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Henry Bauchau

Licht gegen Schatten

Henry
Bauchau

LICHT GEGEN
SCHATTEN

Aus dem Französischen
von Claudia Kalscheuer

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Für Christian,
für Rodolphe,
für Marine.

Tritt sanft, du trittst ja auf meine Träume.
Yeats

I

WÄHREND DIE METRO mich bis Fort d’Aubervilliers bringt, wo ich in den Bus Richtung Bobigny umsteigen werde, denke ich an meine Familie, wie sie in meiner Kindheit war. Die Familie, die weit zurückliegenden Jahre, die ich noch erlebt habe, das interessiert Paule am meisten, wenn wir im Krankenhaus miteinander reden. Die Wurzeln, die verschlungenen Bande, die Lebensgewohnheiten dieses Klans, dem ihr Mann und ihr kleiner Junge, oft ohne ihr eigenes Wissen, so fest angehören und in den sie hineingeheiratet hat.

Die Krebsbehandlung hat Paule ihr Haar verlieren lassen. Wenn ich sehe, wie besorgt sie um den Sitz ihrer Perücke ist, stelle ich mir oft vor, wie sie hat leiden müssen, als sie ihren kahlen Kopf entdeckte. Wäre Stéphane, wenn er weitergelebt hätte, wenn er nicht 1944 von den Nazis ermordet worden wäre, kahl geworden? Ich werde ihn immer so vor Augen behalten, wie er mit siebenundzwanzig Jahren war, in meiner Erinnerung wird er von der Zeit unberührt bleiben. Mir ist, als würde er mit mir in Paules Zimmer treten, mit seinen tiefblauen Augen, seinem blonden Haar, seiner hohen Gestalt, seinem knappen Lächeln. Nicht schüchtern, sondern zurückhaltend. Ein Mann der Tat.

Ich habe ihn im Juli 1940 kennengelernt, bei den Aufräumarbeiten der Kriegstrümmer. Von Beruf war er Bohrarbeiter, aber er kannte sich in der Trümmerräumung gut aus. Sehr bald hat er unsere Mannschaft geleitet. Als mehrere Baustellen zusammengelegt wurden, hat er 1941 in der Moselgegend die Leitung eines Ausbildungslagers für Bauleiter übernommen.

Sobald er etwas freie Zeit hatte, zog es ihn zum Klettern in die Felsen, die den Fluss streckenweise säumen, denn seit Kriegsbeginn waren die Alpen und andere Gebirge für ihn nicht mehr erreichbar. Ich entdeckte, dass er ein hervorragender Bergsteiger war und dass Berge, Felsen und Gletscher die Leidenschaft seines Lebens waren.

Eines Tages hat er mir vorgeschlagen, mit ihm klettern zu gehen. Ein Bummelzug bringt uns in die Nähe einer Felsgruppe, in der es mehrere Routen zu begehen gibt. Er holt ein aufgerolltes Seil aus seiner Tasche und hängt es sich über die Schulter. Wir wandern bis zum Fuß der Felsen, mit seinem umgehängten Seil wirkt er zugleich bescheiden und erhaben. Klettern muss man üben, lernen, und das mit ihm zu tun, gefällt mir auf Anhieb. Ich erinnere mich an jene Route, die erste, die er mich hat klettern lassen. Ich bin unsicher, denn ich bin immer schwindelanfällig gewesen. Er erklärt mir nichts weiter als den Umgang mit dem Seil und wie man es durch die Karabiner laufen lassen muss, die er an ein paar Haken einhängt. Ansonsten sagt er nur: »Mach es mir nach.« Ich sehe ihm zu und staune, wie wenig Fläche er für einen Tritt oder einen Griff braucht. Es kommt mir unmöglich vor, ich werde loslassen, abrutschen, und doch gelingt es mir nach und nach, mich zu halten, wo er sich gehalten hat, mich hochzuziehen, wo er sich hochgezogen hat. An einer etwas heiklen Stelle muss man sich um den Felsen herumbewegen, indem man sich auf nur einem Fuß im Gleichgewicht hält, während man mit dem anderen blindlings nach einem Vorsprung sucht, von dem man sich abdrücken kann. Man ist gezwungen, den Blick nach unten zu richten. Wir sind nicht sehr weit oben, jedoch genug, dass es sich für mich anfühlt wie ein Abgrund. Alles beginnt sich leicht um mich herum zu drehen, und mein Fuß zittert auf dem Tritt, den ich aufgeben muss, ohne zu wissen, wo ich den nächsten finden werde. Ich denke: Ich werde stürzen. Im gleichen Moment sehe ich seinen Blick, der auf mir ruht, während er das Seil etwas strafft, um mich besser zu sichern, und ich höre seine sehr ruhige Stimme: »Geh mit dem linken Bein etwas höher, da ist der Tritt. Und dann zögere nicht, greif direkt über dich, da ist ein kleiner Vorsprung, an dem du dich hochziehen kannst.« Ich spüre, dass dieser Moment entscheidend ist, ich werde es wagen oder nicht, ein Kletterer zu sein, und ich will es mit aller Kraft. Ich schaffe es, ich schließe zu ihm auf. Später bin ich diese Stelle noch oft geklettert, ohne zu verstehen, warum sie mir damals so schwierig vorkam. Und jedes Mal, wenn ich einen Anfänger dorthin führte, habe ich festgestellt, dass er die gleichen Schwierigkeiten hatte wie ich beim ersten Mal, und mich dann bemüht, ihm auf die gleiche Art wie Stéphane Vertrauen zu geben.

Nun stehe ich vor Paule, und sie fragt mich: »Werde ich wieder gesund oder nicht?« Mir ist, als wäre Stéphane im Raum. Es geht darum, durchzukommen, ihr den richtigen Griff zu zeigen. Eben den, der mir unbekannt ist. Ich antworte nicht, sage mir ihre Frage wieder und wieder vor, dann setze ich ein erstauntes Gesicht auf und antworte wie immer: »Natürlich, du bist auf dem Weg der Besserung, das weißt du doch.« Wer gibt mir das ein, ist es Stéphane? Hätte er es genauso gemacht, ohne irgendetwas zu wissen? Ich gehorche einem Impuls, dem des Pflegepersonals und ihrer Mutter, der Paule die Hoffnung bewahren will. Sie haben recht, was soll man sonst tun?

Als ich das Krankenhaus verlasse, treffe ich am Eingang eine Freundin von Paule, die sie besuchen kommt. Sie wundert sich: »Alle erzählen ihr Märchen, sie plant ins Ausland zu ziehen, ihr Haus einzurichten, das ist doch alles unmöglich. Es ist schrecklich, ihr die Wahrheit zu verheimlichen und etwas vorzuspielen.«

Paules Mutter kommt hinzu, mit jenem ruhigen, entschlossenen Gesichtsausdruck, der ihr eigen ist, seit ihre Tochter erneut im Krankenhaus liegt. Sie hat nicht gehört, was Justine zu mir gesagt hat, doch sie errät es und weist es mit einer Schulterbewegung zurück: »Was zählt, ist, dass Paule den Mut behält, wenn der verlorengeht, ist alles verloren.« Sie hakt Justine unter, sie steigen in den Aufzug und winken mir zum Abschied.

Ich gehe, ich steige wieder in den Bus. Mir gegenüber sitzt ein noch junger Mann mit abgezehrtem Gesicht. Sein blaugrauer Blick fällt mir auf, ein aufmerksamer, konzentrierter Blick, wie dafür geschaffen, den Horizont abzusuchen. Mit diesem Blick musterte Stéphane den Felsen, ehe er eine Klettertour unternahm, und mit dem gleichen Blick, der dann ein wenig dem eines Raubvogels glich, studierte er während eines Aufstiegs die möglichen Griffe.

In den ersten Kriegsjahren sind wir oft zusammen geklettert, und zwischen uns entstand eine Freundschaft. Eines Tages hat er mich zusammen mit einem Sportlehrer mitgenommen, Sarquin, einem sehr guten Kletterer. Am Ende des Tages zeigte uns Stéphane, während wir ihn von unten sicherten, eine Route mit einem starken Überhang, der zwei schwierige Züge verlangte.

Stéphane überwindet den ersten Überhang eher langsam, nach einer kurzen Verschnaufpause geht er den zweiten an und bewältigt ihn mit bewundernswerter Präzision und Schnelligkeit. Nachdem er sich abgeseilt hat, sichert er Sarquin. Dieser fängt gut an, klettert den ersten Überhang jedoch zu schnell und erreicht den zweiten schon müde, schafft es nicht, sich hochzuziehen, und verliert plötzlich den Halt.

Stéphane sichert ihn bis zum Boden und fordert mich dann auf, es zu probieren. Wenn Sarquin gescheitert ist, werde ich es sicher nicht schaffen. Ich habe keine besondere Lust, den Versuch zu wagen, aber ich kann vor den beiden anderen keinen Rückzieher machen.

Ich gehe die Sache langsamer an als Sarquin, bewältige den ersten Überhang mit Mühe, versuche jedoch, mir meinen Atem einzuteilen. Beim zweiten Überhang ist eine schnelle Grifffolge erforderlich. Am Fels hängend erinnere ich mich an jede von Stéphanes Bewegungen, und mein Instinkt führt sie aus. Meine Hände ziehen sich an winzigen Vorsprüngen hoch, mit einem Schwung richte ich mich auf, und ohne zu wissen wie, habe ich es geschafft. In dem Augenblick, da ich den ersten Überhang überwinde, sehe ich zwischen meinem Oberkörper und meinem Arm das aufmerksame Gesicht von Stéphane, der mich sichert. Als ich oben angelangt bin und mich umdrehe, sehe ich die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht. Sein Indianerlächeln, wie die Männer von seiner Baustelle sagen, und es vermittelt mir ein Gefühl von Freude, von vollkommener Erfüllung.

Als ich wieder am Boden ankomme, sieht Sarquin mich erstaunt an, er begreift nicht, wie ich habe schaffen können, woran er, der Stärkere und Geübtere, gescheitert ist.

Seit jenem Blick auf Stéphanes Lächeln hinab ist der Schwindel verschwunden, unter dem ich immer gelitten hatte. Seitdem habe ich es nur noch mit der Wand zu tun, mit der Schwerkraft, mit der Arbeit meiner vier Gliedmaßen, und nie wieder hat mich die Angst gelähmt. Etwas ist geschehen, als hätte Stéphane mich mit seiner Kraft erfüllt.

Im Bus und dann in der Metro, die mich bis Opéra zurückbringt, wo ich in den RER umsteigen muss, denke ich an jenen Augenblick, der mich damals für Wochen beflügelt hat und der in meinem Leben, wie mir heute bewusst wird, sehr wichtig war.

Es war ein Beweis. Ein Beweis der Leistungsfähigkeit meines Körpers, und vor allem ein Beweis von Stéphanes Freundschaft. Er brauchte, wir brauchten eine Belastungsprobe. Er hat diese sehr subtil gestaltet. Er war glücklich, sich nicht in mir getäuscht zu haben. Auch wenn dies zweifelhaft ist, denn die Kraft, über die ich in jenem Moment verfügte, war nicht meine eigene, sondern, durch die Macht seines Blickes, seine. Warum denke ich so selten an jenen triumphalen Moment zurück, an jene Jahre einer so tiefen Freundschaft, die beinahe ohne Worte auskam?

Etwas hat diese glücklichen Momente ausgelöscht, die vielen Momente voller Risiko, Kraft und Siege, von denen meine Touren mit Stéphane erfüllt waren. Etwas, das ich nicht durchlebt habe, das ich heute erst durchlebe – sein Tod.

Während ich gealtert bin, während mein Körper an Geschmeidigkeit und Kraft verloren hat, wird Stéphane immer jung bleiben, neunundzwanzig Jahre alt, mit seinen blauen Augen, seinem blonden Haar und seinem Indianerlächeln.

Paules Tod, den ich zugleich fürchte und nicht fürchte, denn die Hoffnung hat mich fest im Griff, lässt eine Menge Erinnerungen in mir aufsteigen, und vor allem die an Stéphane. Will ich, kann ich das alles jetzt durchleben, in diesem grauen, windigen, regnerischen Monat Juni, in dem ich mich überfordert fühle von all den zu erledigenden Dingen, den Fahrten quer durch die Stadt und dem Aussetzen meiner schriftstellerischen Arbeit, die mir grausam fehlt? An der Gare de l’Est steigen Leute zu, andere aus. Es erschöpft mich, an Paule zu denken und durch sie hindurch Stéphanes Tod zu durchleben. Ich steige Opéra aus, tauche in die langen Gänge ein, die ich in- und auswendig kenne. Ich nehme das Laufband zwischen den roten Wänden, ich stecke meine Fahrkarte in das Kontrollgerät. Neben mir springt ein junger Mann leichtfüßig über die Schranke. Ich sehe ihn voller Neid an, ich sage mir, wenn ich noch so wäre wie Stéphane und ich 1942, könnte ich darüberspringen wie er, genauso leichtfüßig. Doch die Jahre sind vergangen, ich bin nicht mehr so, ein Gewicht hat sich über mein Leben gesenkt.

Ich gehe die Treppe hinunter, in der großen Halle der Station Auber ist eine Ausstellung über die Jahre 1900 bis 1914. Es ist spät, aber ich gehe kurz hinein. Da hängt ein erstaunliches Foto des belgischen Königs Leopold II. in Ostende. Er steht gebeugt da und kämpft gegen den Wind an, im Gehrock und mit einem Zylinder auf dem Kopf, unter dem nur sein entschlossener Blick und sein gewaltiger weißer Bart hervorschauen. Er ist von mehreren Herren mit Zylinder umringt, die genauso vorgebeugt dastehen und kleiner sind als er. Er sieht eher aus wie ein Großkapitalist des beginnenden 20. Jahrhunderts als wie ein König. Wie ein mit Raureif überzogener, vom Alter eingefrorener großer Geschäftsmann, der weiß, dass es für ihn bald keine Geschäfte, kein Morgen mehr geben wird.

Dieses merkwürdige Bild lässt mich an den Nordpol denken, zu der Zeit, als dort noch Segelschiffe von den Eismassen eingeschlossen wurden. Der alte König, der noch in Bewegung ist, der vielleicht letzten Zeremonien, letzten Freuden entgegeneilt, erinnert mich an eines jener Schiffe der großen Forschungsreisenden der Vergangenheit. Auf diesen gewaltigen Bart haben die streikenden Arbeiter von Sainpierre mit Pferdemist geworfen, als der König der Stadt einen Besuch abstattete – das hat mein Großvater einmal bei Tisch erzählt. »Und er«, berichtete mein Großvater, »hat sich ohne stehenzubleiben, ohne eine Miene zu verziehen, mit einer leichten Handbewegung die Miststückchen aus dem Bart gestrichen.« Das Gelächter verstummte sofort, es breitete sich verblüfftes Schweigen aus, er grüßte die Menge mit einem leichten Kopfnicken, worauf diese zu applaudieren begann. »Er war nicht beliebt«, sagte mein Großvater, »aber er verstand es, Haltung zu bewahren und den Risiken seines Berufs zu begegnen.«

Ich gehe die Treppe zum Bahnsteig hinunter und lande auf Höhe des letzten Wagens, wo die Chancen, einen Sitzplatz zu finden, am größten sind. Das Bild des alten Königs mit seinem weißen Haar inmitten der Vorboten des Ersten Weltkriegs beschäftigt mich. Ein erstaunliches Foto aus der Zeit vor meiner Geburt. Doch diese Welt der Städte ohne Autos, der Pferde, der mit Pferdemist auf Königsbärte werfenden Arbeiter, ist auch noch die meine gewesen. Ich habe diese Welt ohne Traktoren und die nur von Pferden und Ochsen gepflügten Landschaften noch gekannt. In meiner frühen Kindheit, während des Krieges, waren unsere Feinde nicht Diktatoren oder Präsidenten, sondern Kaiser Wilhelm II., Kaiser Franz Joseph, der türkische Sultan, und unter unseren Verbündeten waren der König von England, der Zar von Russland und der König von Italien. Die Menschen von heute, im Jahr 1980, haben keine Vorstellung mehr von dieser Welt, von der nur noch schwarzweiße Fotos und Filmausschnitte zeugen.

Da kommt der Zug, ich finde einen Platz im letzten Wagen, neben mir reden und lachen zwei Schwarze, alle anderen um mich herum sind still und müde. Ich nehme das Buch hervor, das ich in der Tasche habe. Eine Patientin hat es mir geliehen. Sie arbeitet an einer Doktorarbeit in Geschichte, sie hat mir mehrfach von den Büchern von Philippe Ariès erzählt und gespürt, dass mich das interessierte. Sie hat mir die Studien zur Geschichte des Todes im Abendland mitgebracht. Ich blättere darin und stoße auf die Bemerkung, im 19. Jahrhundert habe man nicht über Sexualität gesprochen, doch noch in Gegenwart des Todes gelebt; heute spreche man über Sexualität und habe den Tod verborgen. Dieser Satz drängt die Flut von kleinlichen Beschwerden, die mich den ganzen Tag niedergedrückt hat, mit Macht zurück. Warum so viel Arbeit, so viele Fahrten, warum diese Vernachlässigung des Buches, das ich in mir entstehen fühle?

Argile steht mit dem Auto am Bahnhof, ich bin froh, wenigstens die Anstrengung, zu Fuß nach Hause zu gehen, wird mir heute erspart bleiben. Ich sage zu ihr: »Paule geht es nicht besser, warum zwinge ich mich, so oft ins Krankenhaus zu gehen, wenn ich doch nichts mehr für sie tun kann?«

»Weil du es willst. Du glaubst, du kannst nichts mehr für sie tun, aber wenigstens machst du dich fertig … So bist du eben.«

Ich sehe sie an. Ihr Blick ist auf den dichten Verkehr gerichtet, doch sie spürt es und lächelt.

II

IN DEN FOLGENDEN TAGEN UND NÄCHTEN geht mir allmählich auf, was wir, Stéphane und ich, in den paar Jahren erlebt haben, in denen wir durch das Klettern verbunden waren. Am Anfang sind wir oft zu dritt oder zu viert losgezogen, doch bald sind wir nur noch zu zweit geklettert. Weil wir auf diese Weise mehr Routen schafften, weil ich ihm besser folgen konnte als die anderen? Auf dem Gebiet der Felsen hatte ich das Gefühl, das ich bisher nie in Worte gefasst habe, sein Lieblingsgefährte zu sein. Dort war er mein Lehrer. Ein strenger Lehrer, der mir keine Schwierigkeit ersparte, keinen Fehler durchgehen ließ. Ein Lehrer, der mich als seinesgleichen behandelte. Dieser wenig gebildete junge Mann, der die Schule mit sechzehn verlassen hatte, war ein Lehrer, bei dem ich eine Technik, eine Wissenschaft der freudigen Anstrengung und die Energie der hart erarbeiteten Lust erlernte. Ich erinnere mich, wie wir eines Tages eine besonders luftige Route gegangen sind, die er als einer von Wenigen vorsteigen konnte. Am Morgen hatte es geregnet, der Fels war rutschig. Wenn man fast oben angelangt war, musste man sich strecken, um mit den Fingerspitzen einen Haken zu erreichen, den er selbst gesetzt hatte, als er die Route eröffnete, und einen Karabiner einhängen. Der Haken war herausgefallen, und niemand hatte ihn ersetzt.

Der Vorsprung, von dem Stéphane sich aufschwingen will, bröckelt und gibt unter seinem Gewicht plötzlich nach. Er fängt sich mit knapper Not, indem er die linke Hand und den linken Fuß in einem schmalen Riss verklemmt. Dann macht er sich mit äußerster Ruhe daran, die Wand über sich zu untersuchen. Ich sehe ihm von weiter unten zu, und seine Ruhe überträgt sich auf mich, obwohl auch ich mich in einer unbequemen Position befinde.

Ich bin beeindruckt von seinem Blick, der nicht mehr dem eines Menschen gleicht – ein Auge ohne Lächeln, ohne Angst, ohne anderen Ausdruck als den äußerster Aufmerksamkeit. Ich muss an das Auge eines Raubvogels denken, und mein Gefühl ist nicht, dass Stéphane in unsicherer Lage an einem recht brüchigen Felsen hängt, sondern dass er im Himmel schwebt wie ein Falke (damals hatte ich noch nie einen Adler im Flug gesehen). Als Stéphane dann mit ruhiger Stimme zu mir sagt: »Lass mir genug Seil für den Anfang, und dann sichere mich straff – wenn ich stürze, wird der erste Haken nur halten, wenn der Fallweg kurz ist«, bin ich deshalb nicht besorgt, ich schwebe, wie Stéphane.

Er geht wieder los, er schafft es, ich weiß nicht wie, seinen anderen Fuß einen Augenblick abzustützen und sich, ohne ihn auf diesem winzigen Tritt halten zu können, zu strecken, um über dem früheren Haken einen ausreichend stabilen Vorsprung zu greifen, an den er sich mit einer Hand hängt, worauf es ihm gelingt, die linke Hand neben die rechte zu setzen. Er zieht sich langsam hoch, indem er sich mit den Füßen gegen die Wand abdrückt, dann plötzlich scheint er sich zu zerteilen, er setzt seine Füße dahin, wo seine Hände waren, und erhebt sich, erreicht mit der linken Hand einen Griff, den ich nicht sehe. Er sagt: »Gib mir mehr Seil!« Er hat es geschafft, ich höre ihn schnaufen, er steigt noch weiter, ich sehe ihn nicht mehr. Kaum ist er aus meinem Blickfeld verschwunden, bekomme ich Angst. Da erklingt seine ruhige Stimme, etwas außer Atem: »Ich sichere dich. Los, verklemm deinen Fuß links in dem Riss, und dann mit Schwung.« Wie er es mir beigebracht hat, hole ich tief Luft, vergewissere mich, dass das Seil gespannt ist, es gelingt mir, meinen Fuß in dem Riss zu verklemmen, ich drücke mich hoch, ich fühle meinen Fuß zittern und plötzlich ist mir, als hätte ich keinerlei Kraft mehr in dem Bein und als bestünde mein ganzer Körper nur noch aus Krampf, Zucken und Zittern. Ich werde von heftiger Angst ergriffen, mein Rücken ist von kaltem Schweiß überströmt. Ich sehe Stéphane nicht, doch von dem Vorsprung aus, auf dem er angelangt ist, kann er mich sehen. Er sagt: »Deine Hand, deine linke Hand und dann die rechte, und wenn du deinen Fuß weit genug nachgeholt hast, kommst du hoch.« Ich habe keinerlei Kraft mehr, wie soll ich mich mit den Händen hochziehen? Er sichert mich, er wird mich ziehen. Ich taste unwillkürlich nach dem Seil. Es ist nicht ganz gespannt. Stéphane hat also nicht vor, mir mit Hilfe des Seils aus dieser schwierigen Lage herauszuhelfen. Er denkt, ich kann es allein schaffen. Eine Art Kraft kehrt zurück. Ich strecke meine rechte Hand hoch. Ich spüre den Griff, ich habe ihn nur mir den Fingerspitzen. Die linke Hand hängt sich auch daran. Mein Fuß rutscht an der Wand ab. Unmöglich, mich hochzudrücken. Die Stimme sagt: »Weiter links, setz deinen Fuß schräg.« Ich spüre einen Widerstand, verlagere mein Gewicht darauf und ziehe mit einer letzten Anstrengung den rechten Fuß nach. Ich komme hoch, ich habe es geschafft. Mit ihm vor mir, von ihm gesichert, aber im Grunde allein, ganz allein. In dem Kamin, den wir erreicht haben, lasse ich mich neben ihn fallen. Ich bin außer Atem, in kalten Schweiß gebadet, unfähig, mich zu rühren. Er beugt sich herüber, zieht mir den Pulli aus, das Hemd, reibt mich damit ab wie ein Pferd, und als ich trocken bin, zieht er mir den Pulli auf die nackte Haut wieder über und massiert mich mit sanften, erfahrenen Bewegungen. Von da an ist die Route einfach. Keiner von uns kommentiert das eben Geschehene und es wird auch später nicht darüber gesprochen werden, was wir da zusammen erlebt haben. Ich murmele undeutlich: »Du warst großartig«, und fühle mich plötzlich von Freude überströmt, genauso wie vorhin von Angst und eiskaltem Schweiß.

Wir gehen zwischen Bäumen zurück, durch ein mit Steinplatten durchsetztes Bachbett, das keine großen Schwierigkeiten bietet. Ich bin wie entrückt, erfüllt von Freude und Ruhe, und als wüsste er es, weist er mich auf den Weg hin, auf bestimmte Orientierungspunkte. Das stört meine Euphorie, mein Gefühl, von den Göttern begnadet zu sein.

»Warum machst du mich auf das alles aufmerksam?« Und er: »Damit du dich zurechtfindest, wenn du ohne mich wiederkommst – wenn man nicht dem richtigen Weg folgt, landet man über einem Steilabfall.«

»Aber ich werde nie ohne dich hierher zurückkommen.«

»Du solltest lernen, Seilschaftserster zu werden.«

Das gibt mir zu denken, ich sage: »Ich bin nicht soweit, und selbst wenn ich einmal vorsteigen sollte, würde ich diese Route nie ohne dich schaffen. Das wird immer über meine Kräfte gehen.«

Wir erreichen eine nicht ganz einfache Wand, und er lässt mich vorgehen. Ich klettere ohne Mühe unter seinen Augen hinunter. Der Himmel ist dunkelgrau geworden, es wird ein Gewitter geben, dicke Tropfen beginnen zu fallen. Als hätten wir beide weiter über das Gleiche nachgedacht, sage ich zu ihm: »Außerdem habe ich keine Lust, mit anderen zu klettern. Ich bin gerne mit dir zusammen.« Er bleibt stehen, er wirkt glücklich: »Ich auch, aber die Aufräumarbeiten werden nicht ewig dauern. Es ist Krieg, weder du noch ich wissen, wo wir in einem Jahr sein werden. Wenn man mit dem Klettern einmal angefangen hat, wird man süchtig, man kann nicht mehr damit aufhören.« Mir ist, als würde er plötzlich sehr dunkle Aussichten vor uns eröffnen. Ich weiß wohl, dass die Aufräumarbeiten nicht mehr sehr lange dauern werden, dass der Krieg nur immer schlimmer werden kann bis zu seinem Ende. Aber ich mag nicht daran denken, ich konzentriere mich auf die Gegenwart, auf die nächsten Monate, die nächsten Wochen. Wir sind im Tal angekommen, das Gewitter bricht los. Im Schutz eines Baumes hören wir, wie der Regen auf seine Krone niederprasselt. Das Glücksgefühl von vorhin hält weiter an, aber gedämpft. Es prallt gegen die Masse von grauen, windgetriebenen Wolken, die aus Stéphanes Gedanken hervorzudringen scheinen, aus der düsteren Zukunft, dem Abgrund, den er vor uns aufgerissen hat. In dieser Welt des Todes, die uns in diesem September 1942 umgibt, auf der kleinen Insel relativer Ruhe, auf der wir uns noch befinden, denke ich niemals an den Tod. Immer an die Zukunft.

»Und du, Stéphane, denkst du oft an den Tod?«

Er antwortet nicht, er stopft sorgfältig eine kleine Pfeife, die er ab und zu anzündet. Der Regen hört fast auf, wir sind durchnässt, er führt mich durch die wassergetränkten Wiesen zum Fuß des Felsens, wo er unter einem Überhang unsere beiden Taschen versteckt hat. Er nimmt mich mit in eine kleine Höhle, in der er unter ein paar Steinen etwas trockenes Holz gelagert hat. Er entzündet das Feuer, während ich noch mehr Holz sammle. Als ich zurückkomme, beginnt das Feuer die Höhle zu erleuchten, er hat mein Hemd zum Trocknen aufgehängt und ist selbst dabei, sich auszuziehen. Ich tue es ihm nach, wir legen bis auf die Unterhose alles ab, und während unsere Kleider trocknen, essen wir. Er hat sich auf einen Stein gesetzt, ich auf einen Holzscheit, wir teilen den Proviant, den wir dabeihaben. Ich bewundere seine langsame Art zu kauen und jeden Bissen zu genießen – welch ein Gegensatz zu meiner schnellen, nervösen Art, Nahrung zu verschlingen. Ich sage mir, wenn ich kauen könnte wie er, würden meine körperlichen Schwierigkeiten verschwinden, aber ich bin eben nicht wie er. Ich bin eine Art nervöser Intellektueller, mit einem ständig in Erregung befindlichen Gehirn, schnell entfachtem Begehren, unablässig gefangen zwischen unlösbaren Widersprüchen, von denen ich manchmal, wenn ich mich traue, denke, dass sie meinen Reichtum darstellen. Er, das spüre ich wohl, lebt ebenfalls in seinen Widersprüchen, aber nicht auf der Ebene der Worte. Ich kann nicht anders als nachhaken: »Du hast auf meine Frage nicht geantwortet. Denkst du oft an den Tod, Stéphane?« Er zieht an seiner Pfeife, die ausgegangen war und die er gerade mit einem glimmenden Holzstück wieder angezündet hat, und antwortet schlicht: »Ja.« Dann fügt er hinzu: »Und du?«

»Ich fast nie.«

»Du hast Kinder, Kinder sind die Ewigkeit.«

Der Gedanke frappiert mich. Ich bemerke an der Nordwand der Höhle eine Art Lager aus Blättern und Farnen.

»Kommst du manchmal zum Schlafen hierher?«

Er nickt.

»Kommst du mit einer Frau?«

Er zuckt mit den Schultern und murmelt: »Ach, die Frauen interessieren sich nicht besonders für mich.«

»Du meinst, du interessierst dich nicht besonders für sie.«

Er lacht und steht auf, um etwas Holz zu holen und sorgfältig aufs Feuer zu legen. Eine Wolke von Rauch und Dampf steigt auf. Das Holz knistert, er bleibt vor mir stehen, um das Feuer zu überwachen. Ich stehe auch auf, meine nasse Unterhose stört mich, ich ziehe sie aus und hänge sie neben meine anderen Kleider an einen Ast vor dem Feuer. Ich sehe, dass er das gleiche tut. Das Feuer trennt uns, ich sehe Stéphane durch eine Wand von Rauch hindurch. Er steht sehr aufrecht da, größer als ich, in einer Hand die Pfeife, die er mit nachdenklicher Miene raucht, er sieht mich nicht an. Sein Gesicht und seine Arme sind von der Sonne gebräunt, die langen Glieder und Muskeln, die leichte Narbe ganz oben auf seiner Stirn, seine Schönheit trifft mich wie ein Schlag. Nicht seine, Stéphanes, Schönheit, sondern die des jungen Mannes, das harmonische Gleichgewicht der Beine, der schmalen Hüften, der breiten Schultern. Der Haltungsfehler, der von der Arbeit in der Grube leicht gekrümmte Rücken, fügt dem ganzen die Drohung der Anfälligkeit aller Schönheit hinzu. Ich denke plötzlich, wenn es eine Frau wäre, die mir da nackt gegenüberstünde, eine Frau, die so schön wäre wie Stéphane, könnte ich nicht anders, als sie zu begehren und körperlich aufgewühlt zu sein. An diesem Tag empfinde ich nichts Derartiges, auch wenn ich, wie viele Männer, früher einmal Liebe für einen anderen Jungen empfunden habe und vielleicht wieder empfinden werde. Ich sehe ihn nur durch den Rauch hindurch an und finde ihn schön. Mein zarterer, nervöserer Körper erkennt sich in dem Bild, in den vollkommenen Proportionen seiner Gestalt wieder. Er blickt auf, und da er sieht, dass ich ihn ansehe, sieht auch er mich an. Unsere Blicke begegnen sich nicht, er sieht meinen Körper an, ich seinen. Ich sehe, dass er voller Bewunderung ist, genau wie ich. Nicht ich bin es, den er bewundert, sondern die schmale, etwas hagere, etwas spitze Gestalt des Mannes, der in mir ist. Es ist der Mann, der seine Taten und seinen Samen wegwirft, der kein Kind trägt, der keine Dauer trägt. Der vergängliche Mann, der Spieler, der sich mit dem Fels vergnügt. Nie habe ich besser verstanden als in diesem Augenblick, wie willkürlich der Mann, das Männliche im Grunde ist, geschaffen für das Spiel, den Krieg. Die Frau, das Kind drängen ihn zur Arbeit, zur Zivilisation. Er, Stéphane, der junge Mann ohne Frau, ohne Kind, kann mit den Männern von seiner Baustelle Arbeit hält uns aufrecht singen, mit seiner schönen tiefen Stimme. Doch man sieht, ich sehe in diesem Moment, dass er die Arbeit keineswegs braucht, um sich aufrecht zu halten. Enthaltsam und geschickt, wie er es ist, könnte er sehr gut in der Wildnis leben. Vielleicht wäre er da glücklicher, er wäre wahrscheinlich nicht den Gefahren ausgesetzt, in die ich und meinesgleichen mit unseren Idealen, unseren Ideen, unseren Plänen und unserem Willen, dem Leben einen Sinn zu verleihen, uns hineinbegeben. Ich weiß nicht, wie lange wir so dagestanden sind, einander sehend ohne einander anzuschauen, ein paar Augenblicke vielleicht oder auch ein paar Minuten. Im Kochtopf, den er auf zwei Scheite gestellt hatte, hat das Teewasser angefangen zu kochen. Unsere Blicke begegnen sich, ein stilles Lächeln zieht über sein Gesicht, sein Mund bleibt geschlossen, aber seine Augen strahlen vor Freude und Zuneigung. Ich lächle auch, ich bin sogar drauf und dran, etwas zu sagen und diesen vollkommenen Augenblick kaputtzumachen. Wir setzen uns beide. Er spült seine kleine Teekanne heiß aus, gibt ein paar Körner schwarzen Tee und Lindenblütenblätter hinein. Ich habe Zucker mitgebracht, und wir trinken das Ganze kochendheiß. Während ich esse und in kleinen Schlucken meinen Becher austrinke, steht er auf, nimmt mein am Feuer aufgehängtes Hemd und gibt es mir. Es ist getrocknet, und die Berührung des warmen Stoffs auf meiner Haut ist herrlich.

Ich ziehe mich an, meine Kleider sind trocken wie die, die Eugène mir brachte, wenn ich nachts auf Patrouille hinaus musste. Eugène, der zur Zwangsarbeit nach Deutschland gegangen ist. Wo ist er jetzt? Ich habe seine Frau gesehen, sie hatte ein Baby bekommen, kurz bevor er ging, und ich habe mich gewundert: »Aber als Vater eines so kleinen Kindes hätte er doch das Recht gehabt hierzubleiben.« Sie hat mir geantwortet: »Das wusste er, aber man musste es bei der Kommandantur beantragen. Er hat gesagt: Ich werde diese Leute nie um irgendetwas bitten.« Ich habe begriffen, dass sie genauso dachte wie er. Sie wäre selbst auch niemals hingegangen. Ich dagegen hätte es getan, das ist klar. Für Eugène war das Recht etwas anderes. Ehre war kein Wort, das zu seinem Wortschatz gehörte. 1940 hätte er gedacht, das sei ein Wort für Offiziere. Für ihn ging ein Mann einfach nicht zu diesen Leuten. Punkt, aus. Er geht und lässt seine Frau und seine kleine Tochter im Dorf zurück. Ich erzähle Stéphane, was Eugène getan hat, während ich mit ihm mehrere Tassen von diesem Gebräu trinke, das Tee zu nennen wir inzwischen gewohnt sind. Er fragt: »Ist Eugène Bergarbeiter?«

»Nein, er ist kein Bergarbeiter, er hat wegen der Arbeitslosigkeit alles Mögliche gemacht. Warum fragst du das?«

»Die Bergleute sind so!«

»Und du, Stéphane, wärst du auch nicht hingegangen?«

Er sieht mich an: »Für mich nicht, nein. Wenn ich ein Kind hätte, weiß ich nicht.«

Er geht rasch zum Eingang der Höhle: »Es regnet nicht mehr, die Sonne kommt sogar ein bisschen durch. Wir haben Zeit, noch eine Route zu gehen. Der Fels wird feucht sein, wir nehmen diesmal etwas weniger Schwieriges.«

Im Zug zurück sind noch andere Kletterer. Wir treffen uns alle auf der Plattform, setzen uns auf unsere Rucksäcke und singen. Stéphane mit seiner tiefen Stimme stützt den Gesang von unten, und in den Seemannsliedern, die er liebt und deren Texte wir nicht ganz kennen, lassen wir ihn manchmal ein paar Strophen allein singen, um dann im Chor wieder in den Refrain einzufallen. Wir sind glücklich, wir haben das gleiche Vergnügen geteilt, spüren die gleiche Müdigkeit in den Armen, in den Beinen, und vereinen nun unsere Stimmen. Manchmal schließe ich die Augen, um Stéphanes und meine Stimme inmitten der anderen besser zu hören.

In Namur steige ich in den Zug nach Brüssel um, während er mit einem anderen Zug zurück zu seiner Baustelle fährt. Wir verabreden uns für in zwei Wochen. Er bittet mich, ein paar Karabinerhaken zu kaufen. Ich spüre voller Erstaunen, dass die Trennung einen Moment lang sehr hart ist. Für uns beide sehr hart, wir befinden uns im Jahr 1942, es ist eine Zeit der Trennungen. Ich steige mit den anderen Kletterern in den Zug, wir bilden eine kleine Gruppe in einer Ecke der Plattform und beginnen wieder zu singen, aber ich habe nicht mehr die gleiche Freude daran.

Einer beugt sich zu mir herüber: »Warst du das, der heute morgen die große Route mit ihm gegangen ist?«

»Ja.«

Ich füge hinzu: »Es war schwer für ihn, der Haken war herausgefallen. Aber er hat es trotzdem geschafft.«

Der andere stimmt zu: »Ohne den Haken muss man ein Ass sein. Er ist der Einzige, der das schaffen kann. Ich habe diese Stelle einmal versucht, mit dem Haken und von oben gesichert, und ich bin jedes Mal gestürzt. Und er hat natürlich einen neuen Haken gesetzt?«

»Ja, und der hält gut.«

»Das sieht ihm ähnlich: es ganz allein schaffen. Er riskierte ja einen Sturz, und deinen dazu. Und dann noch den Haken ersetzen …«

»Ich glaube nicht, dass er einen Sturz riskierte, ich habe gespürt, dass er es schaffen würde. Mit ihm fühlt man sich immer sicher. Bist du schon mit ihm geklettert?«

»Oft, ja, vor dem Krieg in den Alpen, er hat mir alles beigebracht, was ich kann. Aber du, bist du neu am Fels?«

»Seit sechs Monaten.«

»Und du bist an der Stelle nicht gestürzt.«

»Nein. Es war haarscharf, aber da Stéphane sicher war, dass ich es schaffen konnte, bin ich ihm gefolgt.«

»Nicht schlecht nach sechs Monaten. Mit wem kletterst du sonst?«

»Immer mit ihm.«

Er pfeift leise: »Guter Lehrer, du hast Glück.«

Wir erreichen Ottignies, ich mache es mir in der Ecke auf meinem Rucksack bequem, lehne mich gegen die Wand, ich singe leise mit den anderen und denke daran, was Stéphane mir gesagt hat: »Die Aufräumarbeiten sind mir wichtig. Ja, ein bisschen wegen dir.« Ich spüre, dass ich für ihn zähle.

Das lässt mich an Argile denken. Wenn ich sie sehe, bin ich oft überwältigt. Überwältigt von Bewunderung, Begehren, Lust, Zärtlichkeit, manchmal von einer seltsamen Verzweiflung. In diesen Momenten weiß ich, dass ich sie nicht mehr so sehe, wie sie ist. Ich befinde mich innerhalb der Welle, ich erlebe sie nicht mehr als Person sondern als Legende inmitten der Jahreszeiten, der Gerüche, der Düfte, in der schwankenden Intensität der Jugend, der Lust, des Begehrens, die nach Größerem suchen als sich selbst.

So habe ich damals auch Stéphane gesehen, nicht nur mit der Höhle, dem Rauch, dem Feuer und seinem nackten Körper, der mich mit seinem augenlosen Blick ansah. Ich habe ihn mit einer dunklen Ahnung der Jahre zuvor gesehen, derer der Kindheit und der Grube, von denen er nie spricht, und derer, die immer schlimmer werden, der Jahre des Krieges.

III

AM NÄCHSTEN TAG fahre ich wieder ins Krankenhaus. Paule ist mit ihrer Mutter allein, es scheint ihr besser zu gehen, sie stellt mir Fragen über die Zeit meiner Kindheit, dir ihr prähistorisch vorkommt. Die Zeit der Pferde, der Bauernhöfe, der gepflasterten, schmalen Straßen, der Felder voller Kornblumen, Klatschmohn und Disteln. Was für Farben, was für eine Intensität im Vergleich zu den unkrautfreien, fast öden Feldern von heute.

Jemand ruft an, sie redet munter, dann kommt eine Krankengymnastin herein, um mit ihr Übungen zu machen. Die Mutter bleibt bei ihr. Ich gehe in den Flur, die Türen mit einem Guckfenster sind die der Krankenzimmer, die anderen, gelben, die der Duschen und Toiletten. Etwas weiter in Richtung Aufzug ist das Stationszimmer. Krankenschwestern gehen darin ein und aus, und Angestellte, die Papierkram erledigen und sich unterhalten. Ich kenne das alles, ich kenne es schon zu gut, ich gehe ans andere Ende des Flurs zu einem Aufenthaltsraum, in dem sich die Tür eines großen Aufzugs befindet. Ich bleibe einen Moment vor einem Fenster stehen, dem Aufzug gegenüber, aus dem zwei Krankenschwestern gerade eine Liege herausschieben. Aus dem Fenster sieht man Blechdächer, auf die der Regen prasselt. Etwas weiter ein anderer Flügel des Krankenhauses, mit seinem Flachdach, seinen gleichförmigen Fenstern, seinen kümmerlichen Materialien, deren Trostlosigkeit einem das Herz zusammenschnürt.

Ein Mann mit grauen Haaren und etwas aufgedunsenem Gesicht, in Schlafanzug und Morgenmantel, bleibt neben mir stehen. »Es ist nicht gerade fröhlich«, sagt er, »besonders wenn es regnet und man weiß, dass man hier enden wird. Dabei wird man auf dieser Station gut gepflegt. Letztes Jahr war ich in einem nagelneuen Krankenhaus, das war gut. Wie zu Hause. Sie waren modern ausgestattet, hier ist alles schon alt, und, das muss man sagen, überfüllt.« Er nimmt mich am Arm und zieht mich zu ein paar Ledersesseln hinüber. Ich setze mich neben ihn, er legt seine Hand auf meine: »Sehen Sie, ich komme alle drei Monate für zwei Wochen hierher, das geht noch, mein Chef hat Verständnis, aber wenn ich öfter kommen und länger bleiben müsste …« Er scheint sich in längeren Ausführungen ergehen zu wollen, doch dann steht er plötzlich auf, macht ein verzweifeltes kleines Zeichen mit der Hand und eilt schwerfällig in Richtung Toiletten.

Ich bin allein, im Schatten, in Sicherheit. Ich frage mich, was mich Paule so nahegebracht hat. Vielleicht der Blick. Das reicht weit zurück, bis in die Zeit, als wir in den Bergen wohnten. Sie war für die Ferien aus Vancouver gekommen, wo sie mit meinem Sohn lebte. Ich habe damals über meinen Enkel gestaunt, einen kleinen Jungen von einem anderen Kontinent, aus einer anderen Welt. So unabhängig, daran gewöhnt, englisch zu sprechen, und so scheu, außer wenn sein Vater oder seine Mutter dabei waren. Wer bin ich denn auch für ihn? Er schüchtert mich beinahe ein, wenn ich ihm etwas sage, tut er das Gegenteil, um zu demonstrieren, dass nur seine Eltern das Recht haben, ihm etwas zu befehlen. Morgens, wenn er im Garten bleibt, während sein Vater und seine Mutter Ski fahren, versuche ich mit ihm zu spielen, mich ihm gegenüber als jemand zu verhalten, der zu seiner Familie gehört. Es ist nicht einfach, er verweigert sich, er rennt in Richtung Straße, was mir wegen der Autos, die über den vereisten Schnee rasen, Angst macht. Ich muss ihm Einhalt gebieten, er wird zornig und beschimpft mich auf Englisch. Sein Zutrauen zu gewinnen ist nicht einfach, ich habe nicht genug Zeit, ich muss da sein, wenn seine Eltern auf der Piste sind, doch sobald sie zurück sind, existiere ich nicht mehr. Dann habe ich ein Spiel gefunden, ein ganz einfaches Spiel mit einem gegabelten Ast. Er verfolgt mich mit diesem Ast, und wenn er ihn vor lauter Lachen über meinen gespielten Schrecken fallen lässt, bin ich an der Reihe, ihn zu verfolgen. Das kann lange so gehen, und wenn er irgendwann genug hat, ist er bereit, alles Mögliche zu spielen, am liebsten, in mein Auto zu steigen, sich ans Steuer zu setzen und seinen Vater nachzuahmen. Manchmal macht er einen Moment Pause, steckt sich den Daumen in den Mund und lutscht genüsslich daran. Wenn sein Vater und seine Mutter zurückkommen, stürzt er auf sie zu und kennt mich bis zum nächsten Morgen nicht mehr. Nur wenn er sich unbeobachtet fühlt, am Ende einer Mahlzeit oder abends, bevor er schlafen geht, wirft er mir ein verstohlenes Lächeln zu, das mir sagt, morgen … Ich habe das Gefühl, dass wir ein Geheimnis teilen, bis ich eines Tages mitten im Spiel mit dem gegabelten Ast, als er gerade aus voller Kehle lacht, plötzlich ein zweites Lachen höre. Ich drehe mich um und sehe an ihrem Fenster Paule, die uns zuschaut.

Sie fragte sich, ob ich Win liebte. Wegen des so offenkundigen Bandes zwischen mir und den beiden anderen, älteren Enkelkindern, die ich oft sah. Sie hat gesehen, wie aus Spiel und Vertrauen das gleiche Band zwischen uns entstand. Ich weiß nicht mehr, ob sie mir vorgeschlagen hat, im Dorf einen Tee trinken zu gehen, oder ob ich es war. Wir treffen uns in einer Ecke eines Teesalons, von wo aus man die Strahlen des langen Februarsonnenuntergangs auf die Hänge des Oldenhorns fallen sieht. Ich komme vom Skifahren. Ich liebe die Berge im Winter leidenschaftlich, das Skifahren konzentriert alle Aufmerksamkeit auf die zu überwindende Schwierigkeit, die Buckel, die Kurven, die Geschwindigkeit, die nicht überschritten werden darf, und dabei dringt, wie mit Stéphane am Fels, die tiefe, gleichgültige Substanz der Welt in uns ein. Es geht nicht mehr um Bewegungen, um Hänge, um Risiken, sondern um die Sonne, um unsichtbare, doch gegenwärtige Gestirne. Es geht um den Schnee und darum, mit ihm eins zu werden, so wie Stéphane, wenn er mit allen vier Gliedmaßen am Fels hing, mit diesem eins wurde.