image

image

image

Für Lea, Harald und meine Mutter

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Danksagung

GLOSSAR

DIE AUTORIN

Die Frauen in »HASCHEMS LASSO«

CLAUDIA Bauer (geb. 1957 irgendwo in Österreich), verheiratet mit Wolfgang Bauer. Kinder: Sarah Bauer (geb. 1991), David Bauer (geb. 1994)

DESIRÉE Altmann (geb. 1955 in Wien), Eltern: Nathalie und Ernst Altmann, Lebenspartnerschaft mit Max Riedl, Kinder: Matthias Altmann (geb. 1984), EVA Altmann (geb. 1986); Halbschwester von JENNIFER Altmann.

HANNI Klar (geb. 1926 in Wien), Witwe von Felix Klar, Tochter Laura Sonnenthal (geb. 1950), Enkelsohn Daniel Sonnenthal (verlobt mit EVA Altmann).

JEKATERINA Natanov (geb. 1963 in einem Dorf östlich von Moskau), verheiratet mit Itzhak Natanov. Kinder: Menachem Natanov (geb. 1987), Avraham Natanov (geb. 1988), Chaja Natanov (geb. 1990), Yael und Rivka Natanov (geb. 1991) sowie Tamar Natanov (geb. 1997).

JENNIFER Altmann (geb. 1977 in Wien), Eltern: Irmgard und Ernst Altmann; liiert mit Martin Schwarz, Halbschwester von DESIRÉE.

RACHEL Golczewski (geb. 1972), Schwester Mara (verheiratet mit Nathaniel Libermann); verheiratet mit Ari Golczewski, Kinder: Deborah Golczewski (geb. 1995), David Golczewski (geb. 1997) und Leon Golczewski (geb. 1999)

RUTH Goldbaum (geb. 1973 in Wien), Eltern: Daisy und Hans Goldbaum, Schwester: Dana Goldbaum

1

Desirée schaute auf die Uhr, was aber auch nichts mehr half, denn sie wusste schon, dass sie sich verspäten würde. Der Interview-Termin hatte wesentlich später begonnen als ursprünglich fixiert, aber das konnte man sich eben nicht aussuchen. Und dann hatte sie ja auch noch das Band in Windeseile abhören, das Wichtigste herausfiltern und die Seite fertig machen müssen. Der Redaktionsschluss war heute gar nicht einmal das Problem gewesen. De facto wäre noch eine Stunde länger Zeit geblieben, bis sie den Artikel ins Redaktionssystem hätte einchecken müssen. Aber Eva wartete schon. Eva, Desirées 20-jährige Tochter. Die sich einbildete, unbedingt jetzt schon heiraten zu müssen. Und dann auch noch mit Trompeten und Fanfaren.

Als Desirée die Leopoldsgasse in Richtung Karmelitermarkt hetzte, sah sie an der Bushaltestelle eine Gruppe junger orthodoxer Frauen. Zwei schaukelten ihre Babys im Kinderwagen, fünf oder sechs schon etwas größere Kinder drängten sich um die Bank in dem Wartehäuschen. Sie sahen sich offensichtlich ein Bilderbuch an. Desirée kannte die Frauen – wenn auch nur flüchtig – vom Sehen, von ihren äußerst spärlichen Besuchen bei Veranstaltungen in der Gemeinde. »Diese armen Scheitelfrauen«, dachte Desirée. An manchen Tagen verachtete sie Frauen wie diese, die ihr Leben aus ihrer Sicht der Unterordnung verschrieben hatten. Sie verstand nicht, dass man sich im 21. Jahrhundert nicht von allen Fesseln befreien konnte. An anderen Tagen empfand sie schlicht Mitleid für sie. Hatten diese Frauen eine wirkliche Wahl gehabt? Was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie in eine ultra-orthodoxe Familie hineingeboren worden wäre? Und manchmal bekam sie ein schlechtes Gewissen, etwas zu verurteilen, nur weil es nicht ihrem eigenen Lebensstil entsprach. Vielleicht stimmte es ja, was viele dieser Scheitelfrauen – Desirée wusste, dass der Ausdruck nicht korrekt war und niemals hätte sie ihn in der Gegenwart von Nichtjuden ausgesprochen –, was also viele dieser Frauen sagten, dass sie sich so sehr wohl fühlten und gar nicht anders leben mochten. Dennoch, sie empfand es als totalen Anachronismus, dass Menschen im Jahr 2006 nach Regeln zu leben versuchten, die viele Jahrhunderte zuvor aufgestellt worden waren.

Endlich war sie am Karmelitermarkt angelangt. Eva wartete bereits mit ungeduldiger Miene und deutete auf die Uhr. Ja, sie war zu spät, was sollte sie denn machen. Sie liebte ihre Tochter, auch wenn sie ganz anders war als sie selbst, aber diese Hektik, die Eva nun in Sachen Hochzeit verbreitete, ging ihr von Tag zu Tag mehr auf die Nerven. Auch wenn sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Wie hatte sie selbst ihre eigene Mutter gehasst, als diese ihren lieben Max zu Beginn ihrer Beziehung von oben herab behandelte. Weil Max, den Desirée bei den Kommunistischen Studenten kennen gelernt hatte, zwar studierte, aber selbst aus einer Arbeiterfamilie kam. Ihre Mutter, die alte Kommunistin.

»Sie ist keine Kommunistin, sie spielt eine Kommunistin«, so Max’ Stehsatz bis heute. Irgendwie hatte er ja auch recht damit. Einerseits gegen den Kapitalismus zu wettern, sich aber andererseits nie und nimmer mit einem Arbeiter an den Tisch zu setzen – denn was sollte man mit so einem ungehobelten Menschen denn reden? –, das war auch irgendwie paradox. Max und ihre Mutter Nathalie hatten sich bis heute nicht wirklich angefreundet. Nathalie konnte sich ihre Sticheleien nicht verkneifen und Max parierte inzwischen gekonnt.

Eva sollte es anders ergehen. Daniel, Evas Ehemann in spe, empfand sie als Kotzbrocken der Sonderklasse: gelacktes Äußeres, affektierte Sprache und immer wahnsinnig gestresst. Daniel war gerade dabei, sich in die Chefetage eines Mobilfunkbetreibers hochzuarbeiten. Aber er passte zu Eva, hatten sie und Max mit Bedauern festgestellt, denn auch Eva war für schicke Partys mehr zu begeistern als für politische Grundsatzdiskussionen. Leider.

Eva studierte Publizistik, schlug aber so gut wie nie eine Tageszeitung auf. Ihre Welt waren Mode- und Klatschmagazine. Und Fernsehserien. Aber nur solche mit Glamour und Style-Bewusstsein. Sozialkritisches war nicht so sehr Evas Sache. Ob die Sonnenthals über ihren Sohn wohl ähnlich dachten wie sie über Eva? Hielten die ihren Sohn vielleicht für genauso oberflächlich, selbstverliebt und konsumorientiert wie sie ihre Tochter? Die Sonnenthals, die gleich hier ein paar Häuser weiter wohnten, waren nämlich sehr nette Leute. Und so unprätentiös. Nun, man konnte sich offensichtlich weder seine Eltern noch seine Kinder aussuchen. Eines musste sie Daniel allerdings zu Gute halten: Er arbeitete wirklich viel und engagiert. Im Gegensatz zu ihrer Tochter. Die wusste offenbar schon jetzt, dass sie es sich lieber als gut situierte Gattin gemütlich machen würde, anstatt sich selbst abzustrudeln. So entsetzlich unemanzipiert im Grunde, dachte Desirée immer wieder. Und das Leben gab ihr auch noch Recht. Wenn Eva als Teenager für irgendeinen Schnickschnack, den sie sich eingebildet hatte, Geld brauchte, das Max und sie nicht bereit waren, ihr zu geben, arbeitete sie im Sommer eben in der Firma irgendeines Daddys ihrer allesamt begüterten Freundinnen. Beschwerlich war das nie gewesen. Da floss genügend Geld für am Tag gerade Mal fünf Stunden Telefon abheben und Leute freundlich begrüßen. Als Ferialpraktikantin bei McDonald’s hätte Eva wohl in einem Monat das bekommen, was sie mit ihren Jobs in einer Woche einstreifte. Ohne größere Anstrengung.

»Mami, immer bist du zu spät«, wetterte Eva, »die warten doch schon seit zwanzig Minuten auf uns. Hoffentlich haben die nun noch Zeit«.

»Servus, mein Schatz«, sagte Desirée und küsste ihre Tochter auf beide Wangen, »gut schaust du aus«. Sie verschnaufte kurz. »Mein Interview hat leider etwas länger gedauert, tut mir leid. Aber keine Sorge, die warten sicher auf uns. So einen guten Auftrag lässt man sich doch nicht entgehen.« Als sie zwei Minuten später beim koscheren Caterer auf der Taborstraße angekommen waren, wurden sie nicht nur freundlich, sondern herzlich empfangen und die Entschuldigung Desirées wurde von Herrn Grynszpan wie erwartet mit einer raschen Handbewegung, dem Heben der rechten Augenbraue und einem professionell nonchalanten Lächeln weggefegt. Herr Grynszpan bat sie in einen der hinteren Räume, wo auf einem Tisch bereits allerlei Häppchen auf sie warteten. Das gibt’s ja nicht, dachte Desirée, das wird ja ein richtiges Essen. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie sich für eine Speisenabfolge entscheiden, den Preis klären würden und das war es dann. Das hier würde wohl länger als eine Stunde in Anspruch nehmen. Aber sie hatte ohnehin Hunger. Nun war ihr jedenfalls klar, warum Eva den Termin in der koscheren Bäckerei erst für den frühen Abend angesetzt hatte. Und dabei war die Hochzeit doch überhaupt erst im Sommer! Und nun war es Herbst. Noch fast ein Jahr Zeit also.

Herr Grynszpan fand ganz offensichtlich nichts Merkwürdiges daran, dass schon so früh bei ihm gebucht wurde. Ganz im Gegenteil. Als er sein riesiges Kalenderbuch aufschlug, sah Desirée, dass bereits Aufträge bis Anfang 2008 eingetragen waren. Offenbar war das also so üblich.

Eva hatte schon zu den ersten Vorspeisen gegriffen. »Was sollen wir nehmen, Mami?«, fragte sie mit halb vollem Mund und Desirée erinnerte sich daran, dass Eva schon als Volksschulkind immer mit leuchtenden Augen vor Buffets gestanden war und sich nicht entscheiden konnte.

»Du kannst nehmen, was du willst«, hatte sie immer gesagt und jetzt fiel ihr auch keine bessere Antwort ein.

»Ja, ich weiß Mami, aber was ist am besten? Komm, koste schon, es schmeckt wirklich herrlich!«

Diese kindliche Begeisterungsfähigkeit Evas war schon etwas sehr Sympathisches, dachte Desirée immer wieder. Wenn ihr kleines Mädchen nur nicht eines Tages aus ihrem zuckerlrosa Traum gerissen würde. Ob sie damit umgehen könnte? Hatte sie sie doch zu sehr verzogen, wie Max ihr manchmal vorwarf? Aber tat nicht jede Mutter alles, um ihr Kind nach Strich und Faden zu verwöhnen? Natürlich hatte sie sich eine kleine Leseratte gewünscht, die einmal Ärztin oder Sozialarbeiterin oder Psychologin oder Journalistin werden wollte. Im Politik- oder im Kulturressort. Aber Eva wollte eben nicht. Eva wollte vielleicht Klatschkolumnistin werden. Und Eva wollte Daniel heiraten. Und zwar mit einer perfekten Feier. Und dann ein perfektes Leben führen. So perfekt, wie sie es bei ihren Freundinnen und deren Müttern Tag für Tag sah. Vielleicht hatte sie ja nicht als Mutter, definitiv aber als Vorbild versagt.

2

Jekaterina mühte sich die Stiegen hoch. Schon wieder, hatte sie gedacht, als sie vom Griff der Aufzugtür das mit einer braunen Schnur befestigte, handgeschriebene Schild mit der Aufschrift »Außer Betrieb« baumeln sah. Etwa einmal im Monat hatte sie im Schulhaus zu tun. Und meistens funktionierte der Lift nicht.

Heute musste sie in den dritten Stock. Als sie im zweiten Stock ankam, schwitzte sie bereits derart unter dem Scheitel, dass sie spürte, wie ihr Nacken feucht wurde. Völlig außer Atem kam sie schließlich vor dem Zimmer mit dem Türschild »Mag. Ruth Goldbaum, Schulpsychologin« zu stehen. Sie wollte sich noch einen Moment ausrasten, doch da ging die Türe bereits von innen auf. Eine andere Mutter, die sie flüchtig von Schulfesten kannte, murmelte im Vorbeigehen freundlich »boker tov«. Jekaterina wünschte ebenfalls einen guten Morgen und betrat den Raum.

Es war ihr erstes Zusammentreffen mit der Schulpsychologin. Diese streckte ihr bereits die Hand zum Gruß entgegen und lächelte sie aufmunternd an.

»Setzen Sie sich doch«, sagte Ruth Goldbaum. »Sie müssen Frau Natanov sein, Tamars Mutter?«

»Ja«, sagte Jekaterina. Sie legte zunächst ihren Schirm unter den Sessel und als sie sich hinsetzte, achtete sie darauf, dass der wadenlange, braune Rock nicht zu sehr hinaufrutschte. Mit einer raschen Bewegung wischte sie ein Blatt von ihren regennassen, flachen Rauhlederschuhen mit Gummisohle. Das musste wohl auf dem Kiesweg zur Schule passiert sein. Sie richtete ihre Strickjacke und hoffte, dass Frau Goldbaum ihr nicht ansah, wie abgekämpft sie sich fühlte. Als sie aufsah, war Jekaterina jedoch beruhigt. Die Schulpsychologin suchte wohl noch nach Tamars Datei.

»Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, zu mir zu kommen«, sagte die Psychologin schließlich. »Wie Sie wissen, gab es schon gegen Ende des vergangenen Schuljahres Probleme mit Tamar. Sie hat überhaupt kein Interesse am Unterricht gezeigt, konnte aber aufgrund ihrer guten schriftlichen Leistungen in die vierte Klasse versetzt werden. Wir haben gehofft, dass Tamar über die Sommerferien Energie tankt und mit vollem Elan in ihr letztes Volksschuljahr startet. Leider ist das Gegenteil der Fall. Ihre Lehrerin, Frau Gruber, hat mich daher gebeten, mir Tamar anzusehen. Wir haben nun einige Stunden miteinander verbracht und ich habe das Gefühl, sie weiß nicht, was von ihr erwartet wird. Also zieht sie sich zurück. Diese Woche habe ich dann versucht, sie mittels eines Rollenspiels aus der Reserve zu locken. Zuerst hat sie sich geweigert mitzumachen und saß nur still da – so, wie ich es auch aus den Erzählungen von Frau Gruber aus dem Unterricht kenne. Irgendwann fing sie an Russisch zu sprechen und wechselte auf meine wiederholte Bitte nicht ins Deutsche oder Hebräische. Ich spreche leider kein Russisch. Frau Natanov, fällt Ihnen dazu irgendeine Erklärung ein? Haben Sie vielleicht auch zu Hause Veränderungen an Tamar bemerkt?«

Jekaterina bemühte sich, nicht gleich loszuweinen. Tamar sprach doch wunderbar Deutsch. Warum benahm sie sich denn so? Sie war doch immer so ein braves Mädchen gewesen. Ihr ganz besonderer Schatz. Bei den größeren – Menachem hatte bereits maturiert, Avraham besuchte heuer die achte Klasse, Chaja war sechzehn und die Zwillinge Yael und Rivka hatten dieses Jahr mit der Oberstufe begonnen – hatte sie immer alle Hände voll damit zu tun gehabt, einzukaufen, zu kochen, die Wäsche zu machen, die einen in den Kindergarten beziehungsweise in die Schule zu bringen, während die Kleineren noch gewickelt, gefüttert, im Kinderwagen spazieren gefahren werden mussten. Als Tamar zur Welt kam, waren alle anderen bereits im Kindergarten oder in der Schule und zum ersten Mal konnte sie sich zumindest vormittags auf nur ein Kind konzentrieren.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Jekaterina leise. »Ich rede zwar oft Russisch mit ihr, vor allem wenn ich ihr von meiner Kindheit, von meinen Eltern und Geschwistern erzähle. Aber mit ihren Freunden spricht Tamar Deutsch oder Hebräisch, auch mit ihren Geschwistern. Sie kann auch sehr gute Aufsätze schreiben auf Deutsch.«

»Die schriftlichen Leistungen Ihrer Tochter sind nach wie vor ausgezeichnet«, sagte die Psychologin, »das ist nicht das Problem. Aber Ihre Tochter verweigert jegliche Mitarbeit im Unterricht, sie sitzt einfach nur still da und man weiß nicht, ob sie zuhört oder mit ihren Gedanken abschweift, ob sie Angst hat, etwas zu sagen, oder ob ihr einfach nur alles egal ist. Wenn Tamar so weitermacht, wird ihr Zeugnis nicht so aussehen, dass sie in die AHS gehen können wird. Das wäre natürlich sehr schade, denn sie hat ja kein Lernproblem. Im Gegenteil, sie begreift rasch, hat ein Talent für Sprachen. Wir müssen also schauen, dass sie sich wieder am Unterricht beteiligt. Da müssen Sie aber mithelfen.«

Jekaterina nickte wie mechanisch mit dem Kopf. »Aber was kann ich tun?«, fragte sie leise. Über ihrer linken Wange bahnte sich eine Träne ihren Weg. Jekaterina versuchte so zu tun, als ob nichts wäre. Frau Goldbaum reichte ihr ein Taschentuch.

»Nicht weinen, Frau Natanov, wir werden der Sache schon auf den Grund gehen. Wollen Sie vielleicht eine Tasse Kaffee? Oder kann ich Ihnen ein Keks anbieten?«, fragte die Psychologin, stand auf, und holte aus dem Kasten hinter ihrem Schreibtisch eine Schachtel mit selbst gebackenen Schokoladekeksen, die ihr eine Mutter am Tag zuvor mitgebracht hatte. »Nein, keinen Kaffee«, sagte Jekaterina, »aber gerne ein Keks«.

Seit sie nach Wien gekommen war, vor mittlerweile etwas mehr als zwanzig Jahren, hatte Jekaterina mit Torten, Kuchen und Süßigkeiten aller Art enge Freundschaft geschlossen. Von Russland war sie als junges Mädchen mit schmaler Taille und schlanken Beinen in den verheißungsvollen Westen gestartet. Inzwischen glich sie eher einem Käfer mit rundem Bauch und vollem Gesicht. Aber wozu – nach sechs Kindern und bei einem Mann, der sich zuallererst für die Thora und danach für lange nichts interessierte – auf die Figur achten? Jekaterina griff also zu, doch bevor sie abbiss, fragte sie sich, ob die Kekse wohl auch koscher waren und ob sie zur Sicherheit fragen sollte? »Sie sind natürlich koscher«, sagte da Ruth bereits und Jekaterina war einerseits beruhigt, andererseits äußerst beunruhigt, denn offensichtlich konnte diese Frau Gedanken lesen.

»Was erwarten Sie von Tamar«, fragte Ruth Goldbaum, die inzwischen ein Aufnahmegerät eingeschalten hatte. Sie wollte Frau Natanov durch das monotone Hämmern beim Schreiben auf der Computertastatur nicht irritieren, die deprimiert wirkende Frau schien ohnehin schwer aus sich herauszugehen.

»Was ich erwarte?«, fragte Jekaterina. Pause. »Mein Mann möchte, dass alle Kinder die Matura machen. Menachem, unser Ältester, ist schon fertig mit der Schule und besucht derzeit eine Jeschiwe in Jerusalem. Avraham soll ihm nächsten Herbst folgen. Und die Mädchen sollen nach der Matura eine Ausbildung zur Kindergärtnerin oder zur Volksschullehrerin machen und dann werden sie wohl ohnehin schon bald heiraten, meint Itzhak.«

»Aber was ist mit Ihnen? Was erwarten Sie von Tamar?« Pause.

»Ich weiß nicht, was ich erwarte. Dass sie keine Probleme macht. Dass sie gut vorankommt in der Schule. Dass sie glücklich wird.«

»Und wirkt Tamar derzeit glücklich auf Sie?«, fragte die Psychologin.

»Sie ist so ein geduldiges Kind, wissen Sie. Sie ist die einzige, die mir zuhört, wenn ich von Russland spreche. Wenn ich erzähle, wie ich mich als junges Mädchen über ein neues Kleid oder eine hübsche Spange gefreut habe. Wir waren sehr arm, wissen Sie, neue Sachen gab es nicht oft.« Was erzähle ich da nur, dachte Jekaterina. Das Gespräch gefiel ihr gar nicht.

»Sind Sie religiös erzogen worden?«, fragte die Psychologin. »Nein«, antwortete Jekaterina leise. Sie dachte kurz nach, was sie noch dazu sagen könnte, ohne wieder allzu viel von sich preiszugeben. »Das religiöse Leben habe ich erst durch Itzhak kennen gelernt.« »Es ist aber in Ordnung für mich, dieses Leben«, bemühte sie sich nach kurzem Innehalten rasch zu sagen. Nicht dass diese Frau Goldbaum, die in ihren dunkelblauen Hosen, dem hellblauen Polo-Shirt und mit ihren offenen, hellbraunen, gelockten schulterlangen Haaren ganz und gar nicht orthodox aussah, auf die Idee kam, sie sei mit ihrem Leben unzufrieden. Vor allem aber durfte so etwas Itzhak nicht zu Ohren kommen. Diese ganze Unterredung hier durfte Itzhak nicht zu Ohren kommen! Ruth Goldbaum merkte, dass sie so nicht weiterkam. Offenbar projizierte Frau Natanov ihre eigenen Jugendwünsche in ihre jüngste Tochter, wollte das aber nicht wahrhaben. Möglicherweise war das aber auch eine viel zu simple Erklärung. »Vielleicht kommen Sie ja nächste Woche gemeinsam mit Tamar zu mir«, schlug sie daher vor.

»Gerne«, antwortete Jekaterina und war erleichtert, dass Frau Goldbaum nicht Itzhak sehen wollte.

»Und vielleicht unterhalten Sie sich diese Woche einmal mit Ihren älteren Töchtern darüber, wie die sich ihre Zukunft vorstellen«, schlug die Psychologin vor. »Kleine Mädchen nehmen sich ihre älteren Schwestern immer zum Vorbild. Es könnte sein, dass uns das weiterhilft.«

»Mache ich«, versprach Jekaterina. »Und danke für Ihre Bemühungen. Ich liebe Tamar, wissen Sie, natürlich liebe ich alle meine Kinder, aber Tamar liebe ich besonders. Sie ist meine Kleine, mein kleiner Schatz.«

»Natürlich, Frau Natanov«, sagte die Psychologin. »Wir werden das schon hinkriegen.« Mit einem ermutigenden Lächeln reichte Ruth Goldbaum Jekaterina die Hand.

Jekaterina bemühte sich, die Stiegen vor dem Pausenläuten rasch hinunterzulaufen, um nur ja niemandem zu begegnen, den sie kannte. Noch bevor sie das Schulhaus verlassen hatte, schossen ihr erneut Tränen in die Augen. Am Häuschen der Polizeiwache ging sie mit gesenktem Kopf vorbei. Sie war nicht besonders glücklich und in letzter Zeit fühlte sie sich noch unglücklicher. Und offenbar schadete sie damit nun Tamar. Aber das wollte sie nicht! Gerade Tamar sollte es einmal besser haben.

Zuerst wollte sie auf direktem Weg nach Hause, dann machte sie aber doch einen Abstecher in die koschere Bäckerei. Neben Brot und einem Apfelkuchen für ihre Lieben ließ sie sich auch drei Muffins einpacken, die sie noch unterwegs in sich hineinstopfte. Als sie die Wohnungstüre aufsperrte, hatte sich ihre Aufregung bereits gelegt. Dennoch war sie froh, dass sie Itzhak noch nicht zu Hause antraf. Heute war Mittwoch und von Montag bis Donnerstag arbeitete Itzhak ein paar Gassen weiter beim koscheren Weinhändler. Er war dort vor allem für den Weitertransport der aus Israel importieren Weine an koschere Supermärkte sowie an die wenigen koscheren Wiener Lokale zuständig. Größere Bestellungen orthodoxer Familien lieferte er auch direkt in deren Wohnungen. Die Transportwege waren überschaubar, da sich die meisten anzufahrenden Adressen im ersten, zweiten oder 20. Bezirk befanden.

Mittags kam Itzhak meist zum Essen nach Hause, nur selten bat er Jekaterina in der Früh um ein Lunchpaket. Seit auch Tamar in die Schule ging, waren es sehr schweigsame Mittagessen geworden, bei denen Itzhak stets sagte, er könne aus dem Geschäft nichts Neues berichten, müsse sich aber beeilen, denn es warte schon die nächste Fuhre. Oder er hatte es eilig, in den Tempel zu kommen oder zu seinen Freunden, mit denen er, wann immer dazu Zeit war, die Thora studierte und diskutierte. Avraham musste ihn dazu, wann immer möglich, begleiten.

Jekaterina hörte, wie sich die Wohnungstüre öffnete. Die Suppe war bereits fertig, Huhn und Gemüse würden es in Kürze sein. Jekaterina hatte schon vorgekocht, bevor sie sich auf den Weg zur Schulpsychologin gemacht hatte. Itzhak legte seinen Hut und Mantel ab, verschwand kurz im Badezimmer, um sich die Hände zu waschen, und setzte sich zu Tisch. Er grüßte sie freundlich und lächelte ihr wie jeden Tag kurz zu, nahm das Brot, legte seine Hände darauf und sagte auf Hebräisch die entsprechende Bracha. Dann schnitt er das Brot an und reichte auch Jekaterina eine Scheibe. Rasch aß er dann, was sie ihm vorgesetzt hatte, nicht ohne sich danach mit den passenden Brachot zu bedanken.

Sollte sie ihm von dem heutigen Gespräch mit Frau Goldbaum erzählen? Den Termin hatte sie ihm verschwiegen. Sie wollte ihn nicht aufregen. Wenn alles seinen gewohnten Gang ging, war Itzhak angenehm ruhig, sanft, nörgelte nicht, bat um nichts. Wenn allerdings Probleme zu bewältigen waren, wurde Itzhak konfus und traurig, bis dieses Traurigsein plötzlich in Wut umschlug. Jekaterina wusste, dass diese Wut nur ein Zeichen der Hilflosigkeit war. Ihre Kinder versuchte sie vor solchen Wutausbrüchen aber so gut sie konnte zu schützen, denn die Schreiattacken des Vaters machten ihnen schlicht Angst. Noch dazu auf Russisch, das nur Tamar perfekt beherrschte, denn eigentlich hatte Itzhak festgelegt, dass mit den Kindern ausschließlich Hebräisch beziehungsweise Deutsch zu sprechen war. Nein, sie wollte nicht riskieren, dass Itzhak aus dem Gleichgewicht kam. Sie würde das Problem, wie so viele andere davor, alleine lösen müssen.

Ihre Überlegungen erwiesen sich allerdings als überflüssig, denn ihr Mann beendete die Mahlzeit bereits mit einem kleinen Stück Apfelkuchen. Itzhak machte sich nicht viel aus Süßspeisen, wusste aber um die Vorliebe Jekaterinas und wollte sie das Dessert nicht alleine essen lassen, um ihr nicht das Gefühl zu geben, er verachte sie wegen dieser kleinen Schwäche. Noch eine Bracha, dann dankte er Jekaterina wie jeden Tag für die gelungene Mahlzeit und sah sich schon nach Hut und Mantel um. Sein Blick auf die Uhr zeigte Jekaterina, dass er wie immer in Eile war. Kaum war die Wohnungstüre ins Schloss gefallen, schnitt sie sich ein extragroßes Stück Kuchen herunter und genoss für zehn Minuten die Stille in der Wohnung. Dann klingelte leider das Telefon.

3

Ruth musste lachen. Die Schnittlauchsauce bildete nicht nur auf dem Parkett eine Lacke, sondern hinterließ auch kräftige Spuren auf den hellen Sandalen der jungen, hübschen Frau mit den langen, braunen Haaren, die es sich gerade mit einem kleinen Teller Salat auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. Ruth versuchte, nicht laut loszuprusten. Ihr Blick traf jenen von Daniela, die im Türrahmen stand. Sie grinste ebenfalls. Daniela hatte erst gestern wieder amüsiert von den mehrmals umgestoßenen »Was ziehe ich an?«-Plänen ihrer kleinen Schwester erzählt, die Danielas Dreißiger-Party, angelegt als gemütliches Wohnungsfest mit kaltem Buffet und einer improvisierten Cocktailbar, mit einem »Heute angle ich mir meinen Märchenprinzen«-Abend zu verwechseln schien. Gerade mal eine Viertelstunde war sie hier, im Vergleich zu den anderen Partygästen viel zu aufgestylt, das Männerangebot aus ihrer Sicht wohl dürftig und nun waren auch noch die Schuhe ruiniert. Aber sie lächelt tapfer über das Malheur hinweg, dachte Ruth. In Momenten wie diesen war sie froh, dass sie sich diesem verbissenen Männer-Einfangen bisher verweigert hatte. Die aufregendsten Romanzen passierten ohnehin dann, wenn frau nicht damit gerechnet hatte.

»Peinlich, echt total peinlich«, murmelte da jemand neben ihr. Ruth blickte hinunter und sah, wie der Murmler Reste der eben verschütteten Sauce von seiner Jeans zu entfernen versuchte.

»Das Herumwischen macht es doch nur noch schlimmer«, sagte Ruth freundlich, »ist doch egal, niemand wird nicht mit dir reden, nur weil die Hose schmutzig ist«. Und dachte: Was schwafle ich da schon wieder, kann ich nicht einmal meinen Mund halten?

»Meine Jeans sind mir ja völlig wurscht«, sagte der Murmler, nun gar nicht mehr murmelnd, »aber das Mädel ist jetzt sicher ziemlich sauer. Wahrscheinlich waren die Schuhe auch noch teuer.«

Betreten stand er da, das leere Glas wanderte von einer Hand in die andere. Was für eine angenehme Stimme, dachte Ruth und überlegte, ob sie ihn schon einmal gesehen hatte.

»Ich habe früher lange Haare gehabt«, sagte er da, »und du bist Ruth, oder? Die Freundin von Dani, die in Amerika studiert hat? Ich glaube, wir haben einander schon vor zwei, drei Jahren bei einem Brunch kurz kennen gelernt, noch zu Danis WG-Zeiten. Ich bin der Andreas«, sagte er und reichte ihr die Hand.

»Freut mich«, sagte Ruth, und dann »ja doch, jetzt erinnere ich mich. Passen dir gut, die kurzen Haare«. Passen dir verdammt gut, dachte sie und merkte, wie sie etwas verlegen wurde. Ob das wohl nie aufhören würde? Nun war sie schon dreiunddreißig und hatte einige Beziehungen hinter sich, aber wenn sie jemanden kennen lernte und für sich feststellte, dass sie ihn interessant fand, stieg immer wieder Unsicherheit in ihr hoch.

Vielleicht fand er ja nur spargeldünne Frauen attraktiv? Oder Blondinen? Beide Attribute trafen auf sie nicht zu. Nicht, dass sie das bekümmert hätte. Sie war nur eben nicht dieser Typ Frau. Aber nein, er sah eigentlich auch nicht nach dem Typ Mann aus, der seine Partnerin nach solchen Kriterien auswählte. Nun lachte er sie an. »Hast du Lust auf einen Cocktail?«

Ruth nickte erleichtert. »Ja gerne, einen Caipirinha bitte, wenn es einen gibt. Sonst einfach einen Martini«, sagte sie. »Okay«, sagte Andreas, drehte sich nach zwei Schritten in Richtung Bar allerdings wieder um und sagte, »vielleicht holen wir uns doch lieber gemeinsam die Drinks, nicht, dass ich noch einmal etwas verschütte«.

»Ja, klar«, sagte Ruth und drückte sich von dem Bücherregal, an das sie sich angelehnt hatte, hoch ins Stehen. Ein Fuß war eingeschlafen. Jetzt nur nicht stolpern, dachte sie. Nach ein paar wackeligen Schritten gehorchte ihr der Fuß wieder. Ihr Caipirinha wartete bereits in Andreas’ Hand. Wer hätte gedacht, dass das Jahr 5767 so gut beginnen würde?

Vier Stunden später standen sie in dieser lauen Herbstnacht immer noch auf dem kleinen Balkon von Danielas neuer Wohnung in Naschmarkt-Nähe und erzählten aus ihrem Leben. Ruth war es zunächst etwas unangenehm, dass Andreas doch einiges über sie zu wissen schien. Dass sie in New York studiert hatte, Psychologin war und an der jüdischen Schule arbeitete, waren andererseits auch nicht die großen Geheimnisse. Andreas war Englisch- und Geschichte-Lehrer und unterrichtete an einem Gymnasium im 22. Bezirk. Er war ein Studienkollege von Daniela, die an der jüdischen Schule Englisch und Deutsch lehrte.

Andreas schien sehr engagiert in Sachen Zeitgeschichte zu sein. Er hatte ihr in diesen vier Stunden von sicher fünf verschiedenen Projekten erzählt, mit denen er seinen Schülern Toleranz vermitteln, ihnen aber vor allem klar machen wollte, dass Unrechtsregimes nicht einfach vom Himmel fallen, sondern es immer Vorzeichen, Stimmungen in der Bevölkerung, gebe. Ein Gutmensch, dachte Ruth. Und ohrfeigte sich gleich in Gedanken selbst. Nun hatte sie dieses unmögliche Wort auch schon in ihren Wortschatz aufgenommen. Wenn man es aber auch so oft las, in Zeitungsartikeln, in Internetforen, in Leserbriefen. Ruth hörte Andreas zwar zu, brachte die Projekte aber bald durcheinander, weil ihre Gedanken um etwas anderes kreisten: Zu Beginn ihrer Unterhaltung hatte Andreas erwähnt, dass er nicht beim Bundesheer gewesen war, sondern Zivildienst geleistet hatte. Und zwar als Gedenkdiener in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Dabei hatte er betont, wie wichtig dieses Jahr für ihn gewesen sei. Ohne diese Erfahrung hätte er nie Geschichte studiert. Und er hätte nie seine Eltern mit der Familienvergangenheit konfrontiert.

Sie selbst hatte noch nie ein ehemaliges Konzentrationslager besucht. Nicht Mauthausen, nicht Auschwitz, nicht Dachau. Das war ihr bis jetzt gar nicht bewusst gewesen. Sie war im Jüdischen Museum in Berlin, hatte das Holocaust Memorial Museum in Washington besucht, hatte sich durch Yad Vashem in Jerusalem geweint. Aber eine tatsächliche Stätte des Grauens hatte sie nie betreten. Ob sie das überhaupt aushalten würde? Sie spürte schon nur bei dem Gedanken daran, wie die Beklommenheit in ihr hochstieg. Der Film »Das Leben ist schön« hatte sie noch Wochen nach dem Kinobesuch in eine traurige Stimmung versetzt. Und bei »Der Pianist« hatte sie überhaupt vorzeitig den Saal verlassen müssen. Ihr war nur noch zum Schreien zumute gewesen. Hatte Dana schon jemals ein KZ besucht? Oder ihre Eltern? Warum wusste sie das nicht? Und hätten sie nicht mit der Schule einen Ausflug nach Mauthausen machen müssen? Das machten doch alle Oberstufenklassen heutzutage. Warum war das vor fünfzehn, zwanzig Jahren nicht so gewesen?

Irgendwann unterbrach Andreas seinen Redefluss und wäre es nicht so dunkel gewesen, hätte Ruth gesehen, dass nun er errötete. Er schien bemerkt zu haben, dass sie ihm nicht mehr wirklich folgte.

»Ich rede zu viel, ich weiß«, sagte er. »Eigentlich tue ich das nämlich nicht, aber wenn ich unsicher bin, dann schon, weißt du. Jetzt habe ich dich mit meinem Gebrabbel wohl total erschlagen«, sagte er, wobei seine Stimme immer leiser wurde. »Ich finde dich total nett«, flüsterte er.

Ruth lächelte ihn an. »Ich finde dich auch nett«, sagte sie. Und dachte: bitte, bitte du Knödel im Hals, geh weg. Ich kann dich jetzt so ganz und gar nicht gebrauchen. Und außerdem ja nichts vom KZ sagen. Vielleicht wäre gar nichts zu sagen sowieso das Beste. Nicht, dass ich nun zum Heulen anfange und dann ist der Abend dahin. Sie schaute Andreas unsicher, aber lächelnd an. Er legte seinen Arm um ihre Taille und küsste sie behutsam auf die Wange. Wie ein unbeholfener Teenager. Ruth fühlte sich in diesem Moment sauwohl in ihrer Haut. Selbst das verhasste Doppelkinn schien vergessen.

Danielas Wohnung hatte sich in der Zwischenzeit geleert und als Ruth und Andreas das Wohnzimmer betraten, saß nur noch die übliche Freundinnen-Runde auf und rund um die Couch und vertilgte die Reste des Buffets. Vor allem die Desserts schienen heiß begehrt zu sein. Daniela, Tamara, Birgit und Denise fielen über Mousse au Chocolat, Tiramisu und Schokolade-Mandel-Torte her und bedauerten unisono, dass sie nicht schon früher an diesem Abend so herzlich zugreifen konnten. Aber bei Frauen um die dreißig, Singles und eher nicht idealgewichtig, sähe das wohl nicht so vorteilhaft aus, hatten sich alle gedacht.

Jetzt setzte jedenfalls das Geschnatter ein, wer welchen Klatsch über wen erfahren, wie die oder der heute ausgesehen hatte, um nach einer halben Stunde der Programmplanung für das nächste Wochenende zu weichen. Kino oder doch lieber ein gemütlicher Brunch? Oder beides? Und wie wäre es noch einmal mit einem bombastischen Eisbecher am Schwedenplatz am Ende der warmen Saison? Oder einer Bücher-Einkaufstour – wer konnte jetzt schon was empfehlen? Ruth hielt nach einem Sessel Ausschau, um sich der Runde anzuschließen, beschloss dann aber, doch zuerst das Badezimmer aufzusuchen. Andreas verschwand in der Küche, um für alle Kaffee zu kochen.

»Der letzte Leon de Winter ist wieder total gut gelungen«, sagte Daniela. »Jetzt gibt es auch endlich eine deutsche Übersetzung.«

»Du immer mit dem de Winter«, meinte da Birgit, »ich kann mit dem echt nichts anfangen«.

»Ach, die Dani steigert sich ja nur in dieses ganze jüdische Zeugs hinein, weil sie sich furchtbar gerne einen reichen Juden angeln würde«, ätzte Tamara und grinste.

Daniela sagte sich innerlich vor, sich nicht schon wieder auf diesen Zwist einzulassen. Aber ihn einfach zu überhören war auch schwierig. Das war ein Dauer-Streitthema zwischen ihr und Tamara, die wie sie aus dem Burgenland kam, im Gegensatz zu ihr aber ihren Dialekt pflegte, der in Wahrheit ein Soziolekt war, und, obgleich sie nun schon seit mehr als zehn Jahren in Wien lebte, sich stets über die Städter – »die feinen Leute« (sie sagte dann: »die foinen Leute«) – lustig machte und dabei dann ganz besonders gespreizt Hochdeutsch sprach. Und Juden waren für Tamara »besonders foine Leute«, auch wenn sie keine tatsächlich gut kannte.

»Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Und außerdem, reich sind von den Schülern in meinen Klassen die wenigsten, im Gegenteil, manche sind wirklich arm, und die meisten sind auf ein Stipendium der Gemeinde angewiesen.«

»Das erzählst Du uns jedes Mal«, erwiderte Tamara, »aber ich kann es trotzdem nicht glauben. Man weiß doch, dass Juden reich sind«.

»Sei schon still, Tamara«, zischte Denise, »Ruth ist doch noch da«.

»Ich finde das so was von zum Kotzen«, sagte Daniela mit hochrotem Kopf zu Tamara. »Was denkst Du dir eigentlich? Jedes Mal wieder leierst Du dieselben Vorurteile herunter. Woher hast Du das? Haben dir deine Eltern das daheim vorgebetet? Und seit wie vielen Jahren kennst Du Ruth nun schon?«

»Sie ist deine Freundin, nicht meine«, keifte Tamara zurück. »Und außerdem: Ist sie nicht reich? Und ist sie nicht verwöhnt? Und hat irgendeine von uns im Ausland studiert?«

»Du weißt ganz genau, dass sie genauso lebt wie wir. Ja, ihre Eltern sind reich. Aber sie bildet sich darauf überhaupt nichts ein. Und sie verdient sich ihr Leben selbst – von Luxus ist da weit und breit nichts zu sehen«, sagte Daniela. »Und außerdem: Egal, ob Ruth nun da ist oder nicht, deine Ansichten sind grundsätzlich so was von daneben. Ich will so etwas von meinen Freundinnen auch nicht hören, wenn Ruth nicht da ist.«

Am liebsten hätte sie Tamara eine Handvoll Mousse au chocolat ins Gesicht geschmiert. »Danke, dass Du mir den Abend versaut hast«, sagte sie allerdings nur noch leise in ihre Richtung. Sie hatte im Augenwinkel Ruth bemerkt, die sich gerade ihre Hände in ihrer Jeans abtrocknete. Das Gästehandtuch hatte an diesem Abend schon zu vielen Gästen gedient – und lag klatschnass auf dem kleinen Hocker unter dem Waschbecken. Daniela hoffte inständig, dass Ruth und auch Andreas nichts von der Entgleisung Tamaras mitbekommen hatten. Ganz offensichtlich schien sich da etwas anzubahnen, worüber sie sich noch mehr gefreut hätte, wenn sie sich nicht gerade über Tamara derart ärgern hätte müssen. Wieder einmal.

Andreas trug eine Kanne duftenden Kaffees herein, in der anderen Hand klapperten auf einem Tablett die gestapelten Tassen.

»Dieses Mal ohne Verschütten«, scherzte er. Die gereizte Stimmung schien er nicht zu bemerken.

Daniela nahm ihm das Tablett ab und begann, die Tassen zu füllen. »Möchte jemand Milch oder Zucker? Oder Kandisin?«, fragte sie in die Runde und schaute sich um: allseits dankend-ablehnendes Kopfschütteln.

»Hat jemand von euch schon von dieser neuen AbnehmMethode gehört?«, versuchte Birgit das Schweigen der Freundinnen zu durchbrechen. »Da läuft jetzt im Fernsehen eine Sendung mit einer Ernährungsberaterin. Ich bin da unlängst mal zufällig hineingeswitcht und bin dann hängen geblieben.«

»Werden die Leute da nicht total vorgeführt?«, fragte Daniela. »Ich habe was in der Zeitung drüber gelesen. Dass es da vor allem um den Voyeurismus-Effekt für das Fernsehpublikum, nicht aber wirklich um das Wohl der Mitmachenden geht.«

»Ja, das stimmt schon«, sagte Birgit. »Natürlich wäre es nicht notwendig, die Leute in ungünstigem Licht und spärlich bekleidet zu zeigen und dann noch extra auf den Schwabbelbauch hinzuzoomen. Die Methode soll allerdings wirken, meine Cousine hält sich nun schon die vierte Woche daran und es geht echt etwas weiter.«

Ruth war das Gespräch, das sich wieder einmal rund um das Thema Diäten zu drehen schien, etwas unangenehm. Es war so klischeehaft: Kaum waren die Männer von der Bildfläche verschwunden, ging es um Klatsch, ums Essen – und ums Gewicht.

Andreas kehrte den Galan heraus. »Aber hier sehe ich doch überhaupt keine Moppelchen«, sagte er. »Und kriege ich auch ein Stück Torte, ein großes, bitte?«

Ruth hielt sich dennoch zurück und nahm nur zwei Löffelchen Tiramisu. Mehr hätte sie auch nicht heruntergebracht, so nervös und gleichzeitig happy, wie sie in diesem Moment war.

4