerungsraum zur Gänze einverleibt habe, täten wir gut daran, in den Bergen zu verweilen, sagte Behrens: Der Mensch sei das Wesen, das sich selbst potenziell überlegen sei. Um uns anschließend von der Entdeckung der Berge zu erzählen: der Genfer Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure, sagte er, Angelo Mosso – die Pioniere, die die ebenso erhabenen wie ermüdenden Laborlandschaften der Alpen erschlossen. Conrad Meyer-Ahrens’ Monografie Die Bergkrankheit, die bereits 1854 erschien, Quintino Sellas Die Alpen als Schule der Nation. Ein Volk, das die Berge liebt, schreibt Angelo Mosso 1899, wird an Sittlichkeit und Körperkraft gewinnen. 1907 eröffnet er in Anwesenheit ihrer Majestät, Königin Margherita, auf dem Südhang des Monte Rosa 3000 Meter über dem Meeresspiegel das wissenschaftliche Instituto Angelo Mosso. In den höchsten Regionen der Alpen, erklärt Mosso in seiner Eröffnungsrede, ist das Leben intensiver. Aber da hörten wir schon nicht mehr zu, strömten ermüdet aus dem Seminar, gingen noch kurz auf unsere Zimmer oder direkt in den Speisesaal.

Kaum hatte Walter uns verlassen, war ein Neuer zu uns gestoßen. Die Plätze im Sportheim waren begehrt. Es gab lange Wartelisten. Viele kamen aus den Dörfern und Städten der umliegenden Schluchten und Täler zu uns herauf in die pädagogische Provinz, wie Behrens scherzend sagte. Aber auch aus dem Flachland bis hinauf in den Norden strömten Anwärter. An Wochenenden kamen sie zur Besichtigung im Schlepptau ihrer Eltern. Wir führten sie durch das Sportheim, über die Kokosläufer, die Wände schimmerten weiß und hart, mit einer lackartigen Ölfarbe überzogen. Wir zeigten ihnen die Räumlichkeiten, in denen man vormals auf hölzernen Liegestühlen in graue Steppdecken gewickelt lag, angeschlagene Lungen heilte, Tuberkulosen kurierte. Die Toten musste man damals mangels ausgebauter Straßen mit dem Bobschlitten zum nächsten Ort fahren, wussten wir zu berichten. Anschließend nahmen wir die Neulinge mit hinaus auf den Vorplatz. Bevor wir losliefen, hüpften wir locker auf unseren langgestreckten Beinen. Wir trugen unsere mit Daunen gefütterten Sportjacken, um Hals und Kinn dünne Schals, nur die Ballen berührten den Boden, unsere Arme ließen wir seitlich kreisen – um dann in zügigem Tempo den Parkplatz zu überqueren und im Rücken des Heims im Laufschritt dem ansteigenden Schotterpfad zu folgen, entlang der Felsen über einen schmalen Gebirgsbach, bis er in einer Kehre jäh anstieg und in Serpentinen auf den Gipfel unseres Hausbergs mündete. Die Neulinge kannten den Blick und die Landschaft bereits aus den Prospekten. Wir erzählten von unseren Erfahrungen, berichteten von unseren Lektionen: Der Geist bewegt den Stoff, aber der Körper muss stets mitgenommen werden, von der Basis bis zur Spitze. Mit dem zunehmenden Gefälle keimt das Bewusstsein auf, das im Menschen seine Aufrichtung bewirkt, lehrte der Trainer. Wir wussten, in unserem Alter spielt ein einziges Jahr eine entscheidende Rolle. Wir achteten darauf, unsere Fortschritte zu dokumentieren. Gegenseitig trieben wir uns unermüdlich an, absolvierten unsere Trainingseinheiten, mit dem bloß Möglichen durften wir uns niemals zufriedengeben. Von Anfang an hatten wir uns darüber verständigt, auch ohne viele Worte.

In unserem Leseraum lagen Expeditionsberichte aus, wir lasen sie immer wieder, die Bücher waren zerfleddert, erzählten von Himalayabesteigungen, dem Kilimandscharo und anderen alpinen Abenteuern. Wir wussten, wenn die höchsten Gipfel bestiegen sind, bleibt nichts, als der Aufstieg ohne Vorgaben – jeder war auf sich gestellt, es zählten die selbst auferlegten Regeln. Die Kunst von heute ist eine Kunst ohne Maß, so hatten wir es schon bei Reinhold Messner gelesen: Nur auf immer größeren Umwegen sind die zeitbedingten Grenzwerte zu finden, die der allgemeine Erfahrungsschatz und das bisher Erreichte diktieren. In den Leistungsentwicklungen sämtlicher Disziplinen sind vorerst jedoch keine Grenzen abzusehen, beruhigte uns unser Trainer. Das galt auch für uns.

In den Pausen standen wir gemeinsam auf der Terrasse, berauschten uns am Blick hinunter ins Tal, wo das Leben in einer modellhaften Größe stattfand, wie kleingezüchtet, während man hier oben alles mit nur wenigen Schritten vermessen konnte. Das Leben erschien uns wie ein vibrierender Berg des Unwahrscheinlichen, dem bald auch wir das Unsere abfordern würden. Unsere Klasse war im letzten Jahr. Im Sommer würden wir das Heim verlassen. Wir schwiegen, hielten das Geländer fest umschlossen, die Augen auf der vertrauten Straße, die auch uns nach all den Jahren wieder von hier fort führen würde. Der ausgebleichte Asphalt der Straße entzog sich nach wenigen Windungen unserem Blick und ließ ihn unwillkürlich am Rücken der Berge wieder aufwärts wandern, zum Horizont, der aus einer endlosen Gipfelkette bestand, soweit das Auge reichte. In unseren Köpfen bewegten wir still unsere Gedanken. Nach und nach überkam uns eine seltsame Unruhe. Bald würden wir getrennte Wege gehen. Wir ahnten, dass wir plötzlich mehr denn je auf uns und unseren Willen zurückgeworfen sein würden. Wir hielten unseren Blick starr geradeaus gerichtet, sahen einander nicht an. Nur Frieder wandte sich ab, ging als erster zurück ins Zimmer, absolvierte seine Übungen:

Er nahm die Berghaltung ein, die Hände vor dem Brustkorb sanft aufeinandergelegt, die Schultern entspannt, atmete aus; anschließend spreizte er die Beine, das linke Knie nach innen gebogen, das rechte um 90 Grad nach außen gedreht, die Arme in Schulterhöhe seitlich gestreckt, die Handgelenke bildeten eine Linie mit den Fußgelenken, beugte er das rechte Bein im rechten Winkel zum Boden, sagte Krieger, Krieger heißen wir, streckte sein linkes Bein, während er den Oberkörper wendete, für leuchtende Tugend kämpfen wir, er ließ seine Schultern langsam sinken, sagte für hohe Weisheit und für hohes Streben, hielt die Pose, die Arme in Schulterhöhe waagrecht nach vorn und hinten gestreckt, die Augen geschlossen, aufwärts führt der Pfad zum Leben – mit dem Ausatmen streckte er sein rechtes Bein, wendete den Oberkörper und kehrte in die Ausgangsposition zurück. Auch wir hatten uns inzwischen zurückgezogen, verteilten uns im Gebäude, gingen hinunter in den Trainingskeller, um Gewichte zu stemmen, wir trafen uns im Fernsehzimmer, im Pool, zogen uns zurück, nahmen die Bücher aus unseren Regalen, um zu pauken.

Wir versuchten früh zu Bett zu gehen. Um diese Jahreszeit litten wir alle an Schlafstörungen, es war auf die schwankenden Druck- und Luftverhältnisse zurückzuführen, beruhigte uns Behrens. Behrens hatte uns milde Medikamente verschrieben. Wir rührten die Tropfen abends in unseren Tee. Trotzdem konnten wir keinen Schlaf finden. Erst lagen wir still in unseren Betten, horchten in die Nacht, versuchten unsere Gliedmaßen zu beruhigen, indem wir die Muskeln anspannten, die Anspannung hielten, sie wieder lösten. Wir wiederholten die Übung, spannten Unter- und Oberschenkel an, die Arme, Fäuste, sämtliche Muskelpartien nacheinander. Wir entleerten unsere Gedanken, konzentrierten uns ganz auf unseren Atem, wie er in die Lungen floss, den Brustkorb füllte, anhob und dann gleichförmig über unsere Lippen strömte, aus unseren Mündern entwich. Daraufhin warfen wir uns aber erneut auf unseren Matratzen hin und her, erst war es zu heiß, dann zu kalt, wir setzten uns auf unseren Bettkanten auf, starrten ins Dunkel der Zimmer, die Arme auf unsere Schenkel gestützt. Schließlich standen wir auf, wir mussten uns nicht lange verständigen, keiner von uns konnte Schlaf finden. Aus unseren Schränken griffen wir unsere Mäntel, zogen sie über, schlangen die Schals um unsere Hälse. Wir setzten uns die von unseren Müttern gestrickten Mützen auf. Im Gang flackerten nur die grünen Notleuchten, alles war ruhig. Die Tür, die von der Waschküche ins Freie führte, öffnete sich lautlos. Wir liefen über die angrenzenden Hänge und Wiesen, das Gras war hart und rau, wie das Fell im Nacken eines Stiers. Der Mond schimmerte abweisend und spröde, von einem Wolkenschleier verdeckt. Die tief in unsere Gesichter gezogenen Mützen verstärkten das Dunkel, das um uns herrschte. Zwischen unseren Sätzen dehnten sich die Pausen, nur unsere Schritte waren zu vernehmen, der Atem. Dann begannen wir plötzlich erneut zu reden, unterbrachen uns, fielen uns gegenseitig ins Wort, sprachen über unsere Pläne, die Zukunft, Ziele. Schließlich kehrten wir zurück, öffneten leise die Tür, legten uns erneut in unsere Betten, bis wir nach und nach einschliefen, unsere Körper verschwitzt, die Decken zurückgeworfen – wir träumten: